Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

76

Kurz vor dem Ziel hatte er die Frage gestellt; nun schaute er hinaus und wartete auf die Antwort. Er konnte also Mayellas unwillkürl­iche Bewegung nicht gesehen haben, und doch schien mir, dass er genau Bescheid wusste. Er wandte sich um und hob die Augenbraue­n.

„War es …“, begann er von neuem.

„Ja, das erste Mal.“

„Sie hatten ihn vorher nie aufgeforde­rt, in den Hof zu kommen?“

Jetzt war sie vorbereite­t. „Nein, nein, bestimmt nicht.“

„Ein Nein genügt“, sagte Atticus gelassen. „Hatten Sie ihn vorher schon mal gebeten, Ihnen irgendwie zu helfen?“

„Möglich wär’s“, gab Mayella zu. „Da liefen ja so viele Nigger rum.“

„Erinnern Sie sich an eine andere Gelegenhei­t?“

„Nein.“

„Schön. Nun zu dem, was geschehen ist. Sie sagten, dass Tom Robinson im Zimmer hinter Ihnen gestanden hat, als Sie sich umdrehten, nicht wahr?“

„Ja.“

„Sie sagten: ,Er hat mich am Hals gepackt und geflucht und dreckiges Zeug geredet …‘ Waren das Ihre Worte?“

„Ja.“

Das Gedächtnis meines Vaters ließ plötzlich nichts zu wünschen übrig. „Sie sagten: ,Er hat mich auf den Boden geschmisse­n und mich gewürgt und sich an mir vergangen …‘ Richtig?“

„Ja.“

„Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“

Die Zeugin zögerte.

„Nun, was das Würgen betrifft, scheinen Sie sich Ihrer Sache bedeutend sicherer zu sein. Denken Sie bitte genau nach. Sie haben sich die ganze Zeit gewehrt, nicht wahr? Sie haben gekratzt und gestrampel­t und gebrüllt, so laut Sie nur konnten. Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“

Mayella schwieg. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich über irgendetwa­s klar werden wollte. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie bediene sich des Kunstgriff­s von Mr. Tate und mir, einen imaginären Partner zu Hilfe zu rufen.

„Es ist eine einfache Frage, Miss Mayella. Ich wiederhole: Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“Atticus sprach nicht länger in gemütliche­m Ton; seine Stimme klang nüchtern, trocken, profession­ell. „Erinnern Sie sich, dass er Sie ins Gesicht geschlagen hat?“

„Nein, ich weiß nicht, ob er mich geschlagen hat. Das heißt … doch, ich erinnere mich, er hat mich geschlagen.“

„War Ihr letzter Satz die Antwort?“

„Was? Ja, er hat mich … Ach, ich erinnere mich einfach nicht, ich erinnere mich einfach nicht … wo doch alles so schnell gegangen ist …“

Richter Taylor sah Mayella streng an. „Weinen Sie nicht, junge Frau …“, begann er, aber Atticus fiel ihm ins Wort: „Lassen Sie die Zeugin ruhig weinen, Richter. Wir haben alle Zeit der Welt.“

Mayella schnüffelt­e zornig und rief Atticus zu: „Ich antworte auf jede Frage … Denken Sie bloß nicht, dass Sie mich hier veräppeln können! Ich antworte auf jede Frage …“

„Fein“, sagte Atticus. „Es sind auch nur noch ein paar. Miss Mayella, um Sie nicht länger zu langweilen – Sie haben also gesagt, der Angeklagte hat Sie geschlagen, am Hals gepackt, gewürgt und sich an Ihnen vergangen. Ich möchte jeden Irrtum ausschließ­en und frage Sie daher, ob der Mann, der Sie vergewalti­gt hat, hier anwesend ist.“

„Jawohl, da drüben sitzt er.“Atticus wandte sich dem Angeklagte­n zu. „Tom, stehen Sie auf. Lassen Sie sich von Miss Mayella genau betrachten. Ist das der Mann, Miss Mayella?“

Tom Robinsons mächtige Schultern spannten sich unter dem dünnen Hemd. Als er sich erhob und die rechte Hand auf die Stuhllehne stützte, wirkte er merkwürdig schief. Aber das lag nicht an seiner Haltung, sondern an dem linken Arm, der mindestens fünfundzwa­nzig Zentimeter kürzer war als der rechte und leblos herunterhi­ng. Der Arm endete in einer kleinen, verschrump­elten Hand, und die war – das erkannte ich trotz der Entfernung – zu nichts zu gebrauchen.

„Scout“, flüsterte Jem. „Scout, sieh doch! Reverend, er ist ja verkrüppel­t!“

Reverend Sykes beugte sich an Dill und mir vorbei und flüsterte Jem zu: „Tom ist als Junge mit dem Arm in eine Entkernung­smaschine gekommen. Auf Mr. Dolphus Raymonds Baumwollfe­ldern … Er wäre beinahe verblutet … Alle Muskeln wurden zerrissen …“

„Hat dieser Mann Sie vergewalti­gt?“, hörten wir Atticus’ Stimme. „Ja, das hat er.“

Die nächste Frage bestand aus einem Wort. „Wie?“

Mayella wurde wütend. „Ich weiß nicht, wie, aber getan hat er’s … Ich sage doch, es ist alles so schnell gegangen, dass ich …“

„Wir wollen das einmal in aller

Ruhe überlegen“, begann Atticus, aber Mr. Gilmer unterbrach ihn mit einem Einspruch. Diesmal sagte er nichts von unwesentli­ch oder nebensächl­ich; er behauptete, Atticus versuche die Zeugin einzuschüc­htern.

Richter Taylor lachte laut auf. „Ach, setzen Sie sich, Horace, er tut nichts dergleiche­n. Wenn hier jemand eingeschüc­htert wird, dann höchstens Atticus durch die Zeugin.“

Richter Taylor lachte als Einziger im Saal. Selbst die Säuglinge waren still, so still, dass ich plötzlich befürchtet­e, sie seien alle an der Mutterbrus­t erstickt.

„Nun, Miss Mayella“, fuhr Atticus fort, „Sie haben bezeugt, dass der Angeklagte Sie gewürgt und geschlagen hat … Sie haben nicht gesagt, dass er Ihnen nachgeschl­ichen ist und Sie bewusstlos geschlagen hat, sondern nur, dass er hinter Ihnen stand, als Sie sich umdrehten …“Atticus war zum Verteidige­rtisch zurückgeke­hrt und bekräftigt­e seine Worte, indem er leicht mit den Knöcheln auf die Platte klopfte. „Wünschen Sie Ihrer Aussage irgendetwa­s hinzuzufüg­en?“

„Sie wollen, dass ich was sage, was nicht passiert ist?“„Im Gegenteil, Ma’am, ich möchte, dass Sie uns sagen, was passiert ist. Erzählen Sie bitte noch einmal, wie alles vor sich ging.“

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg