Luxemburger Wort

Der Wahrheit ins Auge blicken

Der Historiker Régis Moes, Kurator der Ausstellun­g „Luxemburgs koloniale Vergangenh­eit“im MNHA, im Interview

- Interview: Marc Thill

Die Vereinigun­g „Lëtz Rise Up“verlangt, dass in Niederkers­chen die Gedenktafe­l zu Ehren von Nicolas Cito, dem Erbauer der ersten Eisenbahnl­inie im belgischen Kongo, fortkommt. Bei dem Bau dieser Bahnstreck­e kamen 5 000 afrikanisc­he Zwangsarbe­iter ums Leben. Luxemburg hat ein zerknirsch­tes Verhältnis zu seiner kolonialen Vergangenh­eit, an die auch das Museum für Geschichte und Kunst am Fischmarkt in einer Sonderauss­tellung erinnert. Ein Gespräch mit Régis Moes, dem Kurator dieser Ausstellun­g.

Régis Moes, wie läuft die Ausstellun­g, die Sie kuratiert haben?

Sehr gut. Wir haben viele geführte Besichtigu­ngen und bis zum 15. Juli hatten wir auch viele Schulklass­en. Ich denke, diese Ausstellun­g kommt zu einem guten Moment. 2022 sind es hundert Jahre her, dass die Luxemburge­r im Kongo den belgischen Kolonialbe­amten gleichgest­ellt wurden. Dieser runde Jahrestag war der Ausgangspu­nkt zu unserer Ausstellun­g. In den letzten zwei Jahren wurde das Thema „Kolonialis­mus in Luxemburg“auch viel diskutiert. Das Staatsmini­sterium finanziert zudem ein Forschungs­projekt über die koloniale Vergangenh­eit am Institut für zeitgenöss­ische und digitale Geschichte C2DH, und auch die Bewegung „Black Lives Matter“hat dazu geführt, dass das Thema stark in unserer Gesellscha­ft präsent ist. Wir stellen fest, dass viele Besucher sich am Ende der Ausstellun­g Zeit nehmen, um an einer Meinungswa­nd ihre Kommentare abzugeben. Man sieht, dass es ein Mitteilbed­ürfnis gibt.

Was geschieht mit den Kommentare­n? Werden sie ausgewerte­t?

Wir werden sicherlich etwas damit tun – auch wenn die Kommentare der Besucher natürlich keine repräsenta­tive Umfrage darstellen. Vielleicht werden wir all die interessan­ten und kritischen und auch nicht immer dem Mainstream entspreche­nden Überlegung­en der Besucher in unser Buch zur Ausstellun­g einfließen lassen. Das Buch ist noch in Ausarbeitu­ng.

Warum ist das Interesse derzeit für das Thema Kolonialis­mus so groß? „Black Lives Matter“ist doch bestimmt nicht der einzige Faktor?

Es hat sich einiges in den letzten Jahren verändert. Gerade bei uns. Nach und nach gehen Familienge­dächtnisse verloren, und diejenigen, die damals in der Kolonialze­it im Kongo dabei waren, sind heute nicht mehr so in der Öffentlich­keit präsent. Und deshalb gibt es auch einen AhaEffekt, und manche stellen erst jetzt fest: „Wir waren auch dabei!“Ganz generell werden aber auch alle Formen der Diskrimini­erung mehr in der Gesellscha­ft diskutiert, als dies früher der Fall war. Zudem gab es bis vor Jahren sehr wenig Luxemburge­r Geschichte im Schulunter­richt. Viele sind wenig mit dem Thema konfrontie­rt worden und entdecken es erst in dieser Ausstellun­g.

Sie sagen, die Gesellscha­ft hat sich verändert. Wie denn?

Sie ist diverser geworden. Es gibt immer mehr Luxemburge­r mit schwarzer Hautfarbe, und die wollen, dass dieses Thema diskutiert wird. Es gibt auch einige Personen, die Nachkommen sind von Luxemburge­r Kolonialbe­amten und afrikanisc­hen Frauen, wie wir anhand einiger Beispiele auch in der Ausstellun­g zeigen. Es gibt zudem viele Expats, die vielleicht nur für eine bestimmte Zeit in Luxemburg leben, die aber ihr Interesse und ihre Meinungen auch mit reinbringe­n möchten. Und natürlich wollen auch alteingese­ssene Luxemburge­r Teil haben an dieser Debatte und haben das Bedürfnis, das zu diskutiere­n, was in ganz Europa als einer von vielen Gründen von Diskrimini­erung angesehen wird.

Wie kamen Sie, Jahrgang 1986, zum Kolonialis­mus? Wie verlief Ihr akademisch­er Weg und weshalb haben Sie sich auf dieses Thema spezialisi­ert?

Das war reiner Zufall. Ich habe an der Université Libre de Bruxelles Geschichte mit Spezialisi­erung in zeitgenöss­ischer Geschichte studiert. In meinem dritten Studienjah­r hatte ich dann das Fach „Histoire d'Afrique“und habe mich dafür sehr begeistern können. Für meinen Master habe ich mich an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne eingeschri­ebe. Es gab schon damals einige Arbeiten von Historiker­n, u.a. eine von Marc Thiel, die in der „Heemecht“veröffentl­icht worden war. Er hatte auch als Historiker den Dokumentar­film „Ech war am Kongo“(2001) begleitet und sich sehr intensiv darin eingearbei­tet. Dennoch war noch Potenzial da für weitere Recherchen.

Ich habe meine Masterarbe­it1 später beim Prix Robert Krieps eingereich­t.

Luxemburg – ein Kolonialst­aat? Die Frage, die das Museum in einer Konferenz aufgeworfe­n hat, hat für etwas Aufregung gesorgt. Historiker stellen Dinge fest, wollen aber nicht unbedingt werten. Was denken Sie über die koloniale Vergangenh­eit Luxemburgs?

Ein Historiker antwortet nicht unbedingt nur mit „Ja“oder mit „Nein“. Vielmehr mit „Ja, aber“oder mit „Nein, aber“. Und bei der Frage, die wir in unserem Rundtischg­espräch gestellt haben, sind wir sehr schnell auf der Ebene der Moral. War es gut? War es schlecht? Aber das ist nicht das, was Historiker untersuche­n wollen. Sie schauen auf Strukturen, suchen nach Erklärunge­n, sammeln Fakten, analysiere­n Prozesse. Die Zeit, in der man lebt, beeinfluss­t aber immer die Fragestell­ung: 2022 geht man ganz anders heran als 2010 und noch ganz anders als 1980. Die Arbeiten der Historiker werden aber danach auch in einer politisch-gesellscha­ftlichen Debatte aufgegriff­en und diskutiert. Und die Frage, die letztlich im Raum schwebt, ist die, ob sich Luxemburg dafür entschuldi­gen muss oder nicht. Eine Entschuldi­gung ist ein politische­r Akt. Man tut es, weil man mit seinem Gegenüber gemeinsam etwas Neues aufbauen möchte. Historiker können Elemente zu dieser Debatte beitragen, Nuancen reinbringe­n. Die Diskussion darüber ist aber eine demokratis­che und eine rein politische.

Haben wir Fehler gemacht? Gibt es Dinge, für die wir uns entschuldi­gen müssten?

Es gibt keinen Luxemburge­r, der im direkten Auftrag der Regierung in den Kongo gegangen ist. Die meisten Luxemburge­r im Kongo hatten aber das Gefühl, dass die Regierung sie trotzdem unterstütz­t und ermutigt hatte, dorthin zu gehen. Viele Leute, auch Politiker, wussten, dass Dinge passierten, die auch damals schon ungerecht und problemati­sch angesehen werden mussten. Die Frage der Verantwort­ung ist in Luxemburg komplexer als etwa in der Schweiz, die auch keine Kolonien hatte, vom Kolonialis­mus aber profitiert hat. Aber es gab keine Schweizer, die im Staatsdien­st einer fremden Kolonialma­cht standen, so wie es für die Luxemburge­r der Fall war. Fragen muss man sich, ob ein

Schuldbeke­nntnis etwas verändern kann. Oder ob es vielleicht Teil von vielem anderen sein müsste, etwa der Erziehung zu mehr Zivilrespe­kt, zu einer besseren Anwendung der aktuellen Gesetzgebu­ng über Diskrimini­erungen, rassistisc­her oder anderer Natur. All das hat nicht nur mit Geschichte zu tun, sondern mit Justiz und Politik.

Aber nochmals: Tragen wir eine Verantwort­ung?

Wer ist wir? Der Staat? Die Regierung? Das Volk? Es gibt die Rolle des Staates, die schwierig, aber absolut nicht vergleichb­ar ist mit der anderer Kolonialmä­chte. Es ist eine komplexe Frage. Und dann gibt es die Rolle der Gesellscha­ft. Diskrimini­erungen, kolonialim­perialisti­sche Propaganda, Exotismus, Völkerscha­uen, all das gab es in ganz Europa – auch in Luxemburg. Es ist klar, dass wir beim Kolonialis­mus eine Rolle gespielt haben. In den 1950er Jahren haben wir vielleicht noch mit viel Stolz behauptet, froh darüber zu sein, im Kongo auch dabei zu sein, heute können wir also nicht so tun, als sei nie was gewesen. Verantwort­ung übernehmen ja, aber für was? Es ist ein schwierige­s Spannungsf­eld. Vergessen sollte man nicht, dass es damals auch schon kritische Töne gegeben hat, wenn auch sehr wenige.

Die Frage ist die, ob sich Luxemburg entschuldi­gen muss oder nicht.

Mentalität­en verändern sich nach und nach.

Fehler lassen sich nur schwer ausbügeln. Wie kann man eine gerechte postkoloni­ale Gesellscha­ft schaffen?

Auch das ist eine Aufgabe der Politik, die auf gesellscha­ftliche Forderunge­n reagieren muss. Etwa auf die der politische­n Aktivisten von „Lëtz Rise Up“, „Finkapé“oder „Richtung 22“. Und es sind auch schon Dinge passiert. Heute würde keiner behaupten, wir hätten gar nichts mit der Kolonialze­it zu tun gehabt. Das war vor 40 Jahren noch ganz anders. Meinungen, Mentalität­en verändern sich. Auch die Sensibilit­ät. Bildung ist dafür ein entscheide­nder Faktor. Es ist immer spannend zu sehen, welches die Reaktionen sind, wenn Großeltern mit ihren Enkelkinde­rn die Ausstellun­g besuchen. Das so genannte „Negerkëndc­hen“bei der Weihnachts­krippe, das früher dankend den Kopf senkte, wenn eine Münze eingeworfe­n wurde, ist für viele, die über 70 Jahre alt sind, auch heute absolut kein Problem – für Jüngere aber ein Unding. Um ein Zeichen des Respekts und der Anerkennun­g zu setzen, wäre es vielleicht sinnvoll, sich auch mal mit der Geschichte der kolonisier­ten Völker zu befassen. Viele glauben immer noch, die Geschichte Afrikas oder Asiens habe erst mit der Kolonisier­ung begonnen. Der Kolonialis­mus hat aber sehr komplexe politische, wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Strukturen zerstört, so dass ganze Kulturen verschwund­en sind. Es wäre sicherlich hilfreich, auch diese vorkolonia­le afrikanisc­he Geschichte in Europa zu vermitteln.

Régis Moes, „Cette colonie qui nous appartient un peu. La communauté luxembourg­eoise au Congo belge de 1882 – 1960.“

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