Treffen auf Augenhöhe
Im Brüsseler Lokal-Parlament begegnen sich geloste Bürger und Politprofis regelmäßig
Auf die Frage, warum ausgerechnet in Belgien derzeit so viel mit Demokratie-Erneuerung experimentiert wird, kann Magali Plovie nur mit Hypothesen antworten. Vielleicht ist es, weil das Land – mit all seinen Institutionen, die sich Flamen, Brüsseler, Wallonen und Deutschsprachige teilen – so unheimlich kompliziert geworden ist, meint die Präsidentin des frankofonen Parlaments Brüssels (es ist tatsächlich manchmal kompliziert): „Da kann man versucht sein, etwas ganz Neues ausprobieren zu wollen“. Gleichzeitig ermögliche diese Komplexität, die sich durch eine Vielzahl von kleineren Parlamenten offenbart (Die Regionen und Sprachgemeinschaften haben ihre eigenen Volksvertretungen), es auch, lokale Experimente mit relativ viel Freiraum zu gestalten.
Wie dem auch sei – auf die Frage, warum unsere Demokratie dringend erneuert werden muss, hat die grüne Politikerin Plovie dagegen eine eindeutige Antwort: „Wir stehen als Gesellschaft vor so vielen wichtigen Entscheidungen, die unsere Lebensweise radikal verändern werden. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie wir das in einem politischen System, das so sklerotisch geworden ist, schaffen werden.“
Um diese Sklerose der traditionellen Politik, die sich in ganz Europa durch Phänomene wie niedrige Wahlbeteiligung, Misstrauen gegenüber Gewählten und Parteien oder populistischen Protestbewegungen ausdrückt, zu überwinden, hat Plovie eine simple, aber revolutionäre Idee in ihrem Parlament ausprobiert: Ganz normale Brüsseler sollen einfach zusammen mit Abgeordneten im Parlament tagen und gemeinsam an Reformideen arbeiten.
Inspirationsquellen gibt es überall Das kleine Pamphlet „Gegen Wahlen“des belgischen Historikers David Van Reybrouck diente der jungen Politikerin dabei als Augenöffner. Laut Van Reybrouck sind Wahlen und repräsentative Demokratie nämlich „die fossilen Brennstoffe der Politik: Einst befeuerten sie die Demokratie, inzwischen erzeugen sie eine ganze Reihe neuer Gefahren“.
Sie hätten nämlich nicht mehr viel mit der gegenwärtigen Art und Weise gemeinsam, wie Menschen untereinander interagieren, was zu einer gewissen Demokratiemüdigkeit im Westen führe. Ganz normale Bürger per Losverfahren auszuwählen und an politischen Entscheidungen teilnehmen zu lassen, bietet dagegen viele Vorteile, meint Van Reybrouck: Anders als Parlamente wären geloste Bürger ein besseres Spiegelbild der Gesellschaft und hätten – anders als bei Wahlen alle fünf Jahre – auch die Möglichkeit, einen aktiven Einblick in die Welt der politischen Entscheidungsprozesse zu kriegen. Obendrein würde man so, sterile parteipolitische Blockaden recht einfach aus dem Wege räumen können.
Magali Plovie macht Bürgerbeteiligung zur obersten Priorität.
Dass diese Idee auch in der Realität anwendbar ist, beobachtet Plovie Beginn der 2010er-Jahre in Irland. Dort erlaubten zusammengewürfelte Bürgerforen es, die im erzkatholischen Land parteipolitisch hochumstrittene Fragen zur Homo-Ehe und zur Abtreibung zu lösen: Es kam nämlich heraus, dass die Bürger – nach einer Informationsphase, der Expertenanhörung und der Beratung – viel fortschrittlicher dachten als das, was ihre Gewählte ihnen zutrauen wollten.
Warum so etwas auch in Brüssel Sinn machen würde, erfuhr Magali Plovie etwa in ihrer Arbeit in der belgischen Armutsbekämpfungsbehörde: „Manchmal hat man als Entscheider einen blinden Fleck. Demnach ist es unheimlich wichtig, Gedanken von jenen zu sammeln, die im traditionellen politischen System in die Unsichtbarkeit gedrängt werden.“
Kampf für den Systemwechsel
Die Umsetzung dieser Gedanken entwickelt Magali Plovie dann 2017 aus der Opposition heraus – doch leider „interessierte das damals niemand“. Nach den Wahlen von 2019 ändern sich im Brüsseler Parlament aber die Machtverhältnisse: Die Grünen kommen in die Regierungskoalition und Plovie wird Parlamentschefin. Ihre Idee, Bürger an politischen Arbeiten teilnehmen zu lassen, ist dann durch ihre Vorarbeit schon fast druckreif: Es braucht nur noch einige Sondierungen mit den anderen Parteien und im April 2021 findet bereits die erste „Commission déliberative“in Brüssel statt.
Das in Brüssel eingeführte System ist insofern originell, da geloste Bürger in „gemischten“Ausschüssen zusammen mit „richtigen“Abgeordneten Vorschläge zu einem bestimmten Thema ausarbeiten. Konkret sieht das System so aus: 10 000 per Zufallsprinzip ausgewählte Brüsseler, die mehr als 16 Jahre alt sind, erhalten einen Brief, in dem sie eingeladen werden, um bei einem bestimmten Thema im Parlament mitzureden. Aus denen, die sich zurückmelden, wird eine neue Gruppe zusammengelost. Dabei werden dann Kriterien wie Bildungsniveau und Einkommen berücksichtigt, um die Auswahl repräsentativ für die Brüsseler Gesellschaft zu machen.
Der endgültige Bürgeréchantillon, der je nach Fall 36 oder 45 Brüsseler zählt, kommt dann in einem Ausschuss zusammen, in dem auch ein Viertel (zwölf oder 15) der Mitglieder von Abgeordneten gestellt wird, die auch sonst für die jeweilige Thematik zuständig wären. Dieser „deliberative Ausschuss“muss dann „Empfehlungen“ausarbeiten, die später an die lokale Regierung und das Parlament weitergeleitet werden, die diese zum Schluss berücksichtigen und idealerweise auch umsetzen sollen.
Die Mischung macht's
Die besprochenen Themen, mit denen sich diese Ausschüsse befassen, können entweder von der Politik oder von normalen Bürgern via Petition festgelegt werden. Während der Arbeiten können Experten und relevante Personen aus dem Bereich befragt werden.
„Das hat noch keiner auf der Welt so gemacht“, gratuliert sich Magali Plovie. Und in der Tat – viele Regionen oder Länder, die ein derartig institutionalisiertes und dauerhaftes Bürgerbeteiligungssystem eingeführt haben, gibt es nicht. Dazu noch die „gemischte“Natur des Experiments. Während die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, die andere Pionier-Gesellschaft in Sachen Demokratie-Erneuerung, reine Bürgerräte zusammenlost, hat man sich in Brüssel für die Einbindung von hauptberuflichen Politikern im deliberativen Prozess entschieden.
„Das hat den Vorteil, dass die Menschen, die am Ende die Resultate der Debatten umsetzen müssen – also die Parlamentarier, sich mehr dazu verpflichtet fühlen, da sie Teil der ganzen Arbeit waren“, erklärt Min Reuchamps, Demokratie-Experte an der Katholischen Universität von Louvain-La-Neuve (UCL), der für das Projekt als wissenschaftlicher Berater aktiv ist. Gleichzeitig zwingt diese Arbeitsweise die Abgeordneten dazu, sich von der strengen „Mehrheit-gegen-Opposition“-Dynamik zu befreien, berichtet Plovie – sie lernen also auch etwas dazu, das sie bei anderen Fragen anwenden könnten.
„In der Wirklichkeit hätten wir uns wohl nie getroffen und sicherlich nie miteinander debattiert“, sagt ein 35-jähriger Teilnehmer mit Migrationshintergrund, der sich beim Abschluss der bereits fünften „Commission déliberative“über die Diversität der Gruppe freut. Während Wochen hatten 36 normale Bürger sich zusammen mit zwölf Abgeordneten darüber den Kopf zerbrochen, wie man die duale Ausbildung – also die Berufsausbildung, die in Betrieb und
Berufsschule erfolgt – in Brüssel sichtbarer und erfolgreicher machen kann.
20 Empfehlungen werden dann am Tag des Abschlusses feierlich an den zuständigen Minister weitergeleitet. „Konkreter geht Politik nicht“, freut sich ein anderer Teilnehmer, der sich, wie die meisten seiner Ausschusskollegen, wohl zum ersten Mal von der Politik ernst genommen fühlt.
Die Stimmung im Brüsseler Parlament ist an jenem Juliabend sehr gut. Die meisten loben ihre Kollegen und die anwesenden Abgeordneten – Menschen, die offenbar nicht gewohnt sind, öffentlich zu reden, stehen auf dem Parlamentspodium und erklären, wie die duale Ausbildung reformiert werden müsste. Die Kritik der Teilnehmer beschränkt sich auf Detailfragen in der Prozedur. Ei
Manchmal hat man als Entscheider einen blinden Fleck Magali Plovie, Chefin des frankofonen Parlaments in Brüssel
nige hätten sich beispielsweise mehr Zeit gewünscht, um die einzelnen Empfehlungen noch besser zu studieren.
Politik wird dadurch greifbarer
Anne, 61 Jahre und Angestellte in einem Reisebüro, ist regelrecht begeistert. „Ich finde diese Initiative sehr innovativ“, sagt sie rückblickend. „Als ich den Brief bekommen habe, um mitzumachen, habe ich mich sehr darüber gefreut. Der Austausch mit Mitbürgern und Experten, die uns zum Thema informierten, war sehr bereichernd“, meint sie. Die Arbeit mit den hauptberuflichen Abgeordneten sei auch interessant – parteipolitische Grabenkämpfe habe es nicht gegeben – man habe dagegen aber lernen können, wie Politik im Alltag funktioniert, berichtet Anne. „Die Politik wird dadurch auch entmystifiziert“, meint eine Parlamentsmitarbeiterin dazu.
Und egal, wie viel von den Empfehlungen auch tatsächlich umgesetzt werden, die Erfahrung war ohnehin wertvoll, analysiert Anne: „Sogar wenn nicht alles umgesetzt wird, sind diese Arbeiten gute Inspirationsquellen für die Zukunft. Die Abgeordneten habe so auch gesehen, was Bürger denken
In der Wirklichkeit hätten wir uns wohl nie getroffen und sicherlich nie miteinander debattiert. Ein Teilnehmer
– und das ist schon mal nicht schlecht.“
Antonio, 34 und Angestellter bei der regionalen Fahrzeughomologierung, sieht es ähnlich: „Ich war sehr neugierig und wollte unbedingt mitmachen – unabhängig vom Thema“. „Die Tatsache, dass es so etwas gibt, ist bereits sehr lobenswert und ich hoffe, dass die Bürgerbeteiligung noch verstärkt wird“: Antonio, wie viele, begeistert sich während der Arbeiten allmählich für das Thema: „Das spürte man sofort: Jeder wollte sich ernsthaft in die Arbeiten implizieren.“Der junge Mann, der von sich behauptet, „politische Meinungen zu haben, ohne sich jedoch in der Parteipolitik wiederzuerkennen“, ist daher überzeugt vom Experiment: „Wir brauchen unbedingt mehr davon!“
„Das Resultat ist gut“, sagt er, „nun hoffe ich, dass vieles davon umgesetzt wird. Geschieht nichts damit, wäre es sehr enttäuschend“. Und tatsächlich: Die 20 Empfehlungen wirken sehr kohärent und professionell, da sind sich die anwesenden Abgeordneten auch einig.
Nicht alles läuft sofort perfekt
Das hat allerdings nicht immer so gut funktioniert, berichtet Magali Plovie. Bei den ersten Versuchen gab es durchaus Probleme, räumt sie offen ein. Abgeordnete setzten sich am Anfang zu oft durch, da sie – anders als Bürger – mit Parlamentsjargon und Prozeduren bewandert sind und dies zu ihrem Vorteil nutzten. Manchmal wurden auch parteipolitische Streitereien in die Arbeitsgruppen mit Bürgern importiert.
Beim ersten Versuch, bei dem es um die umstrittene Einführung der 5G ging, hat es auch zu viele und zu vage Empfehlungen gegeben, die eine Umsetzung fast unmöglich machen. „Ich habe auch gemerkt, dass es wichtig sei, Experten jederzeit einladen zu dürfen und nicht nur am Anfang der Arbeiten, um das Thema vorzustellen. Manche Fragen fallen einem auch erst während der 10 000 per Zufallsprinzip ausgewählte Brüsseler über 16 Jahre werden eingeladen, um bei einem bestimmten Thema im Parlament mitzureden.
Arbeit ein“, sagt Magali Plovie. „Wir arbeiten demnach ständig, um das System zu verbessern.“
Ziel ist es nämlich, dass so viel es geht auch danach umgesetzt ist. „Ansonsten ist das Ganze sinnfrei“, meint Plovie. „Und die Arbeit, die dahintersteckt, darf nicht umsonst sein.“Dass es ohnehin nicht umsonst war, merkt man im Gespräch mit Beteiligten allerdings schnell. Dort herrscht nämlich das Gefühl, die Gesellschaft durch die eigene Arbeit ein kleines und bescheidenes Stück besser gemacht zu haben.
Normal, sagt Antonio, denn „Politiker interessieren sich für Wähler und ihre Partei, Bürger interessieren sich dagegen für das Gesellschaftsprojekt“. Die Idee, wonach es ohne Bürgerbeteiligung in Zukunft nicht gehen wird, gewinnt langsam an Akzeptanz unter Politikern – zumindest in Belgien: Bald sollen auch in der Wallonie und auf Nationalebene ähnliche Projekte anlaufen.