Ohne Maske
Auch zum dritten Pandemie-Herbst kriegt Deutschland keine eingängigen Regeln hin – nur einen Eklat
„Elitäre Doppelmoral.“Das bleibt hängen. Erst recht, wenn einer das sagt, der im politischen Machtgefüge Deutschlands weit oben rangiert. Im Hauptberuf ist Wolfgang Kubicki (FDP) seit fünf Jahren Vizepräsident des Bundestags. Im Selbstverständnis ist er einer, der äußert, was gerade angesagt ist. Angesagt als Synonym für zweckmäßig.
An dem Tag, an dem halb Deutschland sich damit beschäftigt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Vizekanzler Robert Habeck (Die Grünen) und knapp 80 weitere Menschen unmaskiert im Regierungsflugzeug einmal nach Kanada geflogen sind und wieder zurück, sagt Kubicki, die Bilder aus dem Flieger „hinterlassen für viele Menschen im Land den Eindruck der elitären Doppelmoral“. Als praktizierender Rechtsanwalt ist Kubicki präzises Formulieren gewohnt – und als Politiker weiß er genau, was hängenbleibt beim Publikum.
Erst recht bei einem, das in Sachen Pandemie und Regeln, die die Politik vorgibt, notorisch überreizt ist. Seit dem Ausbrechen von Covid-19 im Januar 2020 erlebt die Republik unablässige Veränderung – die der ständigen Entwicklung von Erkenntnissen, Wissen, Möglichkeiten geschuldet ist. Die aber als Unsicherheit der Regierenden erscheint – und Verunsicherung erzeugt.
Natürlich relativiert Kubicki geschickt sein Verdikt. Aber genauso natürlich hören alle über den „Eindruck“hinweg. Doppelmoral also. Elitär. Die „Bild“-Zeitung empört sich online: „Scholz und Habeck pfeifen drauf, aber … Wir bekommen härtere Maskenregeln im Flieger!“Auch auf Twitter stürmt es entrüstet. Der gescheiterte Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet empört sich, diverse FDP-Parlamentarier befinden, nun müsse die Maskenpflicht im Flieger für alle fallen. Und die Lufthansa – gerade selbst wegen ihrer Einer-Milliarden-Staatshilfe folgenden Entlassungswelle und den daraus resultierenden Flugausfällen in der Kritik – ätzt eifrig mit.
Corona-Regeln für den Herbst
Da ist den in Berlin verbliebenen Regierenden – vorneweg den Ministern für Justiz und für Gesundheit, Marco Buschmann (FDP) und Karl Lauterbach (SPD) – längst klar: Ein Fall von hundsmiserablem Timing. Wenn Scholz am Mittwochmorgen aus Kanada zurückkehrt, wird er so ziemlich als Erstes die Kabinettssitzung leiten. Und dort wird es auch um die Pandemie-Regeln für den Herbst gehen. Für Flugreisende soll die Maskenpflicht verschärft werden – auf FFP2. Ab Mittwochmorgen übt sich Buschmann also in Schadensbegrenzung. Gibt im Viertelstunden-Takt Interviews, in denen er auf die PCR-Tests der Kanada-Reisenden verweist – was ja „strengere Regeln“seien als für alle, die derzeit mit Linienmaschinen nach Deutschland flögen und von dort weg. Warum aber – wie der Kanzler noch aus Neufundland beteuert hat – für die Flugbereitschaft der Bundeswehr Sonderregeln gelten: Da verweist der Justizminister auf die Kollegin von der Verteidigung, Christine Lambrecht (SPD). Deren Sprecher erklärt am Mittag, die Luftwaffe agiere „im Rahmen ihrer eigenen Vollzugskompetenz“. Und der Transport von Regierenden samt Begleitung sei im Übrigen ja „eine ganz andere Situation“als der „öffentliche Personenfernverkehr“.
Da hat Buschmann schon mindestens zehnmal gesagt, dass die maskenfreie Fliegerei zwar rechtlich nicht zu beanstanden sei – aber politisch nicht recht gescheit. Er referiert damit in etwa die Kommentarlage. Dort lauten die Adjektive halt „respektlos“. Oder „abgehoben“.
Das Ganze lenkt ein bisschen davon ab, dass gerade bekannt wird, dass im Juli 2 839 Menschen an oder mit Covid gestorben sind; 2021 waren es 274 Tote, 2020 136. Nach Entspannung der Pandemielage klingt das so wenig wie Buschmann und Lauterbach nach Einigkeit bei der Einschätzung dessen, was kommt. Buschmanns Formel lautet „verantwortbare Normalität“. Lauterbach rechnet mit „Schwierigkeiten im Oktober – ich täusche mich gern“.
Geteilte Verantwortung
Dem Bundestag schlagen die beiden nun eine Mischung vor aus Gilt-für-alle und Regeln-die-Länder-individuell. Im Zentrum: die Pflicht zur Maske, FFP2, ab 1. Oktober. In Kliniken und Pflegeheimen, im Fern- und Flugverkehr. Darüber hinaus entscheiden die Landesparlamente. Bei der Vereinigung der Intensiv- und Notfallmediziner fürchten sie schon „langwierige Diskussionen“– wenn es eigentlich schnell gehen muss. Nur das noch soll der Bundestag festlegen: keine Lockdowns und keine Schulschließungen mehr. Denn, sagt Buschmann, „die Schülerinnen und Schüler haben am meisten gelitten“.
Möglicherweise aber kommt gleich danach das Ansehen von Robert Habeck und Olaf Scholz. Mit schönem Gruß von Wolfgang Kubicki.
Im Juli sind 2 839 Menschen an oder mit Covid gestorben; 2021 waren es 274 Tote und 136 in 2020.