Putin die Stirn bieten
Viele hielten einen Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine vor dem 24. Februar mit guten Argumenten für wenig wahrscheinlich. Zu unberechenbar die Konsequenzen, zu hoch die potenziellen Verwerfungen für das Regime von Machthaber Wladimir Putin. Doch es kam bekanntlich anders. Heute, nach sechs Monaten Krieg, ist klar: Putin hat sich verkalkuliert. Er wollte die Ukraine mit einem schnellen militärischen Sieg in die russische Einflusssphäre zwingen, die sich neben der EU, China und den USA behauptet, weitere Nato-Beitritte verhindern und der ganzen Welt zeigen, dass russische Energie unverzichtbar ist. Doch er erreicht genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich anstrebt.
Denn mit dem Krieg hat Russlands Präsident sich nahezu alle Ukrainer auf Jahrzehnte hinweg zu unerbittlichen Feinden gemacht, die lieber sterben anstatt sich dem Joch der Eroberer zu unterwerfen. Das gilt übrigens nicht nur für die ukrainischsprachige Bevölkerung. Auch für weite Teile der russischsprachigen Bevölkerung, die die Truppen aus Moskau nicht als vermeintliche „Befreier“sehen, sondern als Invasoren, denen Blut an den Händen klebt. Stichwort Butscha, Irpin, ... Unterschätzt hat Putin auch zweifellos die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer, die der russischen Armee – auch dank Rüstungslieferungen des Westens – bereits empfindliche Verluste beigefügt haben. Ihr Kampfeswille ist bis heute ungebrochen.
Derweil treten die nordeuropäischen Länder Schweden und Finnland der Nato bei. Aus geostrategischer Sicht ein Horrorszenario für Putin, das vor dem Ukraine-Krieg noch als undenkbar galt. Erweitert dies die Grenze zur Nato doch schlagartig um 1 300 Kilometer.
Und die EU beschleunigt die langfristige Abkoppelung von fossilen russischen Energieträgern wie Öl und Gas, und investiert massiv in den Ausbau erneuerbarer Energien – ein nicht wieder umkehrbarer Prozess. Der Westen wird als verlässlicher und zahlungskräftiger Kunde in absehbarer Zeit für Russland keine Rolle mehr spielen.
Doch während sich auf dem Schlachtfeld ein Zermürbungskrieg entwickelt, besteht langfristig die Gefahr, dass dieser militärische Konflikt aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit gerät und als eine Art Normalzustand wahrgenommen wird. Ein erster Härtetest wird die sich verschärfende Energiekrise sein, die das bisher weitgehend ungebrochene Engagement des Westens an der Seite des ukrainischen Volkes gegen die russische Aggression schwächen könnte. Insbesondere dann, wenn im Winter die Energiekosten weiter steigen werden.
Dabei sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass jedes Nachlassen unserer Entschlossenheit den Ukrainern – und auch uns selbst – auf lange Sicht teurer zu stehen kommen würde. Grenzverschiebungen mit militärischen Mitteln sind eine Gefahr für alle Europäer. Wir müssen bereit sein, den Preis für die Verteidigung von Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine im Angesicht eines wahrscheinlich harten Winters zu akzeptieren. Ist es doch ein vermeintlich kleiner Preis im Vergleich zu dem Blutzoll, den die Ukrainer Tag für Tag entrichten müssen.
Grenzverschiebungen mit militärischen Mitteln sind eine Gefahr für alle Europäer.