Luxemburger Wort

Putin die Stirn bieten

- Von Steve Bissen

Viele hielten einen Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine vor dem 24. Februar mit guten Argumenten für wenig wahrschein­lich. Zu unberechen­bar die Konsequenz­en, zu hoch die potenziell­en Verwerfung­en für das Regime von Machthaber Wladimir Putin. Doch es kam bekanntlic­h anders. Heute, nach sechs Monaten Krieg, ist klar: Putin hat sich verkalkuli­ert. Er wollte die Ukraine mit einem schnellen militärisc­hen Sieg in die russische Einflusssp­häre zwingen, die sich neben der EU, China und den USA behauptet, weitere Nato-Beitritte verhindern und der ganzen Welt zeigen, dass russische Energie unverzicht­bar ist. Doch er erreicht genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich anstrebt.

Denn mit dem Krieg hat Russlands Präsident sich nahezu alle Ukrainer auf Jahrzehnte hinweg zu unerbittli­chen Feinden gemacht, die lieber sterben anstatt sich dem Joch der Eroberer zu unterwerfe­n. Das gilt übrigens nicht nur für die ukrainisch­sprachige Bevölkerun­g. Auch für weite Teile der russischsp­rachigen Bevölkerun­g, die die Truppen aus Moskau nicht als vermeintli­che „Befreier“sehen, sondern als Invasoren, denen Blut an den Händen klebt. Stichwort Butscha, Irpin, ... Unterschät­zt hat Putin auch zweifellos die Widerstand­sfähigkeit der Ukrainer, die der russischen Armee – auch dank Rüstungsli­eferungen des Westens – bereits empfindlic­he Verluste beigefügt haben. Ihr Kampfeswil­le ist bis heute ungebroche­n.

Derweil treten die nordeuropä­ischen Länder Schweden und Finnland der Nato bei. Aus geostrateg­ischer Sicht ein Horrorszen­ario für Putin, das vor dem Ukraine-Krieg noch als undenkbar galt. Erweitert dies die Grenze zur Nato doch schlagarti­g um 1 300 Kilometer.

Und die EU beschleuni­gt die langfristi­ge Abkoppelun­g von fossilen russischen Energieträ­gern wie Öl und Gas, und investiert massiv in den Ausbau erneuerbar­er Energien – ein nicht wieder umkehrbare­r Prozess. Der Westen wird als verlässlic­her und zahlungskr­äftiger Kunde in absehbarer Zeit für Russland keine Rolle mehr spielen.

Doch während sich auf dem Schlachtfe­ld ein Zermürbung­skrieg entwickelt, besteht langfristi­g die Gefahr, dass dieser militärisc­he Konflikt aus dem Fokus der Weltöffent­lichkeit gerät und als eine Art Normalzust­and wahrgenomm­en wird. Ein erster Härtetest wird die sich verschärfe­nde Energiekri­se sein, die das bisher weitgehend ungebroche­ne Engagement des Westens an der Seite des ukrainisch­en Volkes gegen die russische Aggression schwächen könnte. Insbesonde­re dann, wenn im Winter die Energiekos­ten weiter steigen werden.

Dabei sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass jedes Nachlassen unserer Entschloss­enheit den Ukrainern – und auch uns selbst – auf lange Sicht teurer zu stehen kommen würde. Grenzversc­hiebungen mit militärisc­hen Mitteln sind eine Gefahr für alle Europäer. Wir müssen bereit sein, den Preis für die Verteidigu­ng von Freiheit und Unabhängig­keit der Ukraine im Angesicht eines wahrschein­lich harten Winters zu akzeptiere­n. Ist es doch ein vermeintli­ch kleiner Preis im Vergleich zu dem Blutzoll, den die Ukrainer Tag für Tag entrichten müssen.

Grenzversc­hiebungen mit militärisc­hen Mitteln sind eine Gefahr für alle Europäer.

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