Die Trümmer einer verfehlten Ostpolitik
Für den Überfall auf die Ukraine gibt es keinerlei Entschuldigung oder gar Rechtfertigung. Dennoch ist es wichtig, die politische Dynamik im Osten Europas zu verstehen. Hintergründe mögen für einige eine Erklärung sein, andere werden sich weigern irgendeinen Zusammenhang zu westlichem (Fehl)verhalten zu erkennen, weil Putin die Ukraine so oder so überfallen hätte. Wir werden es nie wissen. Jean Asselborn meinte erst neulich: „On n´avait donné aucun signe permettant à Moscou de croire qu´on intégrerait l´Ukraine à l'OTAN. Aucun!“(„Luxemburger Wort“vom 10. August 2022). Interessanter wäre, was Lawrow ihm gesagt hat. Beide haben sich 2004 kennengelernt, fünf Jahre nach der ersten Osterweiterung (Polen, Tschechien, Ungarn) und just in dem Jahr, als die NATO sieben weitere Länder (Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien), davon drei frühere Sowjetrepubliken (Estland, Litauen, Lettland), aufnahm und dabei erstmals an Russlands Westgrenze heranrückte.
2007 griff Lawrows Chef Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Westen wegen Wortbruch, wenn nicht Vertragsbruch, mit harschen Worten an und warnte vor einer weiteren Osterweiterung. Putins
Warnungen verhallten ungehört. Ernsthafte Gespräche auf Augenhöhe über die russischen Sicherheitsbedürfnisse kamen nie zustande. Knapp 14 Monate später, 2009, wurde die Aufnahme von Albanien und Kroatien beschlossen, das Jahr als Asselborn mit Lawrow seinen Sechzigsten in jovialer Runde feierte („Luxemburger Wort“vom 10. August 2022). Was sagte ihm Lawrow damals? NATO und EU stießen im Osten an die früheren Sowjetrepubliken Ukraine und Moldawien. Der Ukraine und Georgien war bereits damals die NATO-Mitgliedschaft angeboten worden. Als Pufferstaaten hätten die Länder eine wichtige Rolle zwischen EU/NATO und Russland spielen können. Der ukrainische Präsident Janukowitsch versuchte diesen Weg. Dann kam das Deep and Comprehensive Free Trade Agreement (DCFTA) mit der EU und damit die Demontage der Ukraine als Pufferstaat zwischen West und Ost.
Aus russischer Sicht konnte der euphemistisch als Handelsabkommen bezeichnete Vertrag nur als weiterer Schritt nach Osten gedeutet werden. Im Artikel 4 geht es um eine „Angleichung“und „Abstimmung der Sicherheitsund Verteidigungspolitik“mit dem Westen, sprich mit der NATO ¹. „Security“kommt dutzende Male im DCFTA zur Sprache. Zu einseitig, befand der gewählte Präsident Janukowitsch und verweigerte kurzerhand seine Unterschrift unter dem Abkommen. Dies löste die proeuropäischen Maidan-Demonstrationen in Kiew aus, die erst mit Janukowitschs Flucht ins Exil endeten. Derweil gingen in den östlichen Landesteilen Lugansk und Donezk die pro-russischen Demonstrationen weiter.
Ausgewogene Vision
Noch im Dezember 2013 erklärte Asselborn vor den EU-Außenministern: Es wäre ein großer Fehler von der Ukraine zu verlangen, sich zwischen der EU oder Russland zu entscheiden ². Eine ausgewogene, wenn auch nicht neue Vision für die Ukraine, die auch von Lawrow geteilt wurde. Entsprechend wohlwollend wurde Asselborn zwei Monate später (24. Februar 2014) von seinem Kollegen in Moskau empfangen. Dieser sei ohne Anzeichen von Feindseligkeit weder gegenüber der Ukraine noch gegenüber der EU gewesen. Es gäbe keinen Hinweis darauf, dass Russland eine militärische Intervention in der Ukraine plane. Er habe vielmehr das Gefühl, dass Moskau bereit sei, dem Land die Hand zu reichen. Russland müsse mit ins Boot ³, gab Asselborn danach zu Protokoll. Mag also sein, dass seine eingangs gemachte Einschätzung auf einer (Selbst)täuschung beruhte – mit schwerwiegenden Folgen.
Knapp 14 Tage später machte er sich auf den Weg, um am 10. März 2014 in Kiew mit der Opposition für das EU-Abkommen DCFTA und gegen die alte Janukowitsch-Regierung und gegen deren Kurs der Mitte zu demonstrieren Hatte der angeblich so ehrliche Makler („Luxemburger Wort“vom 10. August 2022) seinen Kollegen Lawrow getäuscht und seinen geplanten Auftritt auf dem EURO-Maidan verschwiegen? Jedenfalls setzte er sich damit über lange gewachsene Befindlichkeiten pro-russischer Bevölkerungsteile und die Realitäten in der Ostukraine und der Krim hinweg. In sträflicher Naivität trieb er damit die „Angleichung“der Sicherheitspolitik des Landes an die NATO mit voran, ungeachtet der Tatsache, dass auf der ukrainischen Krim ein Drittel der russischen Kriegsmarine stationiert ist.
Ohne die sicherheitspolitischen Klauseln des DCFTA wäre es womöglich nicht zur militärischen Eskalation im Donbass und auf der Krim gekommen.
Die Krim aus russischer Sicht
Bereits 1918 nach dem nicht eingehaltenen Abkommen von Brest-Litowsk entzog sich die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim dem Zugriff der deutschen Truppen durch Selbstversenkung, ein Trauma, das sich aus russischer Sicht nicht wiederholen sollte. War es Ignoranz, oder einfach „nur“Überheblichkeit anzunehmen, dass Russland dieses schleichende
Vordringen gegen den wichtigsten eisfreien Marinestützpunkt reaktionslos hinnehmen würde und ihn mittelfristig der NATO überlassen würde. Auch wenn dies, wie es später hieß, damals nicht auf der Agenda stand? Schon seit Jahren gestalteten sich die Verhandlungen über den Flottenstützpunkt zunehmend schwieriger, so dass das DCFTA für Russland ein willkommener Anlass für eine Intervention zum „Schutz“seiner Schwarzmehrflotte war. Der Rest ist Geschichte: Als Konsequenz hat Russland die Krim (wieder) „einkassiert“und annektiert. Da dämmerte es Asselborn (17. März 2014), wie wichtig die Krim für Russland ist, und dass diese nicht mit Sanktionen zurückzuholen ist Am 17. April 2014 gab Putin zu Protokoll, dass er aus Angst, die Krim an die NATO zu verlieren, gehandelt habe.
Ohne die sicherheitspolitischen Klauseln des DCFTA wäre es womöglich nicht zur militärischen Eskalation im Donbass und auf der Krim gekommen und die brutale Invasion der Ukraine hätte womöglich vermieden werden können. Wir werden es nie wissen. Dennoch: Entweder hat Asselborn den Inhalt des Abkommens, für das er sich im Zuge des EURO-Maidan starkmachte, nicht gekannt, oder aber die fatalen Konsequenzen bewusst in Kauf genommen. Kaum anzunehmen, dass Lawrow ihn nie über diese Zusammenhänge aufgeklärt hat. Die damalige Reaktion Russlands auf der Krim war durchaus vorhersehbar gewesen, lief sie doch nach ähnlichem Muster ab, wie sechs Jahre vorher in der abtrünnigen Republik Abchasien. Auch damals sah Russland potenzielle Marinestützpunkte in Gefahr. Kurzerhand brachte es die abtrünnige georgische Provinz Abchasien unter seine Kontrolle und die Stützpunktoption war „gerettet“.
Auch im Donbass waren die Folgen des DCFTA verheerend: Die pro-russischen Demonstrationen mündeten in einen brutalen Bürgerkrieg. 14 000 junge Ukrainer und Russen und über 3 000 Zivilisten sind darin umgekommen; die Ukraine verlor ihre Schwerindustrie. Minimale Kenntnisse über die Region hätten schwerwiegende Fehleinschätzungen und ihre katastrophalen Folgen für die Menschen und die Region womöglich schon damals verhindern können.
Nach der Krim-Annexion und der de facto Besetzung des Donbass verhängte der Westen sogenannte „Sanktionen“. Diese blieben auch nach Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17, den Verstößen gegen das Minsker-Abkommen und dem Angriff auf das ukrainische Marineschiff bei Kertsch halbherzig und entsprechend wirkungslos Der Bürgerkrieg verschwand aus den Schlagzeilen, die Medien vergnügten sich mit Putin-Bashing. Die katastrophale Abhängigkeit des Wohlstands von Europa und der Welt von Energieträgern und einer Vielzahl von essenziellen mineralischen und landwirtschaftlichen Rohstoffen aus Russland wurde kaum thematisiert. Erst nach dem 24. Februar 2022 wurde ruchbar, dass die EU Putin jeden Tag mit einer Milliarde Euro alimentierte mit der dieser seine militärischen Abenteuer welt
weit finanzieren kann, (zum Vergleich: eine Milliarde seit Kriegsbeginn an die Ukraine; Stand 6. April 2022). Die Fähigkeit Russlands, Länder wie China, Indien, Indonesien, Ägypten, Serbien, die Türkei, weite Teile Afrikas und Gegner des Westens wie Iran, Syrien, Nordkorea auf seine Seite zu ziehen und damit Einfluss auf zahlreiche eingefrorene Konflikte zu gewinnen, wurde sträflich unterschätzt. Trotz schlechter Karten verharrte die NATO in einem desolaten Ausrüstungszustand.
15 verlorene Jahre
Dass Russland die Krim unter welchem Druck auch immer nicht wieder aufgeben würde, ist eine zu lange ignorierte Erkenntnis. Ernsthaften Verhandlungen, die dem Rechnung trügen, gab es deshalb nie. Acht Jahre war Europa in Handlungsstarre verfallen und ohne Exitstrategie. Statt in aussichtsloser Lage stur auf der Rückgabe der Krim zu bestehen, hätte die EU und die NATO kreative Ansätze entwickeln müssen. Etwa ihre sogenannten „Sanktionen“beenden, im Gegenzug für die Rückgabe von Abchasien (und Südossetien) an Georgien. Mit einem für Russland abgesicherten Sewastopol
verlören potenzielle Schwarzmeer-Marinestützpunkte in Abchasien ihre geopolitische und militärische Bedeutung. Chruschtschow hatte die Krim aus einer, bis heute unerklärlichen Laune und jenseits des Völkerrechtes, 1954 an die damalige Ukrainische Sowjetrepublik abgetreten. So gesehen gab es durchaus völkerrechtlichen Deutungsspielraum.
Russlands Forderung nach Sicherheitsgarantien und den schriftlichen Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wurde jahrelang ausgeblendet und tauchte erst in der westlichen Wahrnehmung auf, als russische Truppen eine unübersehbare Drohkulisse an der Ostgrenze der Ukraine aufbauten. Mit dem Argument, dass jedes Land das Recht habe, selbst zu entscheiden, welchem Bündnis es beitreten möchte, sollte der Ukraine zu gegebener Zeit der Weg in die NATO geebnet werden. Unausgesprochen blieb, dass doch wohl auch jedes Bündnis selbstständig entscheiden kann, wen es aufnimmt. Oder darf auch das Himalaya-Königreich Bhutan Mitglied der NATO werden, wenn es dies eines Morgens wünscht? ² ³
Eine Win-Win-Situation
Die NATO hätte ohne Gesichtsverlust das Ansinnen der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft verbindlich ablehnen und gleichzeitig seine wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen können, ganz im Sinne einer friedlichen Pufferfunktion des Landes. Mit einem 40-mal höheren Bruttoinlandsprodukt des Westens im Vergleich zu Russland wäre ein wirtschaftlicher Showdown in einem Pufferstaat Ukraine schneller entschieden, als auf dem Schlachtfeld. Und: lieber ein Verzicht auf NATO-Osterweiterung, als die derzeitige russische „Westerweiterung“. Für das Armenhaus zwischen Ost und West, für die EU und Russland wäre ein solcher Kurs eine WinWin-Situation gewesen, vor allem aber für die Menschen in der Ukraine. ¹