Wer die Nachtigall stört
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„Ich will nicht, dass der mit mir umgeht wie mit meinem Pa, aus dem er ’nen Linkshänder machen wollte …“
Richter Taylor kratzte sich in seinem dichten weißen Haar. Offensichtlich hatte er noch nie einem derartigen Problem gegenübergestanden. „Wie alt sind Sie?“, fragte er.
„Neunzehneinhalb.“
Der Richter räusperte sich und versuchte erfolglos, beruhigende Töne anzuschlagen. „Mr. Finch denkt gar nicht daran, Ihnen Angst zu machen“, knurrte er. „Und wenn er’s täte, würde ich ihn daran hindern. Deswegen bin ich ja hier. Sie sind ein großes Mädchen, also setzen Sie sich schön gerade hin und erzählen Sie dem … erzählen Sie uns, was Ihnen geschehen ist. Das können Sie doch, nicht wahr?“
„Ist die denn bei Verstand?“, flüsterte ich Jem zu.
Jem blickte angestrengt auf den Zeugenstand hinunter. „Kann ich noch nicht sagen. Jedenfalls hat sie genügend Verstand, um den Richter weich zu stimmen. Aber vielleicht ist sie bloß … ach, ich weiß nicht.“
Mayella hatte sich beruhigt. Sie warf einen letzten angstvollen Blick auf Atticus und wandte sich Mr. Gilmer zu. „Ja, Sir, ich hab auf der Veranda gesessen, und da … da ist er vorbeigekommen, und … und im Hof war doch die alte Chiffarobe, die Pa für Feuerholz reingebracht hatte. Die sollte ich zerhacken, während Pa im Wald war, aber ich hab mich an dem Tag so schlecht gefühlt, und da ist er vorbeigekommen …“
„Wer ist ,er‘?“
Mayella deutete auf Tom Robinson.
„Ich muss Sie bitten, sich etwas genauer auszudrücken“, sagte Mr. Gilmer. „Der Protokollführer kann nicht gut Ihre Handbewegungen niederschreiben.“
„Der da drüben, der Robinson.“„Und was geschah dann?“
„Ich hab gesagt, komm her, Nigger, und hack mir die Chiffarobe zusammen, du kriegst dafür fünf Cent. Für den wäre das weiter keine Mühe gewesen, für den nicht. Na, und er kommt rein in den Hof, und ich gehe ins Haus und hole das Geld, und wie ich mich umdrehe, steht er da, und ehe ich weiß, wie mir wird, ist er auf mich losgegangen. Er hat mich am Hals gepackt und geflucht und dreckiges Zeug geredet … Ich hab gebrüllt und mich gewehrt, aber er hat mich festgehalten und einfach drauflosgeschlagen …“
Mr. Gilmer wartete, bis sich Mayella wieder gefasst hatte. Aus ihrem Taschentuch war, während sie sprach, ein schweißfeuchtes Seil geworden, das sie nun aufdrehte, um sich das Gesicht abzuwischen. Der Stoff war von ihren heißen Händen völlig zerknittert. Sie blickte Mr. Gilmer unsicher an, und als er schwieg, fuhr sie fort:
„… und dann hat er mich auf den Boden geschmissen und mich gewürgt und sich an mir vergangen.“
„Haben Sie geschrien?“, fragte Mr. Gilmer. „Haben Sie geschrien und sich gewehrt?“
„Und ob! Ich hab gekratzt und gestrampelt und gebrüllt, so laut ich nur konnte.“
„Und was geschah dann?“„Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß bloß, dass plötzlich Pa im Zimmer war und vor mir gestanden und immerzu geschrien hat: ,Wer hat’s getan, wer hat’s getan?‘ Da bin ich so was wie ohnmächtig geworden, und dann weiß ich erst wieder, dass Mr. Tate mich vom Boden hochgezogen und zum Wasserkübel geführt hat.“
Offenbar hatte diese Schilderung das Selbstvertrauen der Zeugin gestärkt, aber bei Mayella äußerte sich das nicht, wie bei ihrem Vater, in Überheblichkeit. Sie hatte etwas Verschlagenes an sich – ich musste an eine Katze mit lauernden Augen und zuckendem Schwanz denken.
„Sie haben sich also gewehrt, sosehr Sie nur konnten? Mit Zähnen und Klauen?“, fragte Mr. Gilmer.
„Ganz bestimmt“, sagte Mayella wie ein Echo ihres Vaters.
„Sind Sie sicher, dass er sich wirklich an Ihnen vergangen hat?“
Mayellas Gesicht verzerrte sich, und ich befürchtete, sie würde wieder in Tränen ausbrechen. Aber nein – sie antwortete: „Er hat getan, worauf er aus war.“
Mr. Gilmer lenkte die Aufmerksamkeit auf die Hitze, indem er sich die Stirn mit der Hand abwischte. „Das ist vorläufig alles“, sagte er freundlich. „Aber bleiben Sie sitzen, denn der große, böse Mr. Finch wird Sie wohl auch noch einiges fragen wollen.“
„Ich bitte den Staatsanwalt, die Zeugin nicht durch derartige Bemerkungen gegen den Verteidiger zu beeinflussen“, mischte sich Richter Taylor ein. „Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.“
Atticus grinste. Er erhob sich, doch statt zum Zeugenstand zu gehen, öffnete er sein Jackett, hakte die Daumen in die Weste und durchquerte langsam den Raum. An einem der Fenster blieb er stehen und blickte hinaus. Was er sah, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren, denn er machte kehrt und schlenderte zum Zeugenstand zurück. Aus langjähriger Erfahrung wusste ich, dass er über irgendetwas Klarheit zu gewinnen suchte.
„Miss Mayella“, begann er lächelnd, „vorläufig habe ich nicht die Absicht, Ihnen Angst zu machen, vorläufig nicht. Zuerst wollen wir mal miteinander bekannt werden. Wie alt sind Sie?“
„Hab doch gesagt, dass ich neunzehn bin. Hab’s dem da drüben gesagt.“Mayella machte eine ärgerliche Kopfbewegung zu Richter Taylor hin.
„Ach ja, richtig, Ma’am. Sie müssen etwas nachsichtig mit mir sein, Miss Mayella. Ich werde alt, und mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher. Vielleicht werde ich Ihnen noch andere Fragen stellen, die Sie bereits beantwortet haben. Aber Sie werden mir trotzdem Auskunft geben, nicht wahr? Gut.“
Nichts in Mayellas Gesichtsausdruck rechtfertigte die Annahme, dass Atticus ihrer bereitwilligen Unterstützung sicher sein konnte. Sie warf ihm einen zornigen Blick zu.
„Ihnen sag ich kein Wort, solange Sie mich veräppeln“, fauchte sie.
„Wie bitte?“, fragte Atticus überrascht.
„Solange Sie sich über mich lustig machen.“
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