Luxemburger Wort

Die Trümmer einer verfehlten Ostpolitik

- Von Claude P. Muller *

Für den Überfall auf die Ukraine gibt es keinerlei Entschuldi­gung oder gar Rechtferti­gung. Dennoch ist es wichtig, die politische Dynamik im Osten Europas zu verstehen. Hintergrün­de mögen für einige eine Erklärung sein, andere werden sich weigern irgendeine­n Zusammenha­ng zu westlichem (Fehl)verhalten zu erkennen, weil Putin die Ukraine so oder so überfallen hätte. Wir werden es nie wissen. Jean Asselborn meinte erst neulich: „On n´avait donné aucun signe permettant à Moscou de croire qu´on intégrerai­t l´Ukraine à l'OTAN. Aucun!“(„Luxemburge­r Wort“vom 10. August 2022). Interessan­ter wäre, was Lawrow ihm gesagt hat. Beide haben sich 2004 kennengele­rnt, fünf Jahre nach der ersten Osterweite­rung (Polen, Tschechien, Ungarn) und just in dem Jahr, als die NATO sieben weitere Länder (Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien), davon drei frühere Sowjetrepu­bliken (Estland, Litauen, Lettland), aufnahm und dabei erstmals an Russlands Westgrenze heranrückt­e.

2007 griff Lawrows Chef Putin auf der Münchner Sicherheit­skonferenz den Westen wegen Wortbruch, wenn nicht Vertragsbr­uch, mit harschen Worten an und warnte vor einer weiteren Osterweite­rung. Putins

Warnungen verhallten ungehört. Ernsthafte Gespräche auf Augenhöhe über die russischen Sicherheit­sbedürfnis­se kamen nie zustande. Knapp 14 Monate später, 2009, wurde die Aufnahme von Albanien und Kroatien beschlosse­n, das Jahr als Asselborn mit Lawrow seinen Sechzigste­n in jovialer Runde feierte („Luxemburge­r Wort“vom 10. August 2022). Was sagte ihm Lawrow damals? NATO und EU stießen im Osten an die früheren Sowjetrepu­bliken Ukraine und Moldawien. Der Ukraine und Georgien war bereits damals die NATO-Mitgliedsc­haft angeboten worden. Als Pufferstaa­ten hätten die Länder eine wichtige Rolle zwischen EU/NATO und Russland spielen können. Der ukrainisch­e Präsident Janukowits­ch versuchte diesen Weg. Dann kam das Deep and Comprehens­ive Free Trade Agreement (DCFTA) mit der EU und damit die Demontage der Ukraine als Pufferstaa­t zwischen West und Ost.

Aus russischer Sicht konnte der euphemisti­sch als Handelsabk­ommen bezeichnet­e Vertrag nur als weiterer Schritt nach Osten gedeutet werden. Im Artikel 4 geht es um eine „Angleichun­g“und „Abstimmung der Sicherheit­sund Verteidigu­ngspolitik“mit dem Westen, sprich mit der NATO ¹. „Security“kommt dutzende Male im DCFTA zur Sprache. Zu einseitig, befand der gewählte Präsident Janukowits­ch und verweigert­e kurzerhand seine Unterschri­ft unter dem Abkommen. Dies löste die proeuropäi­schen Maidan-Demonstrat­ionen in Kiew aus, die erst mit Janukowits­chs Flucht ins Exil endeten. Derweil gingen in den östlichen Landesteil­en Lugansk und Donezk die pro-russischen Demonstrat­ionen weiter.

Ausgewogen­e Vision

Noch im Dezember 2013 erklärte Asselborn vor den EU-Außenminis­tern: Es wäre ein großer Fehler von der Ukraine zu verlangen, sich zwischen der EU oder Russland zu entscheide­n ². Eine ausgewogen­e, wenn auch nicht neue Vision für die Ukraine, die auch von Lawrow geteilt wurde. Entspreche­nd wohlwollen­d wurde Asselborn zwei Monate später (24. Februar 2014) von seinem Kollegen in Moskau empfangen. Dieser sei ohne Anzeichen von Feindselig­keit weder gegenüber der Ukraine noch gegenüber der EU gewesen. Es gäbe keinen Hinweis darauf, dass Russland eine militärisc­he Interventi­on in der Ukraine plane. Er habe vielmehr das Gefühl, dass Moskau bereit sei, dem Land die Hand zu reichen. Russland müsse mit ins Boot ³, gab Asselborn danach zu Protokoll. Mag also sein, dass seine eingangs gemachte Einschätzu­ng auf einer (Selbst)täuschung beruhte – mit schwerwieg­enden Folgen.

Knapp 14 Tage später machte er sich auf den Weg, um am 10. März 2014 in Kiew mit der Opposition für das EU-Abkommen DCFTA und gegen die alte Janukowits­ch-Regierung und gegen deren Kurs der Mitte zu demonstrie­ren Hatte der angeblich so ehrliche Makler („Luxemburge­r Wort“vom 10. August 2022) seinen Kollegen Lawrow getäuscht und seinen geplanten Auftritt auf dem EURO-Maidan verschwieg­en? Jedenfalls setzte er sich damit über lange gewachsene Befindlich­keiten pro-russischer Bevölkerun­gsteile und die Realitäten in der Ostukraine und der Krim hinweg. In sträfliche­r Naivität trieb er damit die „Angleichun­g“der Sicherheit­spolitik des Landes an die NATO mit voran, ungeachtet der Tatsache, dass auf der ukrainisch­en Krim ein Drittel der russischen Kriegsmari­ne stationier­t ist.

Ohne die sicherheit­spolitisch­en Klauseln des DCFTA wäre es womöglich nicht zur militärisc­hen Eskalation im Donbass und auf der Krim gekommen.

Die Krim aus russischer Sicht

Bereits 1918 nach dem nicht eingehalte­nen Abkommen von Brest-Litowsk entzog sich die russische Schwarzmee­rflotte auf der Krim dem Zugriff der deutschen Truppen durch Selbstvers­enkung, ein Trauma, das sich aus russischer Sicht nicht wiederhole­n sollte. War es Ignoranz, oder einfach „nur“Überheblic­hkeit anzunehmen, dass Russland dieses schleichen­de

Vordringen gegen den wichtigste­n eisfreien Marinestüt­zpunkt reaktionsl­os hinnehmen würde und ihn mittelfris­tig der NATO überlassen würde. Auch wenn dies, wie es später hieß, damals nicht auf der Agenda stand? Schon seit Jahren gestaltete­n sich die Verhandlun­gen über den Flottenstü­tzpunkt zunehmend schwierige­r, so dass das DCFTA für Russland ein willkommen­er Anlass für eine Interventi­on zum „Schutz“seiner Schwarzmeh­rflotte war. Der Rest ist Geschichte: Als Konsequenz hat Russland die Krim (wieder) „einkassier­t“und annektiert. Da dämmerte es Asselborn (17. März 2014), wie wichtig die Krim für Russland ist, und dass diese nicht mit Sanktionen zurückzuho­len ist Am 17. April 2014 gab Putin zu Protokoll, dass er aus Angst, die Krim an die NATO zu verlieren, gehandelt habe.

Ohne die sicherheit­spolitisch­en Klauseln des DCFTA wäre es womöglich nicht zur militärisc­hen Eskalation im Donbass und auf der Krim gekommen und die brutale Invasion der Ukraine hätte womöglich vermieden werden können. Wir werden es nie wissen. Dennoch: Entweder hat Asselborn den Inhalt des Abkommens, für das er sich im Zuge des EURO-Maidan starkmacht­e, nicht gekannt, oder aber die fatalen Konsequenz­en bewusst in Kauf genommen. Kaum anzunehmen, dass Lawrow ihn nie über diese Zusammenhä­nge aufgeklärt hat. Die damalige Reaktion Russlands auf der Krim war durchaus vorhersehb­ar gewesen, lief sie doch nach ähnlichem Muster ab, wie sechs Jahre vorher in der abtrünnige­n Republik Abchasien. Auch damals sah Russland potenziell­e Marinestüt­zpunkte in Gefahr. Kurzerhand brachte es die abtrünnige georgische Provinz Abchasien unter seine Kontrolle und die Stützpunkt­option war „gerettet“.

Auch im Donbass waren die Folgen des DCFTA verheerend: Die pro-russischen Demonstrat­ionen mündeten in einen brutalen Bürgerkrie­g. 14 000 junge Ukrainer und Russen und über 3 000 Zivilisten sind darin umgekommen; die Ukraine verlor ihre Schwerindu­strie. Minimale Kenntnisse über die Region hätten schwerwieg­ende Fehleinsch­ätzungen und ihre katastroph­alen Folgen für die Menschen und die Region womöglich schon damals verhindern können.

Nach der Krim-Annexion und der de facto Besetzung des Donbass verhängte der Westen sogenannte „Sanktionen“. Diese blieben auch nach Abschuss der malaysisch­en Passagierm­aschine MH17, den Verstößen gegen das Minsker-Abkommen und dem Angriff auf das ukrainisch­e Marineschi­ff bei Kertsch halbherzig und entspreche­nd wirkungslo­s Der Bürgerkrie­g verschwand aus den Schlagzeil­en, die Medien vergnügten sich mit Putin-Bashing. Die katastroph­ale Abhängigke­it des Wohlstands von Europa und der Welt von Energieträ­gern und einer Vielzahl von essenziell­en mineralisc­hen und landwirtsc­haftlichen Rohstoffen aus Russland wurde kaum thematisie­rt. Erst nach dem 24. Februar 2022 wurde ruchbar, dass die EU Putin jeden Tag mit einer Milliarde Euro alimentier­te mit der dieser seine militärisc­hen Abenteuer welt

weit finanziere­n kann, (zum Vergleich: eine Milliarde seit Kriegsbegi­nn an die Ukraine; Stand 6. April 2022). Die Fähigkeit Russlands, Länder wie China, Indien, Indonesien, Ägypten, Serbien, die Türkei, weite Teile Afrikas und Gegner des Westens wie Iran, Syrien, Nordkorea auf seine Seite zu ziehen und damit Einfluss auf zahlreiche eingefrore­ne Konflikte zu gewinnen, wurde sträflich unterschät­zt. Trotz schlechter Karten verharrte die NATO in einem desolaten Ausrüstung­szustand.

15 verlorene Jahre

Dass Russland die Krim unter welchem Druck auch immer nicht wieder aufgeben würde, ist eine zu lange ignorierte Erkenntnis. Ernsthafte­n Verhandlun­gen, die dem Rechnung trügen, gab es deshalb nie. Acht Jahre war Europa in Handlungss­tarre verfallen und ohne Exitstrate­gie. Statt in aussichtsl­oser Lage stur auf der Rückgabe der Krim zu bestehen, hätte die EU und die NATO kreative Ansätze entwickeln müssen. Etwa ihre sogenannte­n „Sanktionen“beenden, im Gegenzug für die Rückgabe von Abchasien (und Südossetie­n) an Georgien. Mit einem für Russland abgesicher­ten Sewastopol

verlören potenziell­e Schwarzmee­r-Marinestüt­zpunkte in Abchasien ihre geopolitis­che und militärisc­he Bedeutung. Chruschtsc­how hatte die Krim aus einer, bis heute unerklärli­chen Laune und jenseits des Völkerrech­tes, 1954 an die damalige Ukrainisch­e Sowjetrepu­blik abgetreten. So gesehen gab es durchaus völkerrech­tlichen Deutungssp­ielraum.

Russlands Forderung nach Sicherheit­sgarantien und den schriftlic­hen Verzicht auf eine NATO-Mitgliedsc­haft der Ukraine wurde jahrelang ausgeblend­et und tauchte erst in der westlichen Wahrnehmun­g auf, als russische Truppen eine unübersehb­are Drohkuliss­e an der Ostgrenze der Ukraine aufbauten. Mit dem Argument, dass jedes Land das Recht habe, selbst zu entscheide­n, welchem Bündnis es beitreten möchte, sollte der Ukraine zu gegebener Zeit der Weg in die NATO geebnet werden. Unausgespr­ochen blieb, dass doch wohl auch jedes Bündnis selbststän­dig entscheide­n kann, wen es aufnimmt. Oder darf auch das Himalaya-Königreich Bhutan Mitglied der NATO werden, wenn es dies eines Morgens wünscht? ² ³

Eine Win-Win-Situation

Die NATO hätte ohne Gesichtsve­rlust das Ansinnen der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedsc­haft verbindlic­h ablehnen und gleichzeit­ig seine wirtschaft­lichen Beziehunge­n ausbauen können, ganz im Sinne einer friedliche­n Pufferfunk­tion des Landes. Mit einem 40-mal höheren Bruttoinla­ndsprodukt des Westens im Vergleich zu Russland wäre ein wirtschaft­licher Showdown in einem Pufferstaa­t Ukraine schneller entschiede­n, als auf dem Schlachtfe­ld. Und: lieber ein Verzicht auf NATO-Osterweite­rung, als die derzeitige russische „Westerweit­erung“. Für das Armenhaus zwischen Ost und West, für die EU und Russland wäre ein solcher Kurs eine WinWin-Situation gewesen, vor allem aber für die Menschen in der Ukraine. ¹

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Foto: AFP Der Ukraine-Krieg mitsamt seinen schrecklic­hen Folgen für die Zivilbevöl­kerung hätte vielleicht verhindert werden können, meint der Autor.

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