Das Regelwerk der Bürgernähe
Nancy verfügt über seine eigene Verfassung – diese trägt die Handschrift von 130 Bürgern
„Wer ein Haus bauen lassen möchte, wendet sich an einen Architekten. Dieser besitzt die dafür notwendige Expertise, wird in dem zukünftigen Anwesen allerdings nicht leben. Sie müssen also dem Architekten ihre individuellen Bedürfnisse kundtun und kooperieren, um gemeinsam das perfekte Haus zu bauen. Demokratie funktioniert so ähnlich. Politik muss die Bedürfnisse der Bürger in ihren Gedankengängen miteinbeziehen“– die Analogie ist schlicht, aber treffend.
Der Treffpunkt, an dem Eric Monnay das „Luxemburger Wort“zum gemeinsamen Gespräch in Nancy empfängt, ist ebenso simpel und unkompliziert. Das im östlichen Stadtteil Rives de Meurthe gelegene Wohnheim Robert Chevardé am Rande des Stadtzentrums steht im Kontrast zum prunkvollen Palast Stanislas, in dem sich das heutige Rathaus der lothringischen Metropole befindet – ein Sinnbild der Spaltung zwischen der politischen Elite und den gewöhnlichen Bürgern. Und doch – im Wohnheim Robert Chevardé schlägt das Herz der Demokratie Nancys.
Bei der Ankunft im Wohnheim sitzen im begrünten Innenhof rund um einen abgenutzten Plastikgartentisch, auf dem Papierbecher und Süßwaren liebevoll platziert wurden, vier gut gelaunte Damen: Christiane, Farida, Virginie und die von den Kindern der Umgebung liebevoll genannte „Mami“-Manu. Sie alle sind Mitglied im Atelier de Vie de Quartier (AVQ) des Stadtteils Rives de Meurthe. Der bereits erwähnte Eric Monnay leitet mit seiner Kollegin Sophie Barth den für den Stadtteil zuständigen „Comité d'animation“.
„Wir sind Vermittler in unserem Stadtteil. In einer Welt, in der jeder sich vor dem anderen fürchtet, wollen wir die Menschen versammeln und gemeinsame Augenblicke schaffen, damit sie sich näher kommen können“, bekundet die pensionierte Geschäftsfrau Véronique. Sankt-Nikolaus, Europatag, Tag der Nachbarschaft – zu diesem Ziel übernehmen Eric und seine Mannschaft die Organisation diverser Festlichkeiten in ihrem Stadtteil. Jeder ist willkommen, daran mitzuwirken, wobei im „Comité d'animations“bereits zwölf auf direktem Wege gewählte freiwillige Bürger an der Organisation beteiligt sind. Menschen zusammenzubringen, sei dennoch keine leichte Aufgabe, bestätigt Eric:
„Alle klassifizieren gerne: junge Menschen sind aufgedreht, die Alten unternehmen nichts, der Vollzeit-Beschäftigte hat nie Zeit – es braucht solche gemeinsamen Momente, die wir in unserem Atelier kreieren, damit die Menschen sich
Annette Mathieu ist Beauftragte für demokratische Methoden und die leitende Kraft hinter der Einberufung der Bürgerversammlung.
wieder einander nähern.“So verhalte es sich auch mit der Demokratie. „Die Analogie mit dem Architekten will sagen, dass wir wieder gemeinsam Entscheidungen treffen müssen. Kein Mensch dieser Welt besitzt alle Kompetenzen, um allein über alles zu entscheiden – auch nicht der Präsident.“
Auf dieser Vorstellung basierend wurde die erste Bürgerversammlung der Stadt Nancy 2020 einberufen und eine Neuordnung der Bezirksmannschaften der Stadt angepeilt, durch welche die Ateliers de Vie de Quartier ins Leben gerufen wurden. Den Bürgern wurde dadurch mehr Handlungsspielraum und Selbstbestimmung gegeben, um sich an der Gestaltung des Lebens in ihren Stadtteilen zu beteiligen – und damit auch mehr Mitspracherecht bei der Anwendung der finanziellen Ressourcen der Stadt.
Die erste Stadtverfassung von Bürgern geschrieben
Den Gedankengang, dass Bürger nicht nur mitsprechen, sondern mitgestalten sollen, trug Annette Mathieu bereits 2019 an ihre politische Gruppierung NEC heran, als sich die heutige Beauftrage für demokratische Methoden der Stadt Nancy dafür starkmachte, die Gründung einer Bürgerversammlung in das Wahlprogramm der heutigen Stadtregierung mit dem Partie Socialiste (PS) aufzunehmen. „Wir wussten bereits damals, dass Nancy nicht weiter ohne Bürgerbeteiligung
Die Mehrheit hat durchgehalten und die Legitimität der Abstimmung blieb dadurch gewahrt. Annette Mathieu, Beauftragte für demokratische Methoden von Nancy
auskommen könnte“, beschreibt Mathieu die Genese ihres partizipativen Vorhabens.
Ziel dieser ersten Bürgerversammlung sollte es sein, eine Stadtverfassung zu redigieren, deren Gültigkeit über die gesamte Dauer des aktuellen Mandats der Stadtregierung aufrechterhalten werden sollte. „Schaut man sich die Geschichte der Stadt an, so wurden bis dato die Bürger noch nie auf eine solche Art und Weise miteinbezogen. Demokratie bedeutet für mich aber die Partizipation aller. Es braucht politische Inklusion“, so Mathieu.
4 000 auf den Wahllisten der Stadt eingetragene Bürgerinnen und Bürger wurden 2020 ausgelost und dazu berufen, sich an der ersten Bürgerversammlung zu beteiligen. Bei einem zusätzlichen Aufruf nach Freiwilligen meldeten sich 3 000 Menschen, um Teil des Projektes zu sein. Von den rund 400 Menschen, die sich zurückgemeldeten, loste die Stadt eine repräsentative Schnittmenge von 130 Mitgliedern aus. Alter, Beruf, Bildungshintergrund – Diversität stand bei der Auswahl der Teilnehmer im Mittelpunkt.
Ab September 2020 waren über fast neun Wochen verteilt acht Sitzungen notwendig, im Rahmen derer Teilnehmer nebst der Anhörung diverser Experten die Gelegenheit bekamen, sich in Kleingruppen zu den einzelnen Kapiteln der Stadtverfassung zu äußern und ihre Empfehlungen einfließen zu lassen. Nach Abstimmung der einzelnen Kapitel wurde die Verfassung am 19. April 2021 mit 93 Prozent Zustimmung innerhalb der
Bürgerversammlung angenommen und dem Gemeinderat der Text vorgelegt, dem grünes Licht gegeben wurde – dabei schrieb Nancy Demokratiegeschichte.
Bei einem Wettbewerb, das vom Netzwerk „décider ensemble“jährlich veranstaltet wird und die erfolgreichsten Projekte zur Förderung partizipativer Demokratie auszeichnet, erreichte die Bürgerversammlung von 280 Teilnehmern sogar Platz acht.
Ein Budget wird allein den Bürgern gewidmet
Mit dem Ende der ersten und bisher einzigen Bürgerversammlung der Stadt, deren Wiederholung durch den Fortbestand der CoronaPandemie gestoppt wurde, begann erst die Einführung der in der Verfassung
verankerten partizipativen Instrumente zur Förderung der Bürgerbeteiligung. Unter den markantesten Neuerungen der Verfassung gehören das partizipative Budget, die Ateliers de Vie de Quartier, das Bürgerreferendum und die Bürgerversammlung als permanente Instanz zur Fortführung der Entwicklung partizipativer Prozesse.
Mit dem partizipativen Budget wird dem Bürger zehn Prozent des Budgets der Stadt zur Verfügung gestellt, um ihre Zukunftsvisionen für die Stadtgestaltung auf die Beine zu stellen. Jedes Jahr soll das Budget erneuert werden und ein weiterer Aufruf an die Bürger gestartet werden. 2021 widmete Nancy 800 000 Euro dem partizipativen Budget, 2022 eine Million – 2023 sollen es nun 1,5 Millionen werden.
„Die meisten Projekte handeln von Parkeinrichtungen, Spielplätzen für Kinder, Fahrradwegen und Stadtbegrünung“, zählt Mathieu die gängigsten Vorhaben der Bürger Nancys auf.
Nebst dem partizipativen Budget können sich Bürger durch ein „Référendum d'initiative locale“Gehör bei den politischen Verantwortlichen der Stadt verschaffen, wenn zehn Prozent der Wahlbeteiligten Nancys sich ihrem Vorhaben gesellen. Verpflichtend ist das Referendum nicht. Dem Bürgermeister wird in dem Fall freie Hand gelassen, ob dieser das Projekt der Bürger dem Votum des Gemeinderates unterzieht oder darauf verzichtet. Dieses Vorhaben gehört zu den Forderungen der „Gilets jaunes“, welche die Idee eines Bürgerreferendums in den letzten Jahren popularisierten.
Nicht alles verlief nach Plan
Annette Mathieu rühmt zwar den partizipativen Ansatz der Bürgerversammlung, bemängelt aber die Zustände, die dazu führten, dass eine Wiederholung der Versammlung verhindert wurde: „Aufgrund der Pandemie mussten die Sitzungen online stattfinden. Die Kommunikation zwischen den Teilnehmenden war dadurch etwas eingeschränkt, aber ich bin stolz darauf, dass wir den Prozess dennoch vollständig durchgezogen haben.“
30 Prozent der Teilnehmenden seien im Laufe der Bürgerversammlung abgesprungen, doch will Mathieu aufgrund dieser Statistik keine falsche Skepsis anklingen lassen: „70 Prozent Wahlbeteiligung ist immer noch sehr hoch. Es war nicht einfach für die Teilnehmer, nur online zu kommunizieren. Die Mehrheit hat durchgehalten und die Legitimität der Abstimmung blieb dadurch gewahrt.“
Es sei zudem bis dato noch nicht möglich gewesen, Teilnehmende nach ihren persönlichen Erfahrungen in der Bürgerversammlung zu befragen, doch solle dieses Vorgehen in zukünftigen Versammlungen angewendet werden. Darin wird die Arbeit der nächsten Versammlung bestehen, die zwischen November 2022 und Januar 2023 stattfinden wird – Bilanz ziehen und evaluieren, wie die Instrumente der Demokratie noch partizipativer gestaltet werden können.
„Wir müssen so weiter verfahren wie bisher, denn ich bin mir sicher, dass wir mit der Bürgerversammlung auf dem richtigen Weg sind“, schlussfolgert Mathieu aus den bisherigen Erfahrungen. Überzeugte Teilnehmende begegne man immer wieder in den Ateliers de Vie de Quartier. Inspiriert vom Elan des partizipativen Ansatzes der Stadt Nancy wollen sie den Alltag in ihrem Stadtteil mitgestalten und Augenblicke schaffen, die Menschen zusammenbringen.
Oder wie es die pensionierte Christiane von der AVQ Rives de Meurthe ausdrückt: „Demokratie bedeutet nicht nur, zusammen über Lösungen nachzudenken, sondern auch mit dem Herzen zu fühlen und das Zusammenleben zu fördern, indem wir das Miteinander in unseren Stadtteilen mehr wertschätzen.“