Luxemburger Wort

Der joggende Pazifist

Der Kreml hat mit der Verhaftung von Jewgeni Roisman eine der letzten kritischen Stimmen mundtot gemacht

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Jewgeni Roisman holten sie gegen sechs Uhr morgens ab. Ein Dutzend Kriminalbe­amte und maskierte Einsatzpol­izisten standen vor seiner Tür, als er öffnete. Der kremlnahe Telegramka­nal „Mash“filmte mit, wie eine Ermittleri­n Roisman verkündete, seine Wohnung werde im Rahmen eines Strafverfa­hrens durchsucht, der noch halbnackte Opposition­elle verdrehte die Augen …

Ein halbes Jahr nach den ersten Raketenein­schlägen in der Ukraine ist Roisman der 16 437. Russe, der wegen seines Auftretens gegen Putins „Kriegsspez­ialoperati­on“festgenomm­en wurde, so das Bürgerrech­tsportal „OWF-Info“. Er ist der 224. Russe, gegen den ein Strafverfa­hren eröffnet wurde. Und bis gestern war er der bekanntest­e russische Opposition­elle, der sich in seiner Heimat noch in Freiheit befand.

„Es geht um die Worte, Einfall in die Ukraine’“, sagte Roisman Jekaterinb­urgern Reportern im Treppenhau­s, als man ihn abführte. „Das habe ich überall gesagt und werde es auch jetzt sagen.“Laut der Nachrichte­nagentur TASS wurde das Verfahren gegen Roisman wegen eines seiner YouTube-Videos eröffnet. Roisman drohen bis zu drei Jahre Gefängnis wegen öffentlich­er „Diskrediti­erung des Einsatzes der Streitkräf­te Russlands“.

Ein Altruist und ein Quertreibe­r

Roisman, 59, ehemaliger Abgeordnet­er der Staatsduma und ehemaliger Bürgermeis­ter der UralMetrop­ole ist der wohl populärste Jekaterinb­urger. Ein blauäugige­r Hüne mit silbergrau meliertem Schopf, der mit Vorliebe verwaschen­e Jeans und T-Shirts trägt, er ist Ikonensamm­ler, passionier­ter Langstreck­enläufer, Blogger und Dichter. Roisman, geschieden, fünf Kinder, landete als Halbwüchsi­ger wegen Diebstahls für zwei Jahre im

Gefängnis, wurde später mit Juwelenhan­del reich, einer, dem beste Kontakte zur Jekaterinb­urger Unterwelt nachgesagt wurden.

Er organisier­te eine sehr erfolgreic­he, aber wegen angeblich zu rabiaten Methoden am Ende verbotene Heilanstal­t für Drogensüch­tige, veranstalt­ete nächtliche Fahndungsa­ktionen gegen Rauschgift­händler und empfing in seiner

Wohltätigk­eitsstiftu­ng wöchentlic­h Menschen in Notlage. „Er hat kranken Kindern das Leben gerettet und bankrotten Familien die Wohnung, indem er das nötige Geld aufbrachte“, sagt Dmitri Kolesjow, Chefredakt­eur des Stadtporta­ls „It's My City“. „Seine Beliebthei­t hat Tiefe, ihn mag hier nicht nur die liberale Intelligen­z, sondern auch das einfache Volk.“

Ein Altruist und ein Quertreibe­r, seit dem 24. Februar wurde Roisman dreimal wegen pazifistis­cher Sprüche zu Geldstrafe­n verurteilt, unter anderem weil er den staatliche­n PR-Buchstaben „V“für den Ukraine-Feldzug als „irgendein Sieg Heil“bezeichnet­e. Vorher hatte er gespottet: „Putin überleben – Russlands neue Nationalid­ee“.

Seine Verhaftung galt seit Wochen als wahrschein­lich, aber die Flucht ins Ausland lehnte er ab. „Ich bewege mich keinen Millimeter.“Roisman sagte früher einmal, jeder intelligen­te Russe sollte wenigstens einmal im Leben hinter Gittern gesessen haben. Aber es ist fraglich, ob er das Zuchthaus als besonders effektive politische Tribüne betrachtet, wie der Moskauer Opposition­spolitiker Ilja Jaschin, der wegen der Verbreitun­g angebliche­r Fake News über die Armee in Untersuchu­ngshaft sitzt. Jaschin hatte kürzlich erklärt, Worte aus der Gefängnisz­elle hätten mehr Gewicht als solche aus der Freiheit. Aber im Gegensatz zu Jaschin oder Alexej Nawalny hat Roisman nie die große internatio­nale Bühne gesucht. Und beim Joggen in Jekaterinb­urg plauderte er mit jedem, der schnell genug mitlaufen konnte.

Gegenwind für Putin

Dort tauchten gestern mehrere Einzeldemo­nstranten mit Schildern wie „Freiheit für Jewgeni“auf. Nach Polizeiang­aben wird Roisman für weitere Ermittlung­smaßnahmen nach Moskau gebracht. Aber seine Anwältin Julia Fedotowa hofft, der gegen ihn angewandte Strafrecht­sparagraf sei so leicht, dass Roisman nicht in Untersuchu­ngshaft muss. Sollte der Ex-Bürgermeis­ter doch hinter Gittern landen, schließt Lokalredak­teur Kolesjow nicht aus, dass hunderte, wenn nicht tausende Jekaterinb­urger für ihn auf die Straße gehen. Die Affäre Roisman wird Putins Politik jedenfalls kaum populärer machen.

Es geht um die Worte, Einfall in die Ukraine. Das habe ich überall gesagt und werde es auch jetzt sagen. Jewgeni Roisman

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Foto: AFP Jewgeni Roisman war früher Bürgermeis­ter der Millionens­tadt Jekaterinb­urg. Nun drohen ihm bis zu drei Jahre Gefängnis.

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