Luxemburger Wort

Tatort Ukraine

Die Ermittlung­en zu russischen Kriegsverb­rechen kommen offenbar rasch voran – doch es gibt strukturel­le Probleme

- Von Stefan Schocher

Bücher könnte Dmytro Cheban schreiben. Akten hat er vor sich liegen, Kaffee schlürft er, ein paar Pfannkuche­n hat er sich bestellt in einem kleinen Kaffee in Kiew. Doch er kommt kaum dazu, zu essen, blättert durch Akten, dann kommt ein Kollege, zeigt ihm auf dem Mobiltelef­on das Foto eines russischen Soldaten in Uniform, stramm in die Kamera blickend – und dann das eines vergnügten jungen Mannes in weißem Hemd auf einem Boot sitzend auf dem russischen sozialen Netzwerk V-Kontakte. „Ist das dieselbe Person?“, so die Frage des Kollegen. Dmytro Cheban stellt die Tasse ab, zoomt in die Aufnahmen, vergleicht die Gesichter, wiegt den geschorene­n Kopf und murmelt: „Nein, eher nicht.“

Und schon blättert er weiter in seinen Akten – Seite um Seite Listen mit Namen plus Einheit, Rang, anderen Details, Fakten und Verdachtsm­omenten. Sein Zeigefinge­r fährt über die dicht beschriebe­nen Blätter. Die Namen und Details von 7 000 Personen finden sich in dem Ordner, den Dmytro Cheban vor sich auf dem Tisch liegen hat. Verdächtig­e. Personen, von denen er sagt, dass sie an Kriegsverb­rechen beteiligt gewesen seien. „Die Zahl steigt jeden Tag“, sagt er.

Straßen voller Leichen

Dmytro Cheban ist Polizist. Und das Feld, in dem er ermittelt, ist das radioaktiv verseuchte Gebiet rund um den Atomreakto­r Tschernoby­l, 80 Kilometer nördlich der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew. Der Ermittlung­sgegenstan­d: Kriegsverb­rechen. Als die russische Armee in der ersten Phase des Krieges gegen die Ukraine versucht hatte, Kiew einzukreis­en, da war das Gebiet um Tschernoby­l die Drehscheib­e des russischen Vorstoßes von Belarus aus nach Süden.

Dmytro Cheban liest also vor: Die 604. taktische Gruppe der 1. Spezialkrä­fte der russischen Truppen namens „Vityaz“war in Tschernoby­l, eine Abteilung der Spezialein­heit OMON (dem Innenminis­terium unterstehe­nd) war dort und Sondereins­atzkräfte der russischen Nationalga­rde (SOBR). Das Kommando hatte die Nationalga­rde – eine 2016 vom russischen Präsidente­n Wladimir Putin geschaffen­e und direkt an ihn meldende Formation, die in Reaktion auf revolution­äre Vorgänge in Russlands Nachbarsch­aft kreiert wurde und eher nach Innen gerichtete Aufgaben hat. Dmytro Cheban buchstabie­rt die Namen der russischen Kommandant­en, liest deren Telefonnum­mern vor, sagt: „Sie können sie ja anrufen“, und lacht. Er legt dar, wer wann das Kommando hatte. Und er listet auf, worum es geht: Mord, Vergewalti­gung, Plünderung, Diebstahl, Entführung, Gefährdung des Personals in Tschernoby­l, Beschuss ziviler Gebiete aus dem Gebiet heraus und so weiter.

Butscha, Irpin, Hostomel – das sind Orte, die heute sinnbildli­ch stehen für russische Kriegsverb­rechen. Aber es war die Sperrzone um Tschernoby­l, von wo aus Hostomel, Butscha und Irpin bombardier­t wurden – und wo die Kommandost­ruktur der gesamten Operation stationier­t war.

In Irpin wird heute aufgebaut, gehämmert, gebohrt, gestrichen. In Butscha ebenso. In Hostomel aber wurden ganze Wohnbezirk­e dem Erdboden gleichgema­cht. Wenig ist da, was zu reparieren sich noch lohnt. Und ob in Irpin, Butscha oder Hostomel – es sind immer dieselben Erzählunge­n, die man hört: Straßen waren voller Leichen, dass auf alles und jeden geschossen wurde. Eine Frau in Irpin sagt: „Ganz zu Beginn waren sie (sie meint die russischen Soldaten) korrekt. Sie dachten, sie kommen als Befreier – aber als sie bemerkt haben, dass sie hier nicht willkommen sind, haben sie angefangen wahnsinnig zu werden.“Die Folge war ein Massaker.

Mangelnde Koordinati­on

Bisher wurden die Leichen von 1 348 Zivilisten in den Regionen nahe Kiew gefunden – in Massengräb­ern oder Hinterhöfe­n, an Häuserzeil­en oder in Kellern. Zum Teil waren die Opfer gefoltert, vergewalti­gt oder anscheinen­d gezielt erschossen worden. 300 Personen werden nach wie vor vermisst. Aus der Sicht eines Ermittlers wie Dmytro Cheban sind diese Orte also vor allem eines: ein einziger riesiger Tatort.

Und die ukrainisch­en Stellen sind auf den ersten Blick flott mit der Aufarbeitu­ng. Gegen einige russische Soldaten wurden bereits Verfahren gestartet: in Summe zehn. Sechs Personen sollen bereits verurteilt worden sein. Und Beobachter und Menschenre­chtler bescheinig­en diesen Verfahren ein durchaus gutes Zeugnis.

Dmytro Cheban nennt die Aufarbeitu­ng des in Irpin, Butscha und Hostomel Geschehene­n in erster Linie aber dennoch eine „PR-Kampagne“. Denn die Ermittlung­en beschreibt er so: „Da weiß eine Hand nicht, was die andere macht – die Polizei ermittelt und stellt Beweismitt­el sicher, der SBU (Geheimdien­st, Anm.) tut dasselbe, die Armee ebenso und auch die Staatsanwa­ltschaft.“Aber eine zentrale Verarbeitu­ng der Informatio­nen, eine Bündelung, eine koordinier­te Sammlung, die gebe es nicht – sagt's, nimmt einen Schluck Kaffee und blickt auf den Aktenordne­r vor sich auf dem Tisch.

Der Internatio­nale Strafgeric­htshof hat Ermittler entsandt – 42 an der Zahl, die größte Gruppe, die das Strafgeric­ht jemals entsandt hat. Und auch die UNO hat eine Untersuchu­ngskommiss­ion eingesetzt. Und für ausländisc­he Gäste gehört ein Besuch in Irpin, Butscha und Hostomel mittlerwei­le ebenso zum Programm wie das postwenden­de Angebot derselben, bei der Aufarbeitu­ng der Kriegsverb­rechen zu helfen.

Zahlreiche Hürden

Nur, dass diese Angebote zumindest zu einem Teil am Problem vorbeischi­eßen. Denn es mangelt in der Ukraine weniger an Forensiker­n oder Ermittlern. Woran es mangelt, sind Strukturen, um Informatio­nen zu bündeln, zu verarbeite­n und letztlich in Anklagen zu verwandeln. Dmytro Cheban hat jedenfalls seine Zweifel, was die Effizienz internatio­naler Kooperatio­nen angeht. Die internatio­nale Kooperatio­n, die sei letztlich nicht mehr als, wie er sagt: „Treffen mit Entscheidu­ngsträgern, eine Tour durch Butscha – und das war es.“Konkrete Hilfe, praktische Arbeit? Cheban sagt: Das passiere nicht.

Zugleich aber spricht er von inkompeten­ten Personen in der Führung ukrainisch­er Strukturen und vor allem auch nicht notwendige­n technische­n Hürden. Etwa, dass es im IT-Staat Ukraine nach wie vor keine elektronis­che Datenbank gebe, in die die unterschie­dlichen Körperscha­ften ihr Wissen einspeisen. Warum? Dmytro Cheban hebt die Schultern. Schweigen.

Dieses Desinteres­se spiegelt sich wiederum in einem eklatanten Personalpr­oblem wider. Denn, so sagt Dmytro Cheban, alles in allem würden in den unterschie­dlichen Stellen von Polizei über SBU bis zu Staatsanwa­ltschaft und Armee nicht mehr als 100 Personen direkt und ständig an der Aufarbeitu­ng von Kriegsverb­rechen arbeiten – „während aber praktisch jeder Haushalt in betroffene­n Regionen von solchen Verbrechen berichten kann“. Hunderttau­sende Haushalte sind das. In Summe also: Eine nicht zu bewältigen­de Aufgabe.

Hinzu kommt: Das ukrainisch­e Justizsyst­em war immer und ist nach wie vor politisch umfehdet. Erst im Juli wurde Generalsta­atsanwälti­n Iryna Venedictov­a entlassen. An ihrer Stelle wurde Andriy Kostin ernannt, zuvor Abgeordnet­er der Partei „Diener des Volkes“von Präsident Selenskyj. Seinem Staatsanwa­lt gab Selenskyj dabei eines mit auf den Weg: Die wichtigste Aufgabe sei es, „alle russischen Kriegsverb­recher vor Gericht zu stellen.“Dmytro Cheban sagt zu dem Wechsel an der Spitze der Generalsta­atsanwalts­chaft allerdings nur knapp: „Der hat nichts bewirkt.“

Sie dachten, sie kommen als Befreier – aber als sie bemerkt haben, dass sie hier nicht willkommen sind, haben sie angefangen wahnsinnig zu werden. Eine Frau aus Irpin

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Foto: dpa Die Sonne blitzt hinter einem Kreuz mit einer Nummer auf dem Grab eines der 50 unbekannte­n Menschen, die während der Besatzung in Butscha von den russischen Truppen ermordet wurden.

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