Tatort Ukraine
Die Ermittlungen zu russischen Kriegsverbrechen kommen offenbar rasch voran – doch es gibt strukturelle Probleme
Bücher könnte Dmytro Cheban schreiben. Akten hat er vor sich liegen, Kaffee schlürft er, ein paar Pfannkuchen hat er sich bestellt in einem kleinen Kaffee in Kiew. Doch er kommt kaum dazu, zu essen, blättert durch Akten, dann kommt ein Kollege, zeigt ihm auf dem Mobiltelefon das Foto eines russischen Soldaten in Uniform, stramm in die Kamera blickend – und dann das eines vergnügten jungen Mannes in weißem Hemd auf einem Boot sitzend auf dem russischen sozialen Netzwerk V-Kontakte. „Ist das dieselbe Person?“, so die Frage des Kollegen. Dmytro Cheban stellt die Tasse ab, zoomt in die Aufnahmen, vergleicht die Gesichter, wiegt den geschorenen Kopf und murmelt: „Nein, eher nicht.“
Und schon blättert er weiter in seinen Akten – Seite um Seite Listen mit Namen plus Einheit, Rang, anderen Details, Fakten und Verdachtsmomenten. Sein Zeigefinger fährt über die dicht beschriebenen Blätter. Die Namen und Details von 7 000 Personen finden sich in dem Ordner, den Dmytro Cheban vor sich auf dem Tisch liegen hat. Verdächtige. Personen, von denen er sagt, dass sie an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen seien. „Die Zahl steigt jeden Tag“, sagt er.
Straßen voller Leichen
Dmytro Cheban ist Polizist. Und das Feld, in dem er ermittelt, ist das radioaktiv verseuchte Gebiet rund um den Atomreaktor Tschernobyl, 80 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der Ermittlungsgegenstand: Kriegsverbrechen. Als die russische Armee in der ersten Phase des Krieges gegen die Ukraine versucht hatte, Kiew einzukreisen, da war das Gebiet um Tschernobyl die Drehscheibe des russischen Vorstoßes von Belarus aus nach Süden.
Dmytro Cheban liest also vor: Die 604. taktische Gruppe der 1. Spezialkräfte der russischen Truppen namens „Vityaz“war in Tschernobyl, eine Abteilung der Spezialeinheit OMON (dem Innenministerium unterstehend) war dort und Sondereinsatzkräfte der russischen Nationalgarde (SOBR). Das Kommando hatte die Nationalgarde – eine 2016 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin geschaffene und direkt an ihn meldende Formation, die in Reaktion auf revolutionäre Vorgänge in Russlands Nachbarschaft kreiert wurde und eher nach Innen gerichtete Aufgaben hat. Dmytro Cheban buchstabiert die Namen der russischen Kommandanten, liest deren Telefonnummern vor, sagt: „Sie können sie ja anrufen“, und lacht. Er legt dar, wer wann das Kommando hatte. Und er listet auf, worum es geht: Mord, Vergewaltigung, Plünderung, Diebstahl, Entführung, Gefährdung des Personals in Tschernobyl, Beschuss ziviler Gebiete aus dem Gebiet heraus und so weiter.
Butscha, Irpin, Hostomel – das sind Orte, die heute sinnbildlich stehen für russische Kriegsverbrechen. Aber es war die Sperrzone um Tschernobyl, von wo aus Hostomel, Butscha und Irpin bombardiert wurden – und wo die Kommandostruktur der gesamten Operation stationiert war.
In Irpin wird heute aufgebaut, gehämmert, gebohrt, gestrichen. In Butscha ebenso. In Hostomel aber wurden ganze Wohnbezirke dem Erdboden gleichgemacht. Wenig ist da, was zu reparieren sich noch lohnt. Und ob in Irpin, Butscha oder Hostomel – es sind immer dieselben Erzählungen, die man hört: Straßen waren voller Leichen, dass auf alles und jeden geschossen wurde. Eine Frau in Irpin sagt: „Ganz zu Beginn waren sie (sie meint die russischen Soldaten) korrekt. Sie dachten, sie kommen als Befreier – aber als sie bemerkt haben, dass sie hier nicht willkommen sind, haben sie angefangen wahnsinnig zu werden.“Die Folge war ein Massaker.
Mangelnde Koordination
Bisher wurden die Leichen von 1 348 Zivilisten in den Regionen nahe Kiew gefunden – in Massengräbern oder Hinterhöfen, an Häuserzeilen oder in Kellern. Zum Teil waren die Opfer gefoltert, vergewaltigt oder anscheinend gezielt erschossen worden. 300 Personen werden nach wie vor vermisst. Aus der Sicht eines Ermittlers wie Dmytro Cheban sind diese Orte also vor allem eines: ein einziger riesiger Tatort.
Und die ukrainischen Stellen sind auf den ersten Blick flott mit der Aufarbeitung. Gegen einige russische Soldaten wurden bereits Verfahren gestartet: in Summe zehn. Sechs Personen sollen bereits verurteilt worden sein. Und Beobachter und Menschenrechtler bescheinigen diesen Verfahren ein durchaus gutes Zeugnis.
Dmytro Cheban nennt die Aufarbeitung des in Irpin, Butscha und Hostomel Geschehenen in erster Linie aber dennoch eine „PR-Kampagne“. Denn die Ermittlungen beschreibt er so: „Da weiß eine Hand nicht, was die andere macht – die Polizei ermittelt und stellt Beweismittel sicher, der SBU (Geheimdienst, Anm.) tut dasselbe, die Armee ebenso und auch die Staatsanwaltschaft.“Aber eine zentrale Verarbeitung der Informationen, eine Bündelung, eine koordinierte Sammlung, die gebe es nicht – sagt's, nimmt einen Schluck Kaffee und blickt auf den Aktenordner vor sich auf dem Tisch.
Der Internationale Strafgerichtshof hat Ermittler entsandt – 42 an der Zahl, die größte Gruppe, die das Strafgericht jemals entsandt hat. Und auch die UNO hat eine Untersuchungskommission eingesetzt. Und für ausländische Gäste gehört ein Besuch in Irpin, Butscha und Hostomel mittlerweile ebenso zum Programm wie das postwendende Angebot derselben, bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen zu helfen.
Zahlreiche Hürden
Nur, dass diese Angebote zumindest zu einem Teil am Problem vorbeischießen. Denn es mangelt in der Ukraine weniger an Forensikern oder Ermittlern. Woran es mangelt, sind Strukturen, um Informationen zu bündeln, zu verarbeiten und letztlich in Anklagen zu verwandeln. Dmytro Cheban hat jedenfalls seine Zweifel, was die Effizienz internationaler Kooperationen angeht. Die internationale Kooperation, die sei letztlich nicht mehr als, wie er sagt: „Treffen mit Entscheidungsträgern, eine Tour durch Butscha – und das war es.“Konkrete Hilfe, praktische Arbeit? Cheban sagt: Das passiere nicht.
Zugleich aber spricht er von inkompetenten Personen in der Führung ukrainischer Strukturen und vor allem auch nicht notwendigen technischen Hürden. Etwa, dass es im IT-Staat Ukraine nach wie vor keine elektronische Datenbank gebe, in die die unterschiedlichen Körperschaften ihr Wissen einspeisen. Warum? Dmytro Cheban hebt die Schultern. Schweigen.
Dieses Desinteresse spiegelt sich wiederum in einem eklatanten Personalproblem wider. Denn, so sagt Dmytro Cheban, alles in allem würden in den unterschiedlichen Stellen von Polizei über SBU bis zu Staatsanwaltschaft und Armee nicht mehr als 100 Personen direkt und ständig an der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen arbeiten – „während aber praktisch jeder Haushalt in betroffenen Regionen von solchen Verbrechen berichten kann“. Hunderttausende Haushalte sind das. In Summe also: Eine nicht zu bewältigende Aufgabe.
Hinzu kommt: Das ukrainische Justizsystem war immer und ist nach wie vor politisch umfehdet. Erst im Juli wurde Generalstaatsanwältin Iryna Venedictova entlassen. An ihrer Stelle wurde Andriy Kostin ernannt, zuvor Abgeordneter der Partei „Diener des Volkes“von Präsident Selenskyj. Seinem Staatsanwalt gab Selenskyj dabei eines mit auf den Weg: Die wichtigste Aufgabe sei es, „alle russischen Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen.“Dmytro Cheban sagt zu dem Wechsel an der Spitze der Generalstaatsanwaltschaft allerdings nur knapp: „Der hat nichts bewirkt.“
Sie dachten, sie kommen als Befreier – aber als sie bemerkt haben, dass sie hier nicht willkommen sind, haben sie angefangen wahnsinnig zu werden. Eine Frau aus Irpin