Wie die EU unbemerkt bürgernah wird
„Konferenz zur Zukunft Europas“funktionierte besser als gedacht
Die Kritik ist so alt wie die EU selbst: Die Europäische Union sei ein Eliten-Projekt – Technokraten in Brüssel würden Regeln für weit entfernte Bürger schreiben, denen sie noch nie im Leben begegnet sind.
Das Bild der EU als Truppe von Lobbyisten und ungewählten Beamten, die ohne demokratisches Mandat über die Zukunft souveräner Nationen entscheiden, wird nicht ohne Grund stets von prominenten EU-Skeptikern wie Nigel Farage oder Marine Le Pen gehegt. „Das Demokratiedefizit der EU wird immer wieder angeprangert“, stellt auch Jeff Van Luijk fest, ehemaliger Mitarbeiter im EU-Parlament und Gründer der luxemburgischen Beratungsfirma für deliberative Demokratie „PLNT“.
Dieses Demokratiedefizit entspricht tatsächlich einer Realität, die manchmal offen zum Vorschein kommt – etwa 2019, als Ursula von der Leyen zur Präsidentin der EU-Kommission ernannt wurde, obschon sie sich – anders als die Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien – nicht einmal annähernd am Wahlkampf für die Europawahlen beteiligt hatte. „Von der Leyens Nominierung durch den Europäischen Rat galt als Schwächung des EU-Parlaments und Ausdruck einer demokratischen Rückentwicklung“, sagte der EU-Demokratie-Experte Manuel Müller damals.
Ursula von der Leyen war sich dessen natürlich bewusst. Um diesen – durchaus legitimen – Kritiken den Wind aus den Segeln zu nehmen, schlug sie ein revolutionäres Experiment vor: Eine „Konferenz zur Zukunft Europas“, bei der ganz normale Bürger aus den 27 Mitgliedstaaten zusammenkommen, um Reformideen für die Europäische Union durchzudiskutieren und danach vorzuschlagen. Von der Leyen versprach demnach nicht weniger als deliberative Demokratie auf EU-Ebene.
Gezerre unter EU-Institutionen
Wie die meisten Ideen aus dem Brüsseler Berlaymont-Gebäude musste sich auch die Konferenz zur Zukunft Europas gegen die Skepsis und die konservativen Reflexe aus dem Rat der EU, dem Gremium der 27 Mitgliedstaaten, behaupten. Die Haltung der Mitgliedstaaten – die von Gleichgültigkeit bis hin zur offenen Abwehr reichte – schaffte es jedoch nicht, die Motivation der EU-Kommission – und vor allem des Europaparlaments – auszubremsen. Nach zähen Verhandlungen und Corona-bedingten Startschwierigkeiten war es am 9. Mai 2021, dem Europatag, so weit: Die Konferenz zur Zukunft Europas wurde feierlich im Straßburger Plenum des EUParlaments eröffnet.
Dort sollten 108 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger aus den 27 Mitgliedstaaten, die allerdings einer gewissen sozio-ökonomischen Diversität entsprechen sollten, zusammen mit EU-Abgeordneten, nationalen Parlamentariern und Vertretern der EU-Kommission sowie des EU-Rats Reformvorschläge ausarbeiten. Dieses „Plenum“sollte wiederum Arbeiten aus themenspezifischen „Panels“aufgreifen, in denen jeweils 200 per Los ausgewählte Bürger in kleineren Arbeitsgruppen tätig waren.
„Am Anfang war ich ein bisschen skeptisch“, verrät Marion van Alphen, eine 67-jährige Luxemburgerin mit niederländischen Wurzeln, die im Großherzogtum per Los für die Teilnahme gezogen wurde. „Ich dachte mir: Das kann nur chaotisch werden – jede Menge Leute aus 27 Mitgliedstaaten, die aus so unterschiedlichen Milieus kommen.“Der Startschuss war auch etwas chaotisch, berichtet Marion van Alphen. „Ich wusste auch gar nicht, was von mir erwartet wurde, außer, dass ich nach Straßburg kommen sollte“.
Nach der ersten „Sitzung“in Straßburg, bei der vor allem Ideen kunterbunt gesammelt wurden, trifft sie dann auf ihre Arbeitsgruppe – ein älterer Kieferorthopäde aus Deutschland, ein italienischer Designer, ein Landwirt aus Dänemark, ein Student aus Kroatien, eine belgische Krankenschwester … „In den verschiedenen Arbeitsgruppen gab es von allem – von der Hausfrau bis hin zum Pfarrer. Und jeder diskutierte auf Augenhöhe“. Dann ging es los: Die Arbeitsgruppen wurden beauftragt, Reformideen in Sachen Klimaund Energiepolitik auszuarbeiten.
„Ich war zunehmend überzeugt von der Idee“, erzählt Marion van Alphen. Die luxemburgische Pensionärin, die einst als Assistentin einer EU-Parlamentarierin und dann lange als Übersetzerin für diverse EU-Institutionen gearbeitet hat, gibt an, dass sie zwar „mehr oder weniger weiß, wie die EU funktioniert“, allerdings „keineswegs eine Expertin in Umwelt- und Energiepolitik“sei. Aber das war genau das, was gefragt war, so van Alphen weiter: „keine Experten, sondern interessierte Bürger“.
Alle im gleichen Boot
Ein anderes positives Element des Experiments sei sozialer Natur, meint van Aphen: „Menschen, die im Alltag marginalisiert werden, verschafften sich hier Gehör und gewannen Selbstvertrauen.“
„Wir saßen alle im gleichen Boot – Menschen mit Hochschulabschluss,
Arbeitslose, Menschen ohne Abschluss – und jeder musste dem anderen zuhören und mit ihm zusammenarbeiten. Alle waren gleichberechtigt und lernten, miteinander umzugehen – das war eine großartige Erfahrung“, so die Teilnehmerin weiter. „Es ist unfassbar, wie die Organisatoren es schafften, 200 Bürger aus ganz Europa, samt Experten und Dolmetscher – teils Corona-bedingt vor ihren Bildschirmen – zusammen an einem Bericht werkeln zu lassen, der immer konkreter wurde.“
„Es war beeindruckend: 800 Menschen, die alle auf einmal sehen, dass sie Europäer mit ähnlichen Problemen sind und dann gemeinsam schauen, wie man diese lösen könnte“, schwärmt auch Jeff van Luijk.
Gerne verrät van Alphen, wie die Arbeitssitzungen aussahen: „Der deutsche Kieferorthopäde war von der Förderung des Wasserstoffes überzeugt – also entschieden wir, einen Experten einzuladen, um über die Machbarkeit dieser Idee zu diskutieren. Der Experte war neutral – er erklärte, dass es einfach sei, Wasserstoff zu lagern, es jedoch viel Energie brauche, um Wasserstoff überhaupt erst herzustellen – und derzeit fehle es an Mittel für eine effiziente Produktion. Das solle man auch bedenken, sagte er, ohne uns aber in eine Richtung drücken zu wollen. Danach war es an uns, diese Informationen in unsere Arbeiten einfließen zu lassen oder eben nicht“.
Deliberative Demokratie kann nur dann eine Lösung sein, wenn sie auch ernst genommen wird. Experte Jeff van Luijk
Bürger werden zu Experten
Das mündete in konkrete Vorschläge, die im Plenum angenommen werden mussten. Die Arbeitsgruppen designierten dann ihre Vertreter, die die Ideen der Arbeitsgruppe dort mehrheitsfähig machen sollten. Besonders „stolz“ist Marion van Alphen darauf, dass der Vorschlag ihrer Arbeitsgruppe, CO2-Filter für Kohlekraftwerke EU-weit zu fördern, es schaffte, im Abschlussbericht angenommen zu werden. Der endgültige Bericht der Konferenz schlägt nämlich vor, „CO2-Filter für Kohlekraftwerke verbindlich vor(zu)schreiben und Mitgliedstaaten, die nicht über die finanziellen Mittel für die Einführung der CO2-Filter verfügen, finanziell (zu) unterstützen“.
„Im europäischen Green Deal für die Klimawende gibt es viele gute Vorschläge, doch geht dieser nur wenig auf Staaten ein, die wohl Übergangsmaßnahmen brauchen, weil sie sehr abhängig von Rohstoffen wie Kohle sind“, berichtet die ehemalige Übersetzerin, die durch ihre Arbeit in Straßburg zur regelrechten Energieexpertin wurde. „Polen kann nicht einfach sofort alles schließen. Deswegen schlagen wir vor, CO2-Filter verbindlich zu machen, diese aber mit EU-Geldern zu fördern. Das ist auch im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise sinnvoll, da einige Kohlekraftwerke wohl länger weiterlaufen werden“.
„Es ist schön zu sehen, wie man sich weiterentwickelt“, entgegnet sie all jenen, die behaupten, dass Bürgern das Fachwissen fehlt, um politische Entscheidungen zu treffen. „Bürger sind meist cleverer, als man denkt“.
Brisant ist auch die Frage, wie sich Meinungen bei einer derartigen Veranstaltung weiterentwickeln. Der belgische Historiker David Van Reybrouck, einer der bekanntesten Befürworter der „deliberativen Demokratie“, meint ja, dass die „aktive“Bürgerbeteiligung dazu führe, dass normale Menschen – durch die konkrete Auseinandersetzung mit politischen Fragen – simplistische Lösungen eher verwerfen würden.
Was wird jetzt daraus?
Marion van Alphens Erfahrung bestätigt diese These: Am Anfang gab es durchaus fundamental EU-kritische Stimmen, doch gingen diese in der konstruktiven Grundstimmung unter. Sie sagt: „Viele Vorschläge fordern am Ende mehr Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Das wollten die meisten Teilnehmer. Die Leute wollen beispielsweise mehr Mehrheitsentscheidungen als nur einstimmige – das hat man in den Arbeitsgruppen, die sich mit diesen Themen beschäftigt haben, klar gesehen.“
Auch der Wissenschaftler Jeff Van Luijk hat dieses Phänomen beobachten können: „Rechtspopulisten
sagen gerne, sie würden die einfachen Menschen am besten vertreten. Wenn aber einfache Menschen zusammenkommen und informiert untereinander debattieren, dann merkt man allerdings schnell, dass die These der Rechtspopulisten so nicht stimmt: Ganz normale Bürger, die sich mit Experten unterhalten und danach nach Lösungen suchen, waren tendenziell der Meinung, dass europäische Lösungen für viele Probleme durchaus sinnvoll sind und die Behauptung der Europaskeptiker, wonach nationale Lösungen besser sind als eine kostspielige EU, meistens viel zu kurz greift“. Denn „informierte Wähler entscheiden sich gerne für fortschrittlichere Lösungen als ihre gewählten Vertreter“, stellt er fest.
„Das Input des Bürgers bei Wahlen ist so klein – nämlich ein Kreuz
Alle waren gleichberechtigt und lernten, miteinander umzugehen – das war eine großartige Erfahrung. Marion van Alphen, Teilnehmerin
machen –, dass es viel Interpretationsspielraum lässt“, so der Experte weiter. „Es kann sich um eine Protestwahl, eine tiefe Überzeugung oder eine bedingte Übereinstimmung mit dem Wahlprogramm handeln. Bei einem Bürgerpanel ist der Input der Teilnehmer dagegen viel elaborierter. Demnach ist es logisch, dass die Resultate konstruktiver sind“.
Bleibt allerdings die Frage, was jetzt aus den Empfehlungen gemacht wird, die bei der Konferenz zur Zukunft Europas entstanden. Denn schon während der Konferenz wurde klar, dass die 27 Regierungen der EU nicht wirklich an fundamentalen Reformen interessiert sind und die Konferenz am liebsten ignorieren würden. „Selbst die enthusiastischsten Bürger können die mangelnde Zustimmung ihrer Regierungen nicht wettmachen“, schreibt etwa die EU-Expertin
Sophia Russack aus der Denkfabrik „Center for European Policy Studies“.
„Sollten die Empfehlungen einfach in der Schublade landen, wird der Frust nur noch steigen“, warnt Jeff van Luijk. „Das Misstrauen in die Politik wird nur noch größer werden“, sagt auch Marion van Alphen. „Deliberative Demokratie kann nur dann eine Lösung sein, wenn sie auch ernst genommen wird“, schlussfolgert van Luijk.