Wer die Nachtigall stört
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„Hab ich doch schon erzählt.“
„Ihrer Aussage zufolge stand er vor Ihnen, als Sie sich umdrehten. Hat er Sie dann gewürgt?“
„Ja.“
„Und dann ließ er Ihren Hals los und schlug Sie?“
„Das hab ich doch gesagt.“
„Er hat Sie mit der rechten Faust auf das linke Auge geschlagen?“
„Ich habe mich geduckt und da … da ist seine Faust abgerutscht. So war’s. Ich hab mich geduckt, und sie ist aufs andere Auge gerutscht.“Endlich war ihr ein Licht aufgegangen.
„Auf einmal sind Sie sich also darüber im Klaren. Vorhin konnten Sie sich nicht so genau erinnern, nicht wahr?“
„Ich hab ja gesagt, er hat mich geschlagen.“
„Na gut. Er hat sie gewürgt, geschlagen und dann vergewaltigt, stimmt das?“„Natürlich stimmt’s“
„Sie sind ein kräftiges Mädchen. Was haben Sie eigentlich die ganze Zeit getan? Einfach dagestanden?“
„Ich sagte doch, ich hab gekratzt und gestrampelt und gebrüllt …“
Atticus nahm die Brille ab, wandte der Zeugin sein gesundes rechtes Auge zu und ließ Fragen auf Fragen auf sie niederprasseln.
„Nicht so schnell, Atticus“, schaltete sich Richter Taylor ein. „Geben Sie der Zeugin Gelegenheit, Ihnen zu antworten.“
„Gut. Also, warum sind Sie nicht weggelaufen?“
„Ich hab’s versucht …“„Versucht? Was hat Sie daran gehindert?“
„Ich … er hat mich hingeschmissen. Ja, so war’s, er hat mich hingeschmissen und sich auf mich geworfen.“
„Und Sie haben die ganze Zeit geschrien?“
„Natürlich.“
„Warum haben Ihre Geschwister Sie nicht gehört? Wo waren die denn? Bei der Müllkippe?“
Keine Antwort.
„Wo waren die Kinder? Warum sind sie Ihnen nicht zu Hilfe gekommen? Hätten sie Ihre Schreie nicht hören müssen? Die Müllkippe ist näher als der Wald, nicht wahr?“
Keine Antwort.
„Oder haben Sie erst geschrien, als Sie Ihren Vater am Fenster sahen, und vorher gar nicht ans Schreien gedacht?“
Keine Antwort.
„Haben Sie aus Angst vor Ihrem Vater geschrien und nicht aus Angst vor Tom Robinson? War es so?“
Keine Antwort.
„Wer hat Sie geschlagen? Tom Robinson oder Ihr Vater?“
Keine Antwort.
„Was hat Ihr Vater am Fenster gesehen, das Verbrechen einer Vergewaltigung oder etwas ganz anderes? Warum sagen Sie nicht die Wahrheit, Kind? Sind Sie von Bob Ewell geschlagen worden?“
Als Atticus sich von Mayella abwandte, sah er aus, als täte ihm der Magen weh. Auf Mayellas Gesicht malten sich Entsetzen und Wut. Atticus nahm erschöpft auf seinem Stuhl Platz und putzte die Brille mit dem Taschentuch.
Plötzlich fand Mayella die Sprache wieder. „Ich hab was zu sagen.“
Atticus hob den Kopf. „Möchten Sie uns sagen, was geschehen ist?“Sie hörte nicht das Mitleid, das in seiner Stimme mitschwang. „Ich hab was zu sagen, und nachher sage ich überhaupt nichts mehr. Der Nigger da drüben hat sich an mir vergangen, und wenn ihr eingebildeten feinen Herren nichts dagegen tun wollt, dann seid ihr alle miteinander stinkende Feiglinge, jawohl, stinkende Feiglinge. Euer vornehmes Getue hilft mir nichts … Ihr Gerede von wegen Miss Mayella und Ma’am hilft mir nicht, Mr. Finch …“
Sie brach in echte Tränen aus. Ihre Schultern bebten vor zornigem Schluchzen. Und sie hielt Wort: Sie reagierte auf keine Frage mehr, nicht einmal, als Mr. Gilmer versuchte, sie wieder ins Fahrwasser zu bringen. Wäre sie nicht so arm und unwissend gewesen, ich glaube, Richter Taylor hätte sie wegen ihrer unverblümt geäußerten Missachtung des Gerichts zu einer Haftstrafe verurteilt. Irgendwie hatte Atticus sie hart getroffen. Ich wusste zwar nicht, worauf er abzielte, aber so viel war klar: Er fand kein Vergnügen daran. Er saß mit gesenktem Kopf da. Noch nie hatte ich so viel Hass in einem Blick gesehen wie in dem, der ihn aus Mayellas Augen traf, als sie den Zeugenstand verließ und an seinem Tisch vorüberging.
Mr. Gilmer bat um eine kurze Unterbrechung, und Richter Taylor meinte: „Wir können wohl alle eine Pause vertragen. Ich denke, zehn Minuten werden genügen.“
Atticus und Mr. Gilmer trafen sich vor dem Richterstuhl, flüsterten miteinander und verließen dann den Saal durch eine Tür hinter dem Zeugenstand. Das war das Signal für alle, sich ein wenig zu recken und zu strecken. Ich merkte erst jetzt, dass ich vom Sitzen auf der Bankkante völlig steif geworden war. Jem erhob sich und gähnte, Dill ebenfalls, und Reverend Sykes wischte sich das Gesicht am
Hut ab. Auf der Galerie sei es mindestens dreißig Grad heiß, sagte er.
Mr. Braxton Underwood, der unbeweglich auf einem für die Presse reservierten Stuhl gesessen hatte, während sein Hirn die Zeugenaussagen wie ein Schwamm aufsaugte, ließ nun einen strengen Blick über die Galerie für Farbige gleiten, und seine Augen begegneten den meinen. Er stieß ein Grunzen aus und wandte sich ab.
„Jem“, flüsterte ich, „Mr. Underwood hat uns gesehen.“
„Na, wenn schon? Der wird uns bestimmt nicht bei Atticus verpetzen. Dafür bringt er’s dann in der Tribune unter Nachrichten aus der Gesellschaft.“Jem nahm sein Gespräch mit Dill wieder auf; wahrscheinlich erklärte er ihm die juristischen Feinheiten des Verhörs. Worin die bestanden, war mir allerdings ein Rätsel. Es hatte über keinen Punkt längere Debatten zwischen Atticus und Mr. Gilmer gegeben. Mr. Gilmer schien sogar beinahe widerwillig als Ankläger aufzutreten. Er hatte nur selten Einspruch erhoben, wenn die Zeugen durch geschickte Fragen dorthin gesteuert wurden, wohin Atticus sie haben wollte. Aber unser Vater hatte einmal erzählt, in Richter Taylors Verhandlungen habe jeder Anwalt, der seinen Fall zu streng aus dem Beweismaterial darlege, zum Schluss vom Richter strenge Unterweisung zu erwarten.
(Fortsetzung folgt)