Die Macht der Drogenkartelle
Die ausufernde Gewalt der Organisierten Kriminalität kostet Mexiko jährlich ein Prozent des BIP
In Michoacán im Westen Mexikos blieben in der vergangenen Woche die Avocados auf den Lkws, die eigentlich für den Export in die USA bestimmt waren. In Chihuahua im Norden des Landes gingen zur gleichen Zeit die Arbeiter mehrere Tage nicht in ihre Fabriken, um Hosen zu nähen oder Fernseher zusammenzulöten. In Baja California, an der Pazifikküste, besonders beliebt bei US-Touristen, blieben die Geschäfte geschlossen. Die Menschen hatten Angst, ins Kreuzfeuer oder den direkten Fokus der Kartelle zu geraten.
Innerhalb weniger Tage fackelten die Kartelle in großen Städten landauf und landab Autos ab, sperrten Straßen und setzten Geschäfte in Brand. Und in Ciudad Juárez schossen Pistoleros der Bande „Los Mexicles“wahllos auf die Bevölkerung. An einem Tag starben in der Grenzstadt elf Menschen, darunter eine Familie in einer Pizzeria und ein Radioteam, das über die Aggressionen berichten wollte. Anlass war, dass die Bande „Los Mexicles“verhindern wollte, dass ihr Boss Ernesto Piñón de la Cruz, „El Neto“in ein anderes Gefängnis verlegt wird.
Was wie koordiniertes Handeln der Kartelle aussah, war nur zeitlicher Zufall. An jedem der vielen Orte der neuen Gewaltwelle
hatten die verschiedenen bewaffneten Banden wie das Kartell „Jalisco Nueva Generación“(CJNG) konkrete Anlässe für ihre Terrorattacken. Mal ging es um Rache, weil der Sicherheitschef des örtlichen Drogenkartells festgenommen wurde, mal waren Schutzgelderpressungen der Auslöser.
Hilfloser Staat
Aber die implizite Nachricht ist immer die gleiche. Die Organisierte Kriminalität, in Mexiko kurz „Narco“genannt, macht, was sie will in den Regionen, in denen sie das Sagen hat. Und der Staat ist hilflos, Soldaten verstecken sich, die Polizei sowieso. Und Präsident Andrés Manuel López Obrador kommentierte diese Gewaltwoche stoisch und fast resignierend: „So was haben wir noch nicht gesehen, hoffentlich wiederholt es sich nicht, dass unschuldige Zivilisten angegriffen werden.“Worte, mit denen die Opfer verhöhnt werden und die wie die Kapitulation des Staates vor dem „Narco“klingen.
Jeden Tag werden in Mexiko etwa 100 Morde verübt, mehr als 100 000 Menschen gelten als verschwunden, 33 000 verschwanden allein während der aktuellen Regierung. 14 Reporter und Reporterinnen sind dieses Jahr bereits ermordet worden. Mexiko, eine der größten formellen Demokratien der Welt, gleicht immer mehr einem Schlachtfeld.
Aber derzeit erleben die gewaltgeplagten Mexikaner einen unvorstellbaren Exzess der Angriffe, Anschläge, Schießereien, Hinrichtungen und mutwilligen Zerstörungen durch das Organisierte Verbrechen. Selbst Experten sind perplex: „Wir sind Zeuge einer Tragödie, die den Menschen den Frieden raubt und die Entwicklung von Mexikos Demokratie verhindert“, erklärte der Thinktank Save Democracy, der zur Demokratieentwicklung in Lateinamerika arbeitet. Es gebe auch unter López Obrador keine „wirksamen staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung und Verhinderung des Wachstums krimineller Netzwerke“, schreibt die Organisation. Kriminalitätsexperten und politische Analysten zeichnen schon das Gespenst eines mexikanischen „Narcoterrorismus“.
Wirtschaft schlägt Alarm
Der qualitative Unterschied dieses neuen Ausbruchs der Gewalt ist, dass sich die bewaffneten Gruppen nicht mehr nur untereinander bekämpfen oder gegen die Sicherheitskräfte vorgehen. Dieses Mal terrorisieren sie bewusst oder fahrlässig die Zivilbevölkerung.
Und die Wirtschaft, die lange stillgehalten hat, schlägt jetzt Alarm. Die Unsicherheit koste das Land umgerechnet ein Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (BIP), sagt José Medina Mora, Präsident des Arbeitgeberverbands Coparmex. „Das ist ein hoher Preis für die mexikanische Wirtschaft, der sich darin widerspiegelt, dass weniger Investitionen kommen und keine Arbeitsplätze entstehen“, beklagt Medina Mora. Mexikos BIP belief sich vergangenes Jahr auf 1,3 Billionen US-Dollar.
Längst sind auch deutsche Unternehmer besorgt. Gehe die Entwicklung ungebremst weiter, nehme der Investitionsstandort Mexiko nachhaltig Schaden, warnt der Repräsentant der deutschen Wirtschaft in Mexiko, Johannes Hauser. „Die Gewaltwelle zeigt, dass die Drogenkartelle Tod und Verletzungen der Zivilbevölkerung in Kauf nehmen. Und sie treibt die Kosten der Unternehmen in die Höhe“, unterstreicht der Geschäftsführer der DeutschMexikanischen Industrie- und Handelskammer (AHK Mexiko) im Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“. Auch deutsche Firmen investierten immer mehr in ihre Sicherheit. „Uns sind Unternehmen bekannt, die ihre Dienstreisen in die von der Gewalt geprägten Regionen vorläufig ganz eingestellt haben“, sagt Hauser.
López Obrador gescheitert
López Obrador wurde 2018 auch deshalb gewählt, weil er versprach, diesem Wahnsinn ein Ende
zu machen und die Verbrechensbekämpfungskonzepte seiner Vorgänger auf den Kopf zu stellen. Vor allem Präsident Felipe Calderón (2006–2012) versuchte, die Kartelle mit dem Einsatz der Streitkräfte in die Knie zu zwingen, was gründlich misslang und zu nur noch mehr Blutvergießen führte.
López Obrador hingegen trat mit einem völlig anderen Ansatz an: „Abrazos no balazos“, also „Umarmungen statt Kugeln“– ein Konzept, das auf Prävention statt Repression setzte, und vor allem auf Angebote an junge Leute, damit sie nicht den Verführungen der Organisierten Kriminalität erliegen. Stipendienangebote und Straferlasse für leichte Delikte gehörten zu dem Ansatz. Heute muss man sagen, dass diese Taktik krachend gescheitert ist.
Das Vakuum, die López Obradors weitgehender Verzicht auf militärische Konfrontation in vielen Orten des Landes hinterlassen hat, haben sich die Verbrechersyndikate ebenso wie lokale Banden zunutze gemacht. Immer größere Teile Mexikos sind in den Händen der Kartelle. „Die Situation ist unhaltbar, und das Fehlen einer wirksamen Strategie gegen die Unsicherheit, gepaart mit der Gleichgültigkeit auf allen Regierungsebenen, verschärft die Lage täglich“, warnt der Unternehmerverband Coparmex.