Wer die Nachtigall stört
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Soweit die Früchte ihres Fleißes nicht von ihnen verzehrt wurden, gaben sie dem Stückchen Land rings um die Hütte das Aussehen eines Spielplatzes, den ein geisteskrankes Kind angelegt hat: Der sogenannte Zaun war ein Gefüge aus Zweigen, Besenstielen und Werkzeuggriffen, gekrönt von rostigen Hämmern, Harken mit abgebrochenen Zähnen, Schaufeln, Beilen und Hacken, die von Stacheldrahtstücken festgehalten wurden. Diese Barrikade umgab einen schmutzigen Hof, der die Überreste eines Fords (Modell T), aufgebockt, einen ausgedienten Zahnarztstuhl und einen uralten Eisschrank beherbergte. Darum herum gruppierten sich kleinere Gegenstände wie alte Schuhe, defekte Radioapparate, Bilderrahmen und Marmeladengläser, unter denen magere gelbe Hühner hoffnungsvoll herum pickten.
Ein Winkel des Hofes aber verblüffte ganz Maycomb. Am Zaun standen sechs abgeblätterte Emailleeimer, einer neben dem anderen, und die leuchtend roten Geranien, die darin wuchsen, waren so liebevoll gepflegt, als gehörten sie Miss Maudie Atkinson, falls diese bereit gewesen wäre, eine Geranie auf ihrem Grundstück zu dulden. Diese Blumen, so hieß es, waren Mayella Ewells Eigentum.
Niemand wusste genau, wie viele Kinder Bob Ewell hatte. Einige sprachen von sechs, andere von neun Sprösslingen. Jedenfalls tauchten stets mehrere schmutzige Gesichter in den Fensteröffnungen auf, wenn man vorbeiging. Die Bürger von Maycomb hatten indessen keinen Anlass, hier vorbeizugehen, es sei denn zu Weihnachten, wenn Wohltätigkeitskörbe von den Kirchen verteilt wurden oder wenn der Bürgermeister die Bevölkerung bat, nach dem Fest die Bäume selbst fortzuschaffen, um den Müllkutschern die Arbeit zu erleichtern.
Atticus hatte uns im vergangenen Jahr mitgenommen, als er der Bitte des Bürgermeisters entsprach. Von der Landstraße zweigte ein Feldweg ab, der an der Müllkippe vorbei zu einer kleinen Negersiedlung etwa fünfhundert Meter hinter dem Haus der Ewells führte. Wollte man wieder auf die Straße gelangen, so musste man entweder im Rückwärtsgang fahren oder bis zur Siedlung weiterfahren und dort wenden. Meistens wurden die Vorhöfe der Neger als Kehre benutzt. In der frostigen Dezemberdämmerung sahen die Hütten schmuck und behaglich aus. Blassblauer Rauch quoll aus den Schornsteinen, und aus den Türen fiel das bernsteingelbe Licht der Herdfeuer. Ein köstlicher Geruch nach Huhn und knusprig gebratenem Speck stieg uns in die Nase. Jem und ich spürten den Duft von Eichhörnchenbraten auf, aber nur ein alter Landbewohner wie Atticus konnte erschnuppern, wo
Opossum oder Kaninchen verzehrt wurden. All diese Wohlgerüche verschwanden, als wir uns auf dem Rückweg der Ewell-Behausung näherten.
Das Einzige, was der kleine Mann im Zeugenstand seinen nächsten Nachbarn voraushatte, war die weiße Haut, die zum Vorschein kam, wenn er sich gründlich mit Schmierseife und heißem Wasser abschrubbte.
„Mr. Robert Ewell?“, fragte Mr. Gilmer.
„Das ist mein Name, Cap’n“, erwiderte der Zeuge.
Mr. Gilmer zuckte leicht zusammen, und ich empfand Mitleid mit ihm. Ich glaube, ich muss hier eine Erklärung einschalten: Man hört oft, dass Kinder von Anwälten, die ihren Vater vor Gericht in hitzige Wortgefechte verwickelt sehen, sich falsche Vorstellungen machen. Sie halten den Rechtsbeistand der Gegenpartei für den persönlichen Feind ihres Vaters, leiden Höllenqualen und sind höchst überrascht, wenn die vermeintlichen Gegner in der Pause Arm in Arm hinausgehen.
Bei Jem und mir traf das nicht zu. Wir erlitten kein Trauma, ganz gleich, ob wir unseren Vater gewinnen oder verlieren sahen. Es tut mir leid, dass ich in dieser Hinsicht von keinem Drama berichten kann. Wenn ich es täte, würde ich von der Wahrheit abweichen. Dass eine Debatte den Boden der Sachlichkeit verließ, hatten wir zwar mitunter erlebt, aber nur bei anderen Rechtsanwälten, niemals bei Atticus. Kein einziges Mal habe ich ihn mit erhobener Stimme sprechen hören, es sei denn zu einem tauben Zeugen. Ich wusste, dass Mr. Gilmer seine Pflicht tat, genau wie Atticus die seine. Hinzu kam, dass Mr. Ewell als Zeuge der Anklage kein Recht hatte, ausgerechnet zu Mr. Gilmer unhöflich zu sein.
„Sind Sie der Vater von Mayella Ewell?“, lautete die nächste Frage.
„Na, wenn ich’s nicht bin, kann ich nichts mehr dagegen tun, meine Alte ist tot“, war die Antwort.
Richter Taylor hob den Kopf, setzte seinen Drehstuhl in langsame Bewegung und schaute den Zeugen milde an. „Sind Sie der Vater von Mayella Ewell?“, fragte er in einem Ton, der das Gelächter im Saal plötzlich verstummen ließ.
„Ja, Sir“, antwortete Mr. Ewell demütig.
„Sie erscheinen das erste Mal vor Gericht, nicht wahr?“, fuhr Richter Taylor wohlwollend fort. „Ich entsinne mich nicht, Sie je hier gesehen zu haben.“Der Zeuge bestätigte das durch ein Nicken. „Nun, dann wollen wir zunächst Folgendes klarstellen: Solange ich den Vorsitz führe, wird in diesem Saal niemand mehr irgendwelche zotigen Bemerkungen zu irgendeinem Thema machen. Verstehen Sie?“
Mr. Ewell nickte ein zweites Mal, hatte jedoch offensichtlich kein Wort verstanden. Richter Taylor seufzte. „Also bitte, Mr. Gilmer“, sagte er.
„Danke, Sir … Mr. Ewell, würden Sie uns bitte in Ihren eigenen Worten sagen, was am Abend des einundzwanzigsten November geschah?“
Jem grinste und strich sich die Haarsträhne aus der Stirn. „In Ihren eigenen Worten“war Mr. Gilmers Markenzeichen. Wir fragten uns oft, was er eigentlich befürchtete. Konnte man sich denn anderer Worte bedienen als der eigenen?
„Also, am einundzwanzigsten November bin ich abends mit ’ner Ladung Kleinholz aus’m Wald gekommen, und gerade wie ich am Zaun bin, höre ich Mayella im Haus drin kreischen wie ’ne gestochene Sau …“
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