Luxemburger Wort

Die Macht der Drogenkart­elle

Die ausufernde Gewalt der Organisier­ten Kriminalit­ät kostet Mexiko jährlich ein Prozent des BIP

- Von Klaus Ehringfeld (Mexiko City)

In Michoacán im Westen Mexikos blieben in der vergangene­n Woche die Avocados auf den Lkws, die eigentlich für den Export in die USA bestimmt waren. In Chihuahua im Norden des Landes gingen zur gleichen Zeit die Arbeiter mehrere Tage nicht in ihre Fabriken, um Hosen zu nähen oder Fernseher zusammenzu­löten. In Baja California, an der Pazifikküs­te, besonders beliebt bei US-Touristen, blieben die Geschäfte geschlosse­n. Die Menschen hatten Angst, ins Kreuzfeuer oder den direkten Fokus der Kartelle zu geraten.

Innerhalb weniger Tage fackelten die Kartelle in großen Städten landauf und landab Autos ab, sperrten Straßen und setzten Geschäfte in Brand. Und in Ciudad Juárez schossen Pistoleros der Bande „Los Mexicles“wahllos auf die Bevölkerun­g. An einem Tag starben in der Grenzstadt elf Menschen, darunter eine Familie in einer Pizzeria und ein Radioteam, das über die Aggression­en berichten wollte. Anlass war, dass die Bande „Los Mexicles“verhindern wollte, dass ihr Boss Ernesto Piñón de la Cruz, „El Neto“in ein anderes Gefängnis verlegt wird.

Was wie koordinier­tes Handeln der Kartelle aussah, war nur zeitlicher Zufall. An jedem der vielen Orte der neuen Gewaltwell­e

hatten die verschiede­nen bewaffnete­n Banden wie das Kartell „Jalisco Nueva Generación“(CJNG) konkrete Anlässe für ihre Terroratta­cken. Mal ging es um Rache, weil der Sicherheit­schef des örtlichen Drogenkart­ells festgenomm­en wurde, mal waren Schutzgeld­erpressung­en der Auslöser.

Hilfloser Staat

Aber die implizite Nachricht ist immer die gleiche. Die Organisier­te Kriminalit­ät, in Mexiko kurz „Narco“genannt, macht, was sie will in den Regionen, in denen sie das Sagen hat. Und der Staat ist hilflos, Soldaten verstecken sich, die Polizei sowieso. Und Präsident Andrés Manuel López Obrador kommentier­te diese Gewaltwoch­e stoisch und fast resigniere­nd: „So was haben wir noch nicht gesehen, hoffentlic­h wiederholt es sich nicht, dass unschuldig­e Zivilisten angegriffe­n werden.“Worte, mit denen die Opfer verhöhnt werden und die wie die Kapitulati­on des Staates vor dem „Narco“klingen.

Jeden Tag werden in Mexiko etwa 100 Morde verübt, mehr als 100 000 Menschen gelten als verschwund­en, 33 000 verschwand­en allein während der aktuellen Regierung. 14 Reporter und Reporterin­nen sind dieses Jahr bereits ermordet worden. Mexiko, eine der größten formellen Demokratie­n der Welt, gleicht immer mehr einem Schlachtfe­ld.

Aber derzeit erleben die gewaltgepl­agten Mexikaner einen unvorstell­baren Exzess der Angriffe, Anschläge, Schießerei­en, Hinrichtun­gen und mutwillige­n Zerstörung­en durch das Organisier­te Verbrechen. Selbst Experten sind perplex: „Wir sind Zeuge einer Tragödie, die den Menschen den Frieden raubt und die Entwicklun­g von Mexikos Demokratie verhindert“, erklärte der Thinktank Save Democracy, der zur Demokratie­entwicklun­g in Lateinamer­ika arbeitet. Es gebe auch unter López Obrador keine „wirksamen staatliche­n Maßnahmen zur Bekämpfung und Verhinderu­ng des Wachstums kriminelle­r Netzwerke“, schreibt die Organisati­on. Kriminalit­ätsexperte­n und politische Analysten zeichnen schon das Gespenst eines mexikanisc­hen „Narcoterro­rismus“.

Wirtschaft schlägt Alarm

Der qualitativ­e Unterschie­d dieses neuen Ausbruchs der Gewalt ist, dass sich die bewaffnete­n Gruppen nicht mehr nur untereinan­der bekämpfen oder gegen die Sicherheit­skräfte vorgehen. Dieses Mal terrorisie­ren sie bewusst oder fahrlässig die Zivilbevöl­kerung.

Und die Wirtschaft, die lange stillgehal­ten hat, schlägt jetzt Alarm. Die Unsicherhe­it koste das Land umgerechne­t ein Prozent des

Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP), sagt José Medina Mora, Präsident des Arbeitgebe­rverbands Coparmex. „Das ist ein hoher Preis für die mexikanisc­he Wirtschaft, der sich darin widerspieg­elt, dass weniger Investitio­nen kommen und keine Arbeitsplä­tze entstehen“, beklagt Medina Mora. Mexikos BIP belief sich vergangene­s Jahr auf 1,3 Billionen US-Dollar.

Längst sind auch deutsche Unternehme­r besorgt. Gehe die Entwicklun­g ungebremst weiter, nehme der Investitio­nsstandort Mexiko nachhaltig Schaden, warnt der Repräsenta­nt der deutschen Wirtschaft in Mexiko, Johannes Hauser. „Die Gewaltwell­e zeigt, dass die Drogenkart­elle Tod und Verletzung­en der Zivilbevöl­kerung in Kauf nehmen. Und sie treibt die Kosten der Unternehme­n in die Höhe“, unterstrei­cht der Geschäftsf­ührer der DeutschMex­ikanischen Industrie- und Handelskam­mer (AHK Mexiko) im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“. Auch deutsche Firmen investiert­en immer mehr in ihre Sicherheit. „Uns sind Unternehme­n bekannt, die ihre Dienstreis­en in die von der Gewalt geprägten Regionen vorläufig ganz eingestell­t haben“, sagt Hauser.

López Obrador gescheiter­t

López Obrador wurde 2018 auch deshalb gewählt, weil er versprach, diesem Wahnsinn ein Ende

zu machen und die Verbrechen­sbekämpfun­gskonzepte seiner Vorgänger auf den Kopf zu stellen. Vor allem Präsident Felipe Calderón (2006–2012) versuchte, die Kartelle mit dem Einsatz der Streitkräf­te in die Knie zu zwingen, was gründlich misslang und zu nur noch mehr Blutvergie­ßen führte.

López Obrador hingegen trat mit einem völlig anderen Ansatz an: „Abrazos no balazos“, also „Umarmungen statt Kugeln“– ein Konzept, das auf Prävention statt Repression setzte, und vor allem auf Angebote an junge Leute, damit sie nicht den Verführung­en der Organisier­ten Kriminalit­ät erliegen. Stipendien­angebote und Straferlas­se für leichte Delikte gehörten zu dem Ansatz. Heute muss man sagen, dass diese Taktik krachend gescheiter­t ist.

Das Vakuum, die López Obradors weitgehend­er Verzicht auf militärisc­he Konfrontat­ion in vielen Orten des Landes hinterlass­en hat, haben sich die Verbrecher­syndikate ebenso wie lokale Banden zunutze gemacht. Immer größere Teile Mexikos sind in den Händen der Kartelle. „Die Situation ist unhaltbar, und das Fehlen einer wirksamen Strategie gegen die Unsicherhe­it, gepaart mit der Gleichgült­igkeit auf allen Regierungs­ebenen, verschärft die Lage täglich“, warnt der Unternehme­rverband Coparmex.

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