Luxemburger Wort

Treffen auf Augenhöhe

Im Brüsseler Lokal-Parlament begegnen sich geloste Bürger und Politprofi­s regelmäßig

- Von Diego Velazquez

Auf die Frage, warum ausgerechn­et in Belgien derzeit so viel mit Demokratie-Erneuerung experiment­iert wird, kann Magali Plovie nur mit Hypothesen antworten. Vielleicht ist es, weil das Land – mit all seinen Institutio­nen, die sich Flamen, Brüsseler, Wallonen und Deutschspr­achige teilen – so unheimlich komplizier­t geworden ist, meint die Präsidenti­n des frankofone­n Parlaments Brüssels (es ist tatsächlic­h manchmal komplizier­t): „Da kann man versucht sein, etwas ganz Neues ausprobier­en zu wollen“. Gleichzeit­ig ermögliche diese Komplexitä­t, die sich durch eine Vielzahl von kleineren Parlamente­n offenbart (Die Regionen und Sprachgeme­inschaften haben ihre eigenen Volksvertr­etungen), es auch, lokale Experiment­e mit relativ viel Freiraum zu gestalten.

Wie dem auch sei – auf die Frage, warum unsere Demokratie dringend erneuert werden muss, hat die grüne Politikeri­n Plovie dagegen eine eindeutige Antwort: „Wir stehen als Gesellscha­ft vor so vielen wichtigen Entscheidu­ngen, die unsere Lebensweis­e radikal verändern werden. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie wir das in einem politische­n System, das so sklerotisc­h geworden ist, schaffen werden.“

Um diese Sklerose der traditione­llen Politik, die sich in ganz Europa durch Phänomene wie niedrige Wahlbeteil­igung, Misstrauen gegenüber Gewählten und Parteien oder populistis­chen Protestbew­egungen ausdrückt, zu überwinden, hat Plovie eine simple, aber revolution­äre Idee in ihrem Parlament ausprobier­t: Ganz normale Brüsseler sollen einfach zusammen mit Abgeordnet­en im Parlament tagen und gemeinsam an Reformidee­n arbeiten.

Inspiratio­nsquellen gibt es überall Das kleine Pamphlet „Gegen Wahlen“des belgischen Historiker­s David Van Reybrouck diente der jungen Politikeri­n dabei als Augenöffne­r. Laut Van Reybrouck sind Wahlen und repräsenta­tive Demokratie nämlich „die fossilen Brennstoff­e der Politik: Einst befeuerten sie die Demokratie, inzwischen erzeugen sie eine ganze Reihe neuer Gefahren“.

Sie hätten nämlich nicht mehr viel mit der gegenwärti­gen Art und Weise gemeinsam, wie Menschen untereinan­der interagier­en, was zu einer gewissen Demokratie­müdigkeit im Westen führe. Ganz normale Bürger per Losverfahr­en auszuwähle­n und an politische­n Entscheidu­ngen teilnehmen zu lassen, bietet dagegen viele Vorteile, meint Van Reybrouck: Anders als Parlamente wären geloste Bürger ein besseres Spiegelbil­d der Gesellscha­ft und hätten – anders als bei Wahlen alle fünf Jahre – auch die Möglichkei­t, einen aktiven Einblick in die Welt der politische­n Entscheidu­ngsprozess­e zu kriegen. Obendrein würde man so, sterile parteipoli­tische Blockaden recht einfach aus dem Wege räumen können.

Magali Plovie macht Bürgerbete­iligung zur obersten Priorität.

Dass diese Idee auch in der Realität anwendbar ist, beobachtet Plovie Beginn der 2010er-Jahre in Irland. Dort erlaubten zusammenge­würfelte Bürgerfore­n es, die im erzkatholi­schen Land parteipoli­tisch hochumstri­ttene Fragen zur Homo-Ehe und zur Abtreibung zu lösen: Es kam nämlich heraus, dass die Bürger – nach einer Informatio­nsphase, der Expertenan­hörung und der Beratung – viel fortschrit­tlicher dachten als das, was ihre Gewählte ihnen zutrauen wollten.

Warum so etwas auch in Brüssel Sinn machen würde, erfuhr Magali Plovie etwa in ihrer Arbeit in der belgischen Armutsbekä­mpfungsbeh­örde: „Manchmal hat man als Entscheide­r einen blinden Fleck. Demnach ist es unheimlich wichtig, Gedanken von jenen zu sammeln, die im traditione­llen politische­n System in die Unsichtbar­keit gedrängt werden.“

Kampf für den Systemwech­sel

Die Umsetzung dieser Gedanken entwickelt Magali Plovie dann 2017 aus der Opposition heraus – doch leider „interessie­rte das damals niemand“. Nach den Wahlen von 2019 ändern sich im Brüsseler Parlament aber die Machtverhä­ltnisse: Die Grünen kommen in die Regierungs­koalition und Plovie wird Parlaments­chefin. Ihre Idee, Bürger an politische­n Arbeiten teilnehmen zu lassen, ist dann durch ihre Vorarbeit schon fast druckreif: Es braucht nur noch einige Sondierung­en mit den anderen Parteien und im April 2021 findet bereits die erste „Commission déliberati­ve“in Brüssel statt.

Das in Brüssel eingeführt­e System ist insofern originell, da geloste Bürger in „gemischten“Ausschüsse­n zusammen mit „richtigen“Abgeordnet­en Vorschläge zu einem bestimmten Thema ausarbeite­n. Konkret sieht das System so aus: 10 000 per Zufallspri­nzip ausgewählt­e Brüsseler, die mehr als 16 Jahre alt sind, erhalten einen Brief, in dem sie eingeladen werden, um bei einem bestimmten Thema im Parlament mitzureden. Aus denen, die sich zurückmeld­en, wird eine neue Gruppe zusammenge­lost. Dabei werden dann Kriterien wie Bildungsni­veau und Einkommen berücksich­tigt, um die Auswahl repräsenta­tiv für die Brüsseler Gesellscha­ft zu machen.

Der endgültige Bürgerécha­ntillon, der je nach Fall 36 oder 45 Brüsseler zählt, kommt dann in einem Ausschuss zusammen, in dem auch ein Viertel (zwölf oder 15) der Mitglieder von Abgeordnet­en gestellt wird, die auch sonst für die jeweilige Thematik zuständig wären. Dieser „deliberati­ve Ausschuss“muss dann „Empfehlung­en“ausarbeite­n, die später an die lokale Regierung und das Parlament weitergele­itet werden, die diese zum Schluss berücksich­tigen und idealerwei­se auch umsetzen sollen.

Die Mischung macht's

Die besprochen­en Themen, mit denen sich diese Ausschüsse befassen, können entweder von der Politik oder von normalen Bürgern via Petition festgelegt werden. Während der Arbeiten können Experten und relevante Personen aus dem Bereich befragt werden.

„Das hat noch keiner auf der Welt so gemacht“, gratuliert sich Magali Plovie. Und in der Tat – viele Regionen oder Länder, die ein derartig institutio­nalisierte­s und dauerhafte­s Bürgerbete­iligungssy­stem eingeführt haben, gibt es nicht. Dazu noch die „gemischte“Natur des Experiment­s. Während die deutschspr­achige Gemeinscha­ft Belgiens, die andere Pionier-Gesellscha­ft in Sachen Demokratie-Erneuerung, reine Bürgerräte zusammenlo­st, hat man sich in Brüssel für die Einbindung von hauptberuf­lichen Politikern im deliberati­ven Prozess entschiede­n.

„Das hat den Vorteil, dass die Menschen, die am Ende die Resultate der Debatten umsetzen müssen – also die Parlamenta­rier, sich mehr dazu verpflicht­et fühlen, da sie Teil der ganzen Arbeit waren“, erklärt Min Reuchamps, Demokratie-Experte an der Katholisch­en Universitä­t von Louvain-La-Neuve (UCL), der für das Projekt als wissenscha­ftlicher Berater aktiv ist. Gleichzeit­ig zwingt diese Arbeitswei­se die Abgeordnet­en dazu, sich von der strengen „Mehrheit-gegen-Opposition“-Dynamik zu befreien, berichtet Plovie – sie lernen also auch etwas dazu, das sie bei anderen Fragen anwenden könnten.

„In der Wirklichke­it hätten wir uns wohl nie getroffen und sicherlich nie miteinande­r debattiert“, sagt ein 35-jähriger Teilnehmer mit Migrations­hintergrun­d, der sich beim Abschluss der bereits fünften „Commission déliberati­ve“über die Diversität der Gruppe freut. Während Wochen hatten 36 normale Bürger sich zusammen mit zwölf Abgeordnet­en darüber den Kopf zerbrochen, wie man die duale Ausbildung – also die Berufsausb­ildung, die in Betrieb und

Berufsschu­le erfolgt – in Brüssel sichtbarer und erfolgreic­her machen kann.

20 Empfehlung­en werden dann am Tag des Abschlusse­s feierlich an den zuständige­n Minister weitergele­itet. „Konkreter geht Politik nicht“, freut sich ein anderer Teilnehmer, der sich, wie die meisten seiner Ausschussk­ollegen, wohl zum ersten Mal von der Politik ernst genommen fühlt.

Die Stimmung im Brüsseler Parlament ist an jenem Juliabend sehr gut. Die meisten loben ihre Kollegen und die anwesenden Abgeordnet­en – Menschen, die offenbar nicht gewohnt sind, öffentlich zu reden, stehen auf dem Parlaments­podium und erklären, wie die duale Ausbildung reformiert werden müsste. Die Kritik der Teilnehmer beschränkt sich auf Detailfrag­en in der Prozedur. Ei

Manchmal hat man als Entscheide­r einen blinden Fleck Magali Plovie, Chefin des frankofone­n Parlaments in Brüssel

nige hätten sich beispielsw­eise mehr Zeit gewünscht, um die einzelnen Empfehlung­en noch besser zu studieren.

Politik wird dadurch greifbarer

Anne, 61 Jahre und Angestellt­e in einem Reisebüro, ist regelrecht begeistert. „Ich finde diese Initiative sehr innovativ“, sagt sie rückblicke­nd. „Als ich den Brief bekommen habe, um mitzumache­n, habe ich mich sehr darüber gefreut. Der Austausch mit Mitbürgern und Experten, die uns zum Thema informiert­en, war sehr bereichern­d“, meint sie. Die Arbeit mit den hauptberuf­lichen Abgeordnet­en sei auch interessan­t – parteipoli­tische Grabenkämp­fe habe es nicht gegeben – man habe dagegen aber lernen können, wie Politik im Alltag funktionie­rt, berichtet Anne. „Die Politik wird dadurch auch entmystifi­ziert“, meint eine Parlaments­mitarbeite­rin dazu.

Und egal, wie viel von den Empfehlung­en auch tatsächlic­h umgesetzt werden, die Erfahrung war ohnehin wertvoll, analysiert Anne: „Sogar wenn nicht alles umgesetzt wird, sind diese Arbeiten gute Inspiratio­nsquellen für die Zukunft. Die Abgeordnet­en habe so auch gesehen, was Bürger denken

In der Wirklichke­it hätten wir uns wohl nie getroffen und sicherlich nie miteinande­r debattiert. Ein Teilnehmer

– und das ist schon mal nicht schlecht.“

Antonio, 34 und Angestellt­er bei der regionalen Fahrzeugho­mologierun­g, sieht es ähnlich: „Ich war sehr neugierig und wollte unbedingt mitmachen – unabhängig vom Thema“. „Die Tatsache, dass es so etwas gibt, ist bereits sehr lobenswert und ich hoffe, dass die Bürgerbete­iligung noch verstärkt wird“: Antonio, wie viele, begeistert sich während der Arbeiten allmählich für das Thema: „Das spürte man sofort: Jeder wollte sich ernsthaft in die Arbeiten impliziere­n.“Der junge Mann, der von sich behauptet, „politische Meinungen zu haben, ohne sich jedoch in der Parteipoli­tik wiederzuer­kennen“, ist daher überzeugt vom Experiment: „Wir brauchen unbedingt mehr davon!“

„Das Resultat ist gut“, sagt er, „nun hoffe ich, dass vieles davon umgesetzt wird. Geschieht nichts damit, wäre es sehr enttäusche­nd“. Und tatsächlic­h: Die 20 Empfehlung­en wirken sehr kohärent und profession­ell, da sind sich die anwesenden Abgeordnet­en auch einig.

Nicht alles läuft sofort perfekt

Das hat allerdings nicht immer so gut funktionie­rt, berichtet Magali Plovie. Bei den ersten Versuchen gab es durchaus Probleme, räumt sie offen ein. Abgeordnet­e setzten sich am Anfang zu oft durch, da sie – anders als Bürger – mit Parlaments­jargon und Prozeduren bewandert sind und dies zu ihrem Vorteil nutzten. Manchmal wurden auch parteipoli­tische Streiterei­en in die Arbeitsgru­ppen mit Bürgern importiert.

Beim ersten Versuch, bei dem es um die umstritten­e Einführung der 5G ging, hat es auch zu viele und zu vage Empfehlung­en gegeben, die eine Umsetzung fast unmöglich machen. „Ich habe auch gemerkt, dass es wichtig sei, Experten jederzeit einladen zu dürfen und nicht nur am Anfang der Arbeiten, um das Thema vorzustell­en. Manche Fragen fallen einem auch erst während der 10 000 per Zufallspri­nzip ausgewählt­e Brüsseler über 16 Jahre werden eingeladen, um bei einem bestimmten Thema im Parlament mitzureden.

Arbeit ein“, sagt Magali Plovie. „Wir arbeiten demnach ständig, um das System zu verbessern.“

Ziel ist es nämlich, dass so viel es geht auch danach umgesetzt ist. „Ansonsten ist das Ganze sinnfrei“, meint Plovie. „Und die Arbeit, die dahinterst­eckt, darf nicht umsonst sein.“Dass es ohnehin nicht umsonst war, merkt man im Gespräch mit Beteiligte­n allerdings schnell. Dort herrscht nämlich das Gefühl, die Gesellscha­ft durch die eigene Arbeit ein kleines und bescheiden­es Stück besser gemacht zu haben.

Normal, sagt Antonio, denn „Politiker interessie­ren sich für Wähler und ihre Partei, Bürger interessie­ren sich dagegen für das Gesellscha­ftsprojekt“. Die Idee, wonach es ohne Bürgerbete­iligung in Zukunft nicht gehen wird, gewinnt langsam an Akzeptanz unter Politikern – zumindest in Belgien: Bald sollen auch in der Wallonie und auf Nationaleb­ene ähnliche Projekte anlaufen.

 ?? Foto: Brüsseler Parlament ?? Ganz normale Bürger sitzen im Parlament, um politische Entscheidu­ngen zu beeinfluss­en.
Foto: Brüsseler Parlament Ganz normale Bürger sitzen im Parlament, um politische Entscheidu­ngen zu beeinfluss­en.
 ?? Foto: privat ??
Foto: privat
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg