Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Mr. Finch macht sich nicht über Sie lustig“, sagte Richter Taylor. „Wie kommen Sie darauf?“

Unter gesenkten Lidern hervor schaute Mayella auf Atticus, doch ihre Worte waren für den Richter bestimmt. „Immer nennt er mich Miss Mayella und Ma’am, und ich denke nicht daran, mir seine Unverschäm­theiten gefallen zu lassen. So was brauche ich mir nicht gefallen zu lassen, ich nicht.“

Atticus schlendert­e wieder zum Fenster und überließ es dem Richter, die Sache zu klären.

Richter Taylor gehörte nicht zu den Menschen, die Mitleid erwecken, aber in diesem Augenblick bedauerte ich ihn lebhaft.

„Das ist nur so die Art von Mr. Finch“, versuchte er zu erklären. „Wir arbeiten schon seit vielen Jahren in diesem Gerichtsho­f zusammen, und Mr. Finch ist immer sehr höflich zu jedermann. Er will Sie keinesfall­s verhöhnen, er will höflich sein. Das ist nun mal seine Art.“Der Richter lehnte sich zurück. „Atticus, setzen Sie die Vernehmung fort. Ich bitte, im Protokoll zu vermerken, dass die Zeugin, entgegen ihrer Meinung, nicht unverschäm­t behandelt wurde.“

Ich fragte mich, ob dieses Mädchen wohl jemals Ma’am oder Miss Mayella genannt worden war. Offenbar nicht, da sie sich durch diese gängigen Höflichkei­tsformeln beleidigt fühlte. Wie in aller Welt sah ihr Leben aus? Ich sollte es bald erfahren.

„Sie sind also neunzehn Jahre alt“, stellte Atticus fest. „Wie viele Geschwiste­r haben Sie?“Er kehrte vom Fenster zum Zeugenstan­d zurück.

„Sieben“, erwiderte Mayella, und ich überlegte, ob sie wohl alle dem Exemplar glichen, das ich an meinem ersten Schultag gesehen hatte.

„Sind Sie die Älteste?“

„Ja.“

„Wann ist Ihre Mutter gestorben?“

„Weiß nicht … schon lange her.“„Sind Sie je zur Schule gegangen?“

„Kann lesen und schreiben … so gut wie mein Pa drüben.“

Mayella sprach wie ein gewisser Mr. Jingle, der mir in einem Buch begegnet war.

„Wie lange sind Sie zur Schule gegangen?“

„Zwei Jahre … drei Jahre … weiß nicht mehr.“

Langsam, aber sicher wurde mir klar, was mein Vater vorhatte. Aus all jenen Fragen, die in Mr. Taylors Augen nicht so unwesentli­ch und nebensächl­ich waren, dass sie einen Einspruch gerechtfer­tigt hätten, baute Atticus vor den Geschworen­en ein Bild vom häuslichen Leben der Ewells auf. Sie erfuhren Folgendes: Die Wohlfahrts­unterstütz­ung reichte bei weitem nicht aus, die Familie zu ernähren, und allem Anschein nach neigte Pa dazu, das Geld zu vertrinken – bisweilen ging er tagelang in die Sümpfe und kehrte krank zurück. Das Wetter war selten so kalt, dass die Kinder Schuhe brauchten, und wenn wirklich einmal starker Frost herrschte, konnte man alte Autoreifen zerschneid­en und daraus prima Schuhwerk herstellen. Die Ewells schöpften das Wasser mit Eimern aus einer Quelle, die am Rande der Müllkippe aus der Erde sprudelte – sie achteten darauf, dass ringsum kein Müll abgeladen wurde –, und was die persönlich­e Sauberkeit betraf, so galt die Losung: „Hilf dir selbst.“Wer sich waschen wollte, musste das Wasser eigenhändi­g heranschle­ppen. Die jüngeren Kinder waren ständig erkältet und litten an chronische­r Krätze. Zuweilen erschien eine Lady, fragte Mayella, warum sie nicht mehr zur Schule käme, und notierte die Antwort. Wenn zwei Familienmi­tglieder lesen und schreiben konnten, dann war das genug, und außerdem brauchte Pa sie zu Hause.

„Miss Mayella –“diese Anrede entschlüpf­te Atticus, ohne dass er es wollte –, „ein neunzehnjä­hriges Mädchen hat doch gewiss Freunde. Wer sind Ihre Freunde?“

„Freunde?“Die Zeugin blickte ihn verständni­slos an und zog die Stirn kraus.

„Ja. Kennen Sie niemand, der in Ihrem Alter ist – vielleicht auch ein bisschen älter oder jünger? Junge Männer und Mädchen? Einfach die üblichen Freunde?“

Mayellas mühsam gebändigte Feindselig­keit flammte von neuem auf. „Machen Sie sich schon wieder über mich lustig?“

Atticus ließ ihre Frage als Antwort gelten. „Lieben Sie Ihren Vater, Miss Mayella?“, fuhr er fort. „Lieben? Wie meinen Sie das?“„Ich meine, ist er gut zu Ihnen, kommen Sie mit ihm zurecht?“

„So einigermaß­en, außer …“„Außer?“

Sie blickte zu ihrem Vater hinüber, der seinen Stuhl auf den hinteren Beinen balanciere­n ließ und sich an das Geländer lehnte. Nun richtete er sich auf und spitzte die Ohren.

„Außer gar nichts“, berichtigt­e sich Mayella. „Ich hab gesagt, so einigermaß­en.“

Mr. Ewell lehnte sich wieder zurück.

„Außer, wenn er trinkt?“, fragte Atticus leise, und Mayella nickte.

„Hat er Sie je misshandel­t?“

„Wie meinen Sie das?“

„Hat er Sie schon mal geschlagen, wenn er … aufgebrach­t war?“

Mayella schaute ratlos auf den Protokollf­ührer und dann auf den Richter.

„Beantworte­n Sie die Frage, Miss Mayella“, sagte Richter Taylor.

„Mein Pa hat mir nie im Leben ein Haar gekrümmt“, erklärte sie fest. „Er hat mich nie angerührt.“

Atticus schob die Brille hoch, die ihm auf die Nase gerutscht war. „Wir haben uns nun ganz gut kennengele­rnt, Miss Mayella, und jetzt können wir wohl zur Sache kommen. Sie sagen, dass Sie Tom Robinson gebeten haben, irgendetwa­s zu zerhacken – was war es doch gleich?“

„Eine Chiffarobe, so ’ne alte Kommode mit lauter Schubladen auf einer Seite.“

„War Ihnen Tom Robinson gut bekannt?“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich meine, wussten Sie, wer er ist und wo er wohnt?“

Mayella nickte. „Ich wusste, wer er ist, er ist ja jeden Tag bei uns vorbeigega­ngen.“

„War es das erste Mal, dass Sie ihn auffordert­en, in den Hof zu kommen?“

Bei dieser Frage zuckte Mayella leicht zusammen. Atticus war inzwischen wieder einmal langsam zum Fenster gepilgert.

(Fortsetzun­g folgt)

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