Der joggende Pazifist
Der Kreml hat mit der Verhaftung von Jewgeni Roisman eine der letzten kritischen Stimmen mundtot gemacht
Jewgeni Roisman holten sie gegen sechs Uhr morgens ab. Ein Dutzend Kriminalbeamte und maskierte Einsatzpolizisten standen vor seiner Tür, als er öffnete. Der kremlnahe Telegramkanal „Mash“filmte mit, wie eine Ermittlerin Roisman verkündete, seine Wohnung werde im Rahmen eines Strafverfahrens durchsucht, der noch halbnackte Oppositionelle verdrehte die Augen …
Ein halbes Jahr nach den ersten Raketeneinschlägen in der Ukraine ist Roisman der 16 437. Russe, der wegen seines Auftretens gegen Putins „Kriegsspezialoperation“festgenommen wurde, so das Bürgerrechtsportal „OWF-Info“. Er ist der 224. Russe, gegen den ein Strafverfahren eröffnet wurde. Und bis gestern war er der bekannteste russische Oppositionelle, der sich in seiner Heimat noch in Freiheit befand.
„Es geht um die Worte, Einfall in die Ukraine’“, sagte Roisman Jekaterinburgern Reportern im Treppenhaus, als man ihn abführte. „Das habe ich überall gesagt und werde es auch jetzt sagen.“Laut der Nachrichtenagentur TASS wurde das Verfahren gegen Roisman wegen eines seiner YouTube-Videos eröffnet. Roisman drohen bis zu drei Jahre Gefängnis wegen öffentlicher „Diskreditierung des Einsatzes der Streitkräfte Russlands“.
Ein Altruist und ein Quertreiber
Roisman, 59, ehemaliger Abgeordneter der Staatsduma und ehemaliger Bürgermeister der UralMetropole ist der wohl populärste Jekaterinburger. Ein blauäugiger Hüne mit silbergrau meliertem Schopf, der mit Vorliebe verwaschene Jeans und T-Shirts trägt, er ist Ikonensammler, passionierter Langstreckenläufer, Blogger und Dichter. Roisman, geschieden, fünf Kinder, landete als Halbwüchsiger wegen Diebstahls für zwei Jahre im
Gefängnis, wurde später mit Juwelenhandel reich, einer, dem beste Kontakte zur Jekaterinburger Unterwelt nachgesagt wurden.
Er organisierte eine sehr erfolgreiche, aber wegen angeblich zu rabiaten Methoden am Ende verbotene Heilanstalt für Drogensüchtige, veranstaltete nächtliche Fahndungsaktionen gegen Rauschgifthändler und empfing in seiner
Wohltätigkeitsstiftung wöchentlich Menschen in Notlage. „Er hat kranken Kindern das Leben gerettet und bankrotten Familien die Wohnung, indem er das nötige Geld aufbrachte“, sagt Dmitri Kolesjow, Chefredakteur des Stadtportals „It's My City“. „Seine Beliebtheit hat Tiefe, ihn mag hier nicht nur die liberale Intelligenz, sondern auch das einfache Volk.“
Ein Altruist und ein Quertreiber, seit dem 24. Februar wurde Roisman dreimal wegen pazifistischer Sprüche zu Geldstrafen verurteilt, unter anderem weil er den staatlichen PR-Buchstaben „V“für den Ukraine-Feldzug als „irgendein Sieg Heil“bezeichnete. Vorher hatte er gespottet: „Putin überleben – Russlands neue Nationalidee“.
Seine Verhaftung galt seit Wochen als wahrscheinlich, aber die Flucht ins Ausland lehnte er ab. „Ich bewege mich keinen Millimeter.“Roisman sagte früher einmal, jeder intelligente Russe sollte wenigstens einmal im Leben hinter Gittern gesessen haben. Aber es ist fraglich, ob er das Zuchthaus als besonders effektive politische Tribüne betrachtet, wie der Moskauer Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der wegen der Verbreitung angeblicher Fake News über die Armee in Untersuchungshaft sitzt. Jaschin hatte kürzlich erklärt, Worte aus der Gefängniszelle hätten mehr Gewicht als solche aus der Freiheit. Aber im Gegensatz zu Jaschin oder Alexej Nawalny hat Roisman nie die große internationale Bühne gesucht. Und beim Joggen in Jekaterinburg plauderte er mit jedem, der schnell genug mitlaufen konnte.
Gegenwind für Putin
Dort tauchten gestern mehrere Einzeldemonstranten mit Schildern wie „Freiheit für Jewgeni“auf. Nach Polizeiangaben wird Roisman für weitere Ermittlungsmaßnahmen nach Moskau gebracht. Aber seine Anwältin Julia Fedotowa hofft, der gegen ihn angewandte Strafrechtsparagraf sei so leicht, dass Roisman nicht in Untersuchungshaft muss. Sollte der Ex-Bürgermeister doch hinter Gittern landen, schließt Lokalredakteur Kolesjow nicht aus, dass hunderte, wenn nicht tausende Jekaterinburger für ihn auf die Straße gehen. Die Affäre Roisman wird Putins Politik jedenfalls kaum populärer machen.
Es geht um die Worte, Einfall in die Ukraine. Das habe ich überall gesagt und werde es auch jetzt sagen. Jewgeni Roisman