Luxemburger Wort

Wie die EU unbemerkt bürgernah wird

„Konferenz zur Zukunft Europas“funktionie­rte besser als gedacht

- Von Diego Velazquez (Brüssel)

Die Kritik ist so alt wie die EU selbst: Die Europäisch­e Union sei ein Eliten-Projekt – Technokrat­en in Brüssel würden Regeln für weit entfernte Bürger schreiben, denen sie noch nie im Leben begegnet sind.

Das Bild der EU als Truppe von Lobbyisten und ungewählte­n Beamten, die ohne demokratis­ches Mandat über die Zukunft souveräner Nationen entscheide­n, wird nicht ohne Grund stets von prominente­n EU-Skeptikern wie Nigel Farage oder Marine Le Pen gehegt. „Das Demokratie­defizit der EU wird immer wieder angeprange­rt“, stellt auch Jeff Van Luijk fest, ehemaliger Mitarbeite­r im EU-Parlament und Gründer der luxemburgi­schen Beratungsf­irma für deliberati­ve Demokratie „PLNT“.

Dieses Demokratie­defizit entspricht tatsächlic­h einer Realität, die manchmal offen zum Vorschein kommt – etwa 2019, als Ursula von der Leyen zur Präsidenti­n der EU-Kommission ernannt wurde, obschon sie sich – anders als die Spitzenkan­didaten der europäisch­en Parteienfa­milien – nicht einmal annähernd am Wahlkampf für die Europawahl­en beteiligt hatte. „Von der Leyens Nominierun­g durch den Europäisch­en Rat galt als Schwächung des EU-Parlaments und Ausdruck einer demokratis­chen Rückentwic­klung“, sagte der EU-Demokratie-Experte Manuel Müller damals.

Ursula von der Leyen war sich dessen natürlich bewusst. Um diesen – durchaus legitimen – Kritiken den Wind aus den Segeln zu nehmen, schlug sie ein revolution­äres Experiment vor: Eine „Konferenz zur Zukunft Europas“, bei der ganz normale Bürger aus den 27 Mitgliedst­aaten zusammenko­mmen, um Reformidee­n für die Europäisch­e Union durchzudis­kutieren und danach vorzuschla­gen. Von der Leyen versprach demnach nicht weniger als deliberati­ve Demokratie auf EU-Ebene.

Gezerre unter EU-Institutio­nen

Wie die meisten Ideen aus dem Brüsseler Berlaymont-Gebäude musste sich auch die Konferenz zur Zukunft Europas gegen die Skepsis und die konservati­ven Reflexe aus dem Rat der EU, dem Gremium der 27 Mitgliedst­aaten, behaupten. Die Haltung der Mitgliedst­aaten – die von Gleichgült­igkeit bis hin zur offenen Abwehr reichte – schaffte es jedoch nicht, die Motivation der EU-Kommission – und vor allem des Europaparl­aments – auszubrems­en. Nach zähen Verhandlun­gen und Corona-bedingten Startschwi­erigkeiten war es am 9. Mai 2021, dem Europatag, so weit: Die Konferenz zur Zukunft Europas wurde feierlich im Straßburge­r Plenum des EUParlamen­ts eröffnet.

Dort sollten 108 nach dem Zufallspri­nzip ausgewählt­e Bürger aus den 27 Mitgliedst­aaten, die allerdings einer gewissen sozio-ökonomisch­en Diversität entspreche­n sollten, zusammen mit EU-Abgeordnet­en, nationalen Parlamenta­riern und Vertretern der EU-Kommission sowie des EU-Rats Reformvors­chläge ausarbeite­n. Dieses „Plenum“sollte wiederum Arbeiten aus themenspez­ifischen „Panels“aufgreifen, in denen jeweils 200 per Los ausgewählt­e Bürger in kleineren Arbeitsgru­ppen tätig waren.

„Am Anfang war ich ein bisschen skeptisch“, verrät Marion van Alphen, eine 67-jährige Luxemburge­rin mit niederländ­ischen Wurzeln, die im Großherzog­tum per Los für die Teilnahme gezogen wurde. „Ich dachte mir: Das kann nur chaotisch werden – jede Menge Leute aus 27 Mitgliedst­aaten, die aus so unterschie­dlichen Milieus kommen.“Der Startschus­s war auch etwas chaotisch, berichtet Marion van Alphen. „Ich wusste auch gar nicht, was von mir erwartet wurde, außer, dass ich nach Straßburg kommen sollte“.

Nach der ersten „Sitzung“in Straßburg, bei der vor allem Ideen kunterbunt gesammelt wurden, trifft sie dann auf ihre Arbeitsgru­ppe – ein älterer Kieferorth­opäde aus Deutschlan­d, ein italienisc­her Designer, ein Landwirt aus Dänemark, ein Student aus Kroatien, eine belgische Krankensch­wester … „In den verschiede­nen Arbeitsgru­ppen gab es von allem – von der Hausfrau bis hin zum Pfarrer. Und jeder diskutiert­e auf Augenhöhe“. Dann ging es los: Die Arbeitsgru­ppen wurden beauftragt, Reformidee­n in Sachen Klimaund Energiepol­itik auszuarbei­ten.

„Ich war zunehmend überzeugt von der Idee“, erzählt Marion van Alphen. Die luxemburgi­sche Pensionäri­n, die einst als Assistenti­n einer EU-Parlamenta­rierin und dann lange als Übersetzer­in für diverse EU-Institutio­nen gearbeitet hat, gibt an, dass sie zwar „mehr oder weniger weiß, wie die EU funktionie­rt“, allerdings „keineswegs eine Expertin in Umwelt- und Energiepol­itik“sei. Aber das war genau das, was gefragt war, so van Alphen weiter: „keine Experten, sondern interessie­rte Bürger“.

Alle im gleichen Boot

Ein anderes positives Element des Experiment­s sei sozialer Natur, meint van Aphen: „Menschen, die im Alltag marginalis­iert werden, verschafft­en sich hier Gehör und gewannen Selbstvert­rauen.“

„Wir saßen alle im gleichen Boot – Menschen mit Hochschula­bschluss,

Arbeitslos­e, Menschen ohne Abschluss – und jeder musste dem anderen zuhören und mit ihm zusammenar­beiten. Alle waren gleichbere­chtigt und lernten, miteinande­r umzugehen – das war eine großartige Erfahrung“, so die Teilnehmer­in weiter. „Es ist unfassbar, wie die Organisato­ren es schafften, 200 Bürger aus ganz Europa, samt Experten und Dolmetsche­r – teils Corona-bedingt vor ihren Bildschirm­en – zusammen an einem Bericht werkeln zu lassen, der immer konkreter wurde.“

„Es war beeindruck­end: 800 Menschen, die alle auf einmal sehen, dass sie Europäer mit ähnlichen Problemen sind und dann gemeinsam schauen, wie man diese lösen könnte“, schwärmt auch Jeff van Luijk.

Gerne verrät van Alphen, wie die Arbeitssit­zungen aussahen: „Der deutsche Kieferorth­opäde war von der Förderung des Wasserstof­fes überzeugt – also entschiede­n wir, einen Experten einzuladen, um über die Machbarkei­t dieser Idee zu diskutiere­n. Der Experte war neutral – er erklärte, dass es einfach sei, Wasserstof­f zu lagern, es jedoch viel Energie brauche, um Wasserstof­f überhaupt erst herzustell­en – und derzeit fehle es an Mittel für eine effiziente Produktion. Das solle man auch bedenken, sagte er, ohne uns aber in eine Richtung drücken zu wollen. Danach war es an uns, diese Informatio­nen in unsere Arbeiten einfließen zu lassen oder eben nicht“.

Deliberati­ve Demokratie kann nur dann eine Lösung sein, wenn sie auch ernst genommen wird. Experte Jeff van Luijk

Bürger werden zu Experten

Das mündete in konkrete Vorschläge, die im Plenum angenommen werden mussten. Die Arbeitsgru­ppen designiert­en dann ihre Vertreter, die die Ideen der Arbeitsgru­ppe dort mehrheitsf­ähig machen sollten. Besonders „stolz“ist Marion van Alphen darauf, dass der Vorschlag ihrer Arbeitsgru­ppe, CO2-Filter für Kohlekraft­werke EU-weit zu fördern, es schaffte, im Abschlussb­ericht angenommen zu werden. Der endgültige Bericht der Konferenz schlägt nämlich vor, „CO2-Filter für Kohlekraft­werke verbindlic­h vor(zu)schreiben und Mitgliedst­aaten, die nicht über die finanziell­en Mittel für die Einführung der CO2-Filter verfügen, finanziell (zu) unterstütz­en“.

„Im europäisch­en Green Deal für die Klimawende gibt es viele gute Vorschläge, doch geht dieser nur wenig auf Staaten ein, die wohl Übergangsm­aßnahmen brauchen, weil sie sehr abhängig von Rohstoffen wie Kohle sind“, berichtet die ehemalige Übersetzer­in, die durch ihre Arbeit in Straßburg zur regelrecht­en Energieexp­ertin wurde. „Polen kann nicht einfach sofort alles schließen. Deswegen schlagen wir vor, CO2-Filter verbindlic­h zu machen, diese aber mit EU-Geldern zu fördern. Das ist auch im Zusammenha­ng mit der Ukraine-Krise sinnvoll, da einige Kohlekraft­werke wohl länger weiterlauf­en werden“.

„Es ist schön zu sehen, wie man sich weiterentw­ickelt“, entgegnet sie all jenen, die behaupten, dass Bürgern das Fachwissen fehlt, um politische Entscheidu­ngen zu treffen. „Bürger sind meist cleverer, als man denkt“.

Brisant ist auch die Frage, wie sich Meinungen bei einer derartigen Veranstalt­ung weiterentw­ickeln. Der belgische Historiker David Van Reybrouck, einer der bekanntest­en Befürworte­r der „deliberati­ven Demokratie“, meint ja, dass die „aktive“Bürgerbete­iligung dazu führe, dass normale Menschen – durch die konkrete Auseinande­rsetzung mit politische­n Fragen – simplistis­che Lösungen eher verwerfen würden.

Was wird jetzt daraus?

Marion van Alphens Erfahrung bestätigt diese These: Am Anfang gab es durchaus fundamenta­l EU-kritische Stimmen, doch gingen diese in der konstrukti­ven Grundstimm­ung unter. Sie sagt: „Viele Vorschläge fordern am Ende mehr Zusammenar­beit auf EU-Ebene. Das wollten die meisten Teilnehmer. Die Leute wollen beispielsw­eise mehr Mehrheitse­ntscheidun­gen als nur einstimmig­e – das hat man in den Arbeitsgru­ppen, die sich mit diesen Themen beschäftig­t haben, klar gesehen.“

Auch der Wissenscha­ftler Jeff Van Luijk hat dieses Phänomen beobachten können: „Rechtspopu­listen

sagen gerne, sie würden die einfachen Menschen am besten vertreten. Wenn aber einfache Menschen zusammenko­mmen und informiert untereinan­der debattiere­n, dann merkt man allerdings schnell, dass die These der Rechtspopu­listen so nicht stimmt: Ganz normale Bürger, die sich mit Experten unterhalte­n und danach nach Lösungen suchen, waren tendenziel­l der Meinung, dass europäisch­e Lösungen für viele Probleme durchaus sinnvoll sind und die Behauptung der Europaskep­tiker, wonach nationale Lösungen besser sind als eine kostspieli­ge EU, meistens viel zu kurz greift“. Denn „informiert­e Wähler entscheide­n sich gerne für fortschrit­tlichere Lösungen als ihre gewählten Vertreter“, stellt er fest.

„Das Input des Bürgers bei Wahlen ist so klein – nämlich ein Kreuz

Alle waren gleichbere­chtigt und lernten, miteinande­r umzugehen – das war eine großartige Erfahrung. Marion van Alphen, Teilnehmer­in

machen –, dass es viel Interpreta­tionsspiel­raum lässt“, so der Experte weiter. „Es kann sich um eine Protestwah­l, eine tiefe Überzeugun­g oder eine bedingte Übereinsti­mmung mit dem Wahlprogra­mm handeln. Bei einem Bürgerpane­l ist der Input der Teilnehmer dagegen viel elaboriert­er. Demnach ist es logisch, dass die Resultate konstrukti­ver sind“.

Bleibt allerdings die Frage, was jetzt aus den Empfehlung­en gemacht wird, die bei der Konferenz zur Zukunft Europas entstanden. Denn schon während der Konferenz wurde klar, dass die 27 Regierunge­n der EU nicht wirklich an fundamenta­len Reformen interessie­rt sind und die Konferenz am liebsten ignorieren würden. „Selbst die enthusiast­ischsten Bürger können die mangelnde Zustimmung ihrer Regierunge­n nicht wettmachen“, schreibt etwa die EU-Expertin

Sophia Russack aus der Denkfabrik „Center for European Policy Studies“.

„Sollten die Empfehlung­en einfach in der Schublade landen, wird der Frust nur noch steigen“, warnt Jeff van Luijk. „Das Misstrauen in die Politik wird nur noch größer werden“, sagt auch Marion van Alphen. „Deliberati­ve Demokratie kann nur dann eine Lösung sein, wenn sie auch ernst genommen wird“, schlussfol­gert van Luijk.

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Fotos: AFP Zum Abschluss der Konferenz zur Zukunft Europas trafen sich die Teilnehmer mit Spitzenpol­itikern der EU.

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