Wer die Nachtigall stört
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Kurz vor dem Ziel hatte er die Frage gestellt; nun schaute er hinaus und wartete auf die Antwort. Er konnte also Mayellas unwillkürliche Bewegung nicht gesehen haben, und doch schien mir, dass er genau Bescheid wusste. Er wandte sich um und hob die Augenbrauen.
„War es …“, begann er von neuem.
„Ja, das erste Mal.“
„Sie hatten ihn vorher nie aufgefordert, in den Hof zu kommen?“
Jetzt war sie vorbereitet. „Nein, nein, bestimmt nicht.“
„Ein Nein genügt“, sagte Atticus gelassen. „Hatten Sie ihn vorher schon mal gebeten, Ihnen irgendwie zu helfen?“
„Möglich wär’s“, gab Mayella zu. „Da liefen ja so viele Nigger rum.“
„Erinnern Sie sich an eine andere Gelegenheit?“
„Nein.“
„Schön. Nun zu dem, was geschehen ist. Sie sagten, dass Tom Robinson im Zimmer hinter Ihnen gestanden hat, als Sie sich umdrehten, nicht wahr?“
„Ja.“
„Sie sagten: ,Er hat mich am Hals gepackt und geflucht und dreckiges Zeug geredet …‘ Waren das Ihre Worte?“
„Ja.“
Das Gedächtnis meines Vaters ließ plötzlich nichts zu wünschen übrig. „Sie sagten: ,Er hat mich auf den Boden geschmissen und mich gewürgt und sich an mir vergangen …‘ Richtig?“
„Ja.“
„Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“
Die Zeugin zögerte.
„Nun, was das Würgen betrifft, scheinen Sie sich Ihrer Sache bedeutend sicherer zu sein. Denken Sie bitte genau nach. Sie haben sich die ganze Zeit gewehrt, nicht wahr? Sie haben gekratzt und gestrampelt und gebrüllt, so laut Sie nur konnten. Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“
Mayella schwieg. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich über irgendetwas klar werden wollte. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie bediene sich des Kunstgriffs von Mr. Tate und mir, einen imaginären Partner zu Hilfe zu rufen.
„Es ist eine einfache Frage, Miss Mayella. Ich wiederhole: Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“Atticus sprach nicht länger in gemütlichem Ton; seine Stimme klang nüchtern, trocken, professionell. „Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“
„Nein, ich weiß nicht, ob er mich geschlagen hat. Das heißt … doch, ich erinnere mich, er hat mich geschlagen.“
„War Ihr letzter Satz die Antwort?“
„Was? Ja, er hat mich … Ach, ich erinnere mich einfach nicht, ich erinnere mich einfach nicht … wo doch alles so schnell gegangen ist …“
Richter Taylor sah Mayella streng an. „Weinen Sie nicht, junge Frau …“, begann er, aber Atticus fiel ihm ins Wort: „Lassen Sie die Zeugin ruhig weinen, Richter. Wir haben alle Zeit der Welt.“
Mayella schnüffelte zornig und rief Atticus zu: „Ich antworte auf jede Frage … Denken Sie bloß nicht, dass Sie mich hier veräppeln können! Ich antworte auf jede Frage …“
„Fein“, sagte Atticus. „Es sind auch nur noch ein paar. Miss Mayella, um Sie nicht länger zu langweilen – Sie haben also gesagt, der Angeklagte hat Sie geschlagen, am Hals gepackt, gewürgt und sich an Ihnen vergangen. Ich möchte jeden Irrtum ausschließen und frage Sie daher, ob der Mann, der Sie vergewaltigt hat, hier anwesend ist.“
„Jawohl, da drüben sitzt er.“Atticus wandte sich dem Angeklagten zu. „Tom, stehen Sie auf. Lassen Sie sich von Miss Mayella genau betrachten. Ist das der Mann, Miss Mayella?“
Tom Robinsons mächtige Schultern spannten sich unter dem dünnen Hemd. Als er sich erhob und die rechte Hand auf die Stuhllehne stützte, wirkte er merkwürdig schief. Aber das lag nicht an seiner Haltung, sondern an dem linken Arm, der mindestens fünfundzwanzig Zentimeter kürzer war als der rechte und leblos herunterhing. Der Arm endete in einer kleinen, verschrumpelten Hand, und die war – das erkannte ich trotz der Entfernung – zu nichts zu gebrauchen.
„Scout“, flüsterte Jem. „Scout, sieh doch! Reverend, er ist ja verkrüppelt!“
Reverend Sykes beugte sich an Dill und mir vorbei und flüsterte Jem zu: „Tom ist als Junge mit dem Arm in eine Entkernungsmaschine gekommen. Auf Mr. Dolphus Raymonds Baumwollfeldern … Er wäre beinahe verblutet … Alle Muskeln wurden zerrissen …“
„Hat dieser Mann Sie vergewaltigt?“, hörten wir Atticus’ Stimme. „Ja, das hat er.“
Die nächste Frage bestand aus einem Wort. „Wie?“
Mayella wurde wütend. „Ich weiß nicht, wie, aber getan hat er’s … Ich sage doch, es ist alles so schnell gegangen, dass ich …“
„Wir wollen das einmal in aller
Ruhe überlegen“, begann Atticus, aber Mr. Gilmer unterbrach ihn mit einem Einspruch. Diesmal sagte er nichts von unwesentlich oder nebensächlich; er behauptete, Atticus versuche die Zeugin einzuschüchtern.
Richter Taylor lachte laut auf. „Ach, setzen Sie sich, Horace, er tut nichts dergleichen. Wenn hier jemand eingeschüchtert wird, dann höchstens Atticus durch die Zeugin.“
Richter Taylor lachte als Einziger im Saal. Selbst die Säuglinge waren still, so still, dass ich plötzlich befürchtete, sie seien alle an der Mutterbrust erstickt.
„Nun, Miss Mayella“, fuhr Atticus fort, „Sie haben bezeugt, dass der Angeklagte Sie gewürgt und geschlagen hat … Sie haben nicht gesagt, dass er Ihnen nachgeschlichen ist und Sie bewusstlos geschlagen hat, sondern nur, dass er hinter Ihnen stand, als Sie sich umdrehten …“Atticus war zum Verteidigertisch zurückgekehrt und bekräftigte seine Worte, indem er leicht mit den Knöcheln auf die Platte klopfte. „Wünschen Sie Ihrer Aussage irgendetwas hinzuzufügen?“
„Sie wollen, dass ich was sage, was nicht passiert ist?“„Im Gegenteil, Ma’am, ich möchte, dass Sie uns sagen, was passiert ist. Erzählen Sie bitte noch einmal, wie alles vor sich ging.“
(Fortsetzung folgt)