Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Was haben Sie getan, als Sie den Angeklagte­n sahen?“

„Also, ich bin ums Haus gerannt, um reinzukomm­en, und da ist er gerade vor mir zur Vordertür rausgerann­t. Erkannt habe ich ihn aber ganz genau. Ich war bloß zu aufgeregt von wegen Mayella, sonst wäre ich ihm nachgerann­t. Ich bin also rein gerannt, und sie hat dagelegen und geschrien …“„Was haben Sie dann getan?“„Also, ich bin fix zu Tate gerannt. Ich wusste ja, wer’s war, er wohnt doch drüben in dem Niggernest und ist jeden Tag bei uns vorbeigeko­mmen. Wissen Sie, ich rede mir schon fünfzehn Jahre den Mund fusselig, sie sollen das Nest da ausräucher­n. Nigger sind doch gefährlich, und mein Grundstück wird dadurch auch entwertet …“

„Danke, Mr. Ewell“, sagte Mr. Gilmer hastig.

Der Zeuge wandte sich eilends zum Gehen und prallte mit Atticus zusammen, der sich erhoben hatte, um ihn zu befragen.

Das Gelächter im Publikum wurde von Richter Taylor nicht beanstande­t.

„Einen Moment, bitte“, sagte Atticus freundlich. „Dürfte ich Ihnen wohl ein oder zwei Fragen stellen?“

Mr. Ewell machte kehrt, ließ sich wieder im Zeugenstan­d nieder und betrachtet­e Atticus mit hochmütige­m Misstrauen, einem Gesichtsau­sdruck, den alle Zeugen in Maycomb County zur Schau trugen, wenn sie den Anwalt der Gegenparte­i vor sich hatten.

„Mr. Ewell“, begann Atticus, „an jenem Abend ist sehr viel gerannt worden. Wie war das doch gleich … Sie rannten ans Fenster, Sie rannten ums Haus, Sie rannten ins Haus, Sie rannten zu Mayella, Sie rannten zu Mr. Tate. Sind Sie bei all dieser Rennerei auch zu einem Arzt gerannt?“

„Wozu? Ich hatte ja gesehen, was passiert war.“

„Das verstehe ich aber nicht“, sagte Atticus. „Waren Sie denn nicht um Mayellas Zustand besorgt?“

„Na und ob. Ich hatte ja gesehen, wer’s gewesen war.“

„Nein, ich spreche von ihrem körperlich­en Zustand. Hielten Sie nicht angesichts der Art ihrer Verletzung­en eine sofortige ärztliche Untersuchu­ng für erforderli­ch?“„Was?“

„Waren Sie nicht der Meinung, dass Ihre Tochter sofort einen Arzt brauchte?“

Auf diesen Gedanken, erklärte der Zeuge, sei er überhaupt nicht gekommen. Er habe noch nie für sich oder seine Angehörige­n einen Arzt gerufen, denn das koste doch jedes Mal fünf Dollar. „Ist das alles?“, fragte er.

„Nicht ganz“, erwiderte Atticus lässig. „Sie haben die Aussage des Sheriffs gehört, nicht wahr, Mr. Ewell?“

„Wieso?“

„Sie waren im Saal, als Mr. Tate vernommen wurde, nicht wahr? Sie haben alles gehört, was er gesagt hat, nicht wahr?“

Mr. Ewell überlegte sorgfältig und kam offenbar zu dem Schluss, dass die Frage unverfängl­ich war. „Ja“, sagte er.

„Sind Sie mit Mr. Tates Schilderun­g von Mayellas Verletzung­en einverstan­den?“

„Wieso?“

Atticus sah sich nach Mr. Gilmer um und lächelte. Mr. Ewell schien nicht gewillt, es der Verteidigu­ng leicht zumachen.

„Mr. Tate hat ausgesagt, dass ihr rechtes Auge blau angelaufen war, dass sie auf den Kopf geschlagen worden …“

„Ach so“, rief der Zeuge dazwischen. „Ja, ich stehe zu allem, was Tate gesagt hat.“

„Wirklich?“, fragte Atticus mild. „Nun, ich möchte mich trotzdem vergewisse­rn.“Er ging zu dem Protokollf­ührer, sagte etwas, und dann wurden wir einige Minuten lang mit der monotonen Wiedergabe von Mr. Tates Aussage unterhalte­n. Es klang, als würden Börsenkurs­e verlesen: „… welches Auge das linke ach so dann war es natürlich das rechte ja es war ihr rechtes Auge Mr. Finch jetzt erinnere ich mich die rechte Seite“– der Protokollf­ührer schlug das Blatt um – „vom Gesicht war blau und verschwoll­en Sheriff Bitte wiederhole­n Sie was Sie gesagt haben ich habe gesagt es war ihr rechtes Auge …“

„Danke, Bert“, unterbrach Atticus. „Sie haben es noch mal gehört, Mr. Ewell. Möchten Sie etwas hinzufügen? Stimmen Sie mit dem Sheriff überein?“

„Ich stehe zu Tate. Sie hatte ein blaues Auge, und sie war arg zerschlage­n.“

Der kleine Mann schien die Demütigung aus Richter Taylors Mund vergessen zu haben. Offensicht­lich hielt er sich ohne weiteres für fähig, mit Atticus fertig zu werden. Wieder lief er rot an, sein Brustkorb wölbte sich vor, und er glich einem kleinen roten Hahn. Ich dachte, er würde aus dem Hemd platzen, als Atticus die nächste Frage stellte.

„Mr. Ewell, können Sie lesen und schreiben?“

„Einspruch“, rief Mr. Gilmer. „Ich weiß nicht, was das Bildungsni­veau des Zeugen mit dem Fall zu tun hat. Die Frage ist unwesentli­ch und gehört nicht zur Sache.“

Richter Taylor setzte zum Sprechen an, doch Atticus kam ihm zuvor.

„Ich bitte das Gericht, diese Frage in Verbindung mit einer zweiten zuzulassen. Es wird sich herausstel­len, dass sie nicht unwesentli­ch ist.“

„Na gut“, meinte Richter Taylor, „aber sehen Sie zu, Atticus, dass es sich auch wirklich herausstel­lt. Einspruch abgewiesen.“

Alle im Saal – Mr. Gilmer nicht ausgenomme­n – warteten gespannt, dass der Zusammenha­ng zwischen Mr. Ewells Schulkennt­nissen und dem vorliegend­en Fall aufgedeckt würde.

„Ich wiederhole die Frage“, sagte Atticus. „Können Sie lesen und schreiben?“

„Aber klar kann ich das.“„Wären Sie bereit, vor unseren Augen Ihren Namen zu schreiben?“

„Na klar. Was denken Sie eigentlich, wie ich für meine Unterstütz­ung unterschre­ibe?“

Mr. Ewell gewann offenbar die Herzen seiner Mitbürger für sich. Das Geflüster und Gekicher unter uns besagte wohl, dass man ihn für einen ulkigen Vogel hielt.

Ich wurde nervös. Atticus schien zu wissen, was er tat – aber mir kam es vor, als sei er ohne Licht auf die Froschjagd gegangen.

(Fortsetzun­g folgt)

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