„Unsere Prinzipien vermitteln ist schwer“
Charles Margue (Déi Gréng) über seine erste Legislatur als Abgeordneter
Er gehört politisch zu den Spätberufenen: Charles Margue (66) war bis April 2018 Forschungsdirektor von TNS/Ilres, bevor er im Oktober 2018 auf Anhieb für die Grünen ins Parlament gewählt wurde. Er sieht sein politisches Engagement durchaus auch als Fortführung seines Berufs als Soziologe und Meinungsforscher. Sein Herz schlug schon immer links, für die Grünen entschied er sich, weil sie eine ganzheitliche Sicht auf die Herausforderungen der Zukunft haben – Umwelt, Soziales, Wirtschaft und das auf Weltniveau – und weil sie die Allgemeininteressen vor die individuellen stellen.
Charles Margue, mit welchen vier Adjektiven würden Sie sich beschreiben?
Dass ich ruhig bin, neugierig – ich stelle immer Fragen –, gesellig und zufrieden. Ich genieße das Leben.
Was hat Sie dazu bewogen, nationalpolitisch aktiv zu werden?
Beruflich war ich stets Beobachter und es hat mich immer gereizt, aktiv in der ersten Reihe mitzugestalten, Verantwortung zu übernehmen. Es bestand auch ein Moment der Dynamik im Land und ich bekam Lust, in diese Dynamik einzusteigen – zumal es biografisch mit dem Abschluss meines Berufslebens in meinen privaten und beruflichen Kalender gepasst hat.
Mit welchen Erwartungen traten Sie Ihr Mandat an und wurden diese erfüllt?
Ich habe mich den Wahlen gestellt, um sie mit den Grünen zu gewinnen, damit diese weiter in der Regierung bleiben können. Denn es braucht zehn Jahre, um Vorhaben nachhaltig umzusetzen, ohne dass sie direkt wieder zunichte gemacht werden können.
Es kam allerdings anders als ich dachte, denn ursprünglich wollte und sollte ich die Kommission für Mobilität und Bauten übernehmen. Dass ich Präsident der Justizkommission wurde, habe ich nicht erwartet. Aber als Sam Tanson in die Regierung wechselte, weil wir einen fünften Ministerposten bekamen, hatten wir keinen Juristen mehr in der Fraktion. Es sollte ein Casting geben – wer kann was inhaltlich und was in welcher Rolle? – und ehe ich mich versah, hatte ich diesen Posten.
Meine Erwartungen wurden aber auch insofern übertroffen, als die Stimmung in der Fraktion vorher nicht besonders gut gewesen sein soll. Es gab viele Alphatiere und für die Mitarbeiter war es schwierig, ein Team zu bilden – heute sind wir es und sind sogar Freunde geworden. Das ist eine schöne Erfahrung.
Wer ist Ihr politisches Vorbild und warum?
Der ehemalige französische Premierminister und Sozialist Michel Rocard. Er war ein Linker, was für mich wichtig ist, und er war vor allem einer der Franzosen, die zutiefst europäisch waren. Zudem hatte er eine Art der Gouvernance, die dem Anspruch der Grünen entspricht: Transparenz, Verhandlung, Dialog, Respekt. Er hat stets die Zivilgesellschaft – ONG und vor allem Gewerkschaften – mit an den Tisch gerufen und Diskussionen eröffnet. Damit hat er Frankreich markiert.
Rocard hat in den 1980er und 1990er Jahren schon die ökologischen Herausforderungen, die Endlichkeit der Ressourcen, auch für die Politik erkannt. Er war dezentralistisch und er hat sich zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges
Charles Margue bereist gerne Kultur- und Hauptstädte – und findet ab und zu Namensvetter.
mit der Frage befasst: Wie schließen wir die Kolonialzeit ab? Rocard war geachtet, aber nicht machtgeil genug, um in Frankreich bestehen zu können.
Für welchen Bereich interessieren Sie sich besonders und warum?
Die Politik ist für mich die Kontinuität von dem, was ich studiert und beruflich gemacht habe, nämlich Soziologie. Mich interessiert, wie das Land tickt, wie die Einwohner ticken. Mich interessiert auch das Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Menschenrechten. Ich bin in die Frage der Menschenrechte und deren Umsetzung in Gesetzen hineingewachsen. Ein Aha-Erlebnis war das lang überfällige Abschaffen der Residenzklausel für die Beteiligung aller an Kommunalwahlen.
Mittlerweile interessieren mich dann auch so ganz sexy Themen (lacht), wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung, für die die Bevölkerung schwer zu begeistern ist. Als einer der Berichterstatter der Verfassungsreform erforderte es ein gutes Zusammenspiel mit vielen Abgeordneten der anderen Fraktionen. Interessant ist aber auch, wie bei solchen Reformen, aber auch Gesetzen, wie dem Waffengesetz oder dem Jugendschutzgesetz, von anderen Institutionen versucht wird, hinter den Kulissen Einfluss zu nehmen. Auch Telearbeit und Work-Life-Balance sind für mich interessante Themen.
Welches parlamentarische Ereignis hat Sie bisher am meisten beeindruckt?
Die ersten Kommissionssitzungen, die den Datenbanken der Polizei und der Justiz, Stichwort Casier und Jucha, gewidmet waren. Das war richtig großes Kino.
Die Direktoren und Präsidenten der wichtigsten Institutionen sind dort defiliert: Generalinspektion der Polizei, Datenschutzkommission, Generalstaatsanwaltschaft, oberste Richter, Verwaltungsgerichtshof, Polizeidirektion. Wer spielt welche Rolle, wer macht wem Vorwürfe, wer hat seine Kontrollaufgabe nicht wahrgenommen – der Raum war randvoll und es hieß, die Diskussion der Abgeordneten mit all diesen Vertretern zu moderieren. Geholfen hat mir, dass ich es von der TNS/Ilres her gewohnt war, Gruppendiskussionen zu leiten.
Mir war es wichtig, dass wir uns die nötige Zeit genommen haben, wichtig waren aber auch die Gespräche zwischen Tür und Angel und an der Kaffeemaschine, um die ein oder andere Woge zu glätten, wenn Attacken geritten wurden. Abgeordnete, vor allem die, die lange dabei sind, sind Platzhirsche und sich sehr bewusst, die erste Macht im Land zu sein.
Als Person hat mich Renate Winter am meisten beeindruckt, die ehemalige UN-Kinderrechtsbeauftragte, die hilft, Jugendschutz und -strafrecht zu reformieren. Sie unterstützt uns bei der Überzeugungsarbeit gegen die starken Widerstände. Es ist einer der Punkte, auf die man als Politiker immer wieder pochen muss: Wir sind es, die bestimmen, wo es hingeht und nicht die Wirtschaft oder einzelne Akteure, die in ihrer Blase verhaftet sind.
Es sind viel mehr Leute zur Solidarität bereit, als von manchen Parteien angenommen wird.
Wir sind ein Team und sogar Freunde geworden. Das ist eine schöne Erfahrung.
Welche persönlichen Lehren ziehen Sie aus den vergangenen vier Jahren?
Es ist angenehm, Anerkennung zu bekommen. Ich muss sagen, dass ich mehr Respekt ernte, als ich selber jemals Abgeordneten entgegenbrachte (lacht). Meine Lehre ist, dass es für uns Grüne schwer ist, unsere Prinzipien zu vermitteln und durchzusetzen. Wir haben die Wahrheit nicht gepachtet, aber wir wollen in Zeiten komplexer Herausforderungen, wie Klimawandel, der Energie- sowie anderer Krisen für Allgemeinund nicht Partikularinteressen einstehen. Die utilité publique geltend zu machen, ist aber in diesem Land schwer.
Dazu kommt das Moment der Politikverdrossenheit, Autoritätsverfall, die sogenannte Individuation und der Verlust von Orientierungsund Bezugspunkten. Da ist es schwer, politisch zu arbeiten, zumal in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wenn es gilt, die finanziell Schwachen zu unterstützen. Ich denke aber, dass viel mehr Leute zur Solidarität bereit sind, als von manchen Parteien angenommen wird.
Man bekommt auch aus dem eigenen Lager Kritik zu spüren, aber wir sind nun einmal in einer Koalition und vertreten rund 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Das ist unser Kräfteverhältnis, um politische Entscheidungen zu treffen und das muss man der eigenen Wählerschaft und der Basis verständlich machen.
Ich merke aber auch, dass ich spirituellen Rückhalt und Reflexionsgruppen brauche, um nicht jeden Tag ins Wackeln zu kommen, weiter an den Menschen zu glauben und das übergeordnete Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Laudato Si, die zweite Enzyklika von Papst Franziskus, mit der er zur ökologischen Umkehr aufruft, ist für mich hier eine wesentliche Referenz.
Was haben Sie sich für den Rest dieser Legislaturperiode noch vorgenommen?
All die Justizgesetze so gut wie möglich noch umzusetzen, wie den
Jugendschutz, die Reform des Familienrichters und des Strafvollzugs, das Abstammungsrecht, das Abschaffen der Verjährung bei Sexualstraftaten, Whistleblowergesetz, etc. Und als nächstes das des Nationalen Justizrates, damit die Verfassungsreform verabschiedet werden kann. Ich wäre froh, wenn es zu einem Integrationsgesetz und einer Reform des Ausländerrates kommen würde, aber das liegt nicht in grüner Hand.
Was verbirgt sich in Ihrem Abgeordnetenpult im Kammerplenum?
Ein großes Durcheinander – Kugelschreiber, Radiergummis, alte Reden, Briefe, Jahresberichte, Süßigkeiten und ab und zu liegt auch ein Pullover dort.
Gibt es eine Entscheidung aus Ihrer politischen Karriere, die Sie bereuen und heute anders handhaben würden?
Nein. Aber ich hatte auch das Glück, direkt gewählt zu sein und Meister über meine vielen Entscheidungen zu sein.
Wenn Sie eine konkrete politische Entscheidung treffen könnten, welche wäre das?
Eine Reform des Pensionsfonds im Sinne des Gesetzesvorschlags von Marc Baum, der auf eine nachhaltige Ausrichtung abzielt. Es braucht eine andere Gouvernance als die Trägheit, die momentan dort herrscht. Und ich würde ein nationales Lieferkettengesetz einbringen mit der Verpflichtung für Betriebe, über die ganze Lieferkette die Menschenrechte zu beachten. Luxemburg hat im Gegensatz zu anderen Ländern noch immer keine Position zur diesbezüglichen EU-Direktive bezogen.
Bei welchem historischen Ereignis wären Sie gerne dabei gewesen?
Mai 1968 in Frankreich. Aber ich war zumindest am 10. Mai 1981 in Paris dabei, als François Mitterand gewählt wurde und die Sozialisten an die Macht kamen. Das wirkte nach den 1970er Jahren mit Valérie Giscard d’Estaing wie ein Befreiungsschlag.
Welches Buch empfehlen Sie als Sommerlektüre?
Es sind drei ganz unterschiedliche Bücher. „Ouereschlëffer“, der
„Hier hält man es bei Hitze gut aus“: Charles Margue im Schatten des Quittenbaums, den er vor 30 Jahren vor seinem Haus gepflanzt hat, als er auch die Fassade begrünte. zweite Band von Jemp Schusters Jahrhundertsaga zu Luxemburg über die 1950er Jahre bis 2005. Dann lese ich gerade von Leila Slimani „Regardez-nous danser“zu Marokko nach der Unabhängigkeit, auch eine Saga. Und das dritte müsste für eine Reihe Politiker zur Pflichtlektüre gehören: „Voyage dans l’est“von Christine Angot, die Autobiografie über ihren Inzest und inwiefern er einen nicht mehr loslässt – es entsteht eine Abhängigkeit, aus der man nicht mehr herauskommt, die einen zum Objekt degradiert.
Welche Serie oder welchen Film würden Sie für verregnete Tage empfehlen?
Downtown Abbey und die beiden letzten Filme mit Vicky Krieps.
Wie verbringen Sie am liebsten Ihre Zeit außerhalb der Chamber?
Ins Kino gehen und in Konzerte – die letzten waren Tom Jones, Simple Minds und Toto – und in den Wald gehen.
Werden Sie 2023 erneut bei den Chamber-Wahlen kandidieren?
Yes.