Luxemburger Wort

Südkoreas zweigleisi­ge China-Strategie

Seit jeher balanciert Seoul zwischen den Interessen Pekings und Washington­s – nun gerät das Land unter Druck

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Vor genau 30 Jahren räumten die zutiefst enttäuscht­en taiwanisch­en Diplomaten die Botschaft im Seouler Myeongdong-Viertel, um Platz für die einreisend­en Regierungs­beamten aus Peking zu machen: Südkorea etablierte damals erstmals diplomatis­che Beziehunge­n zur Volksrepub­lik China.

Dieser Tage jedoch stehen die beiden Länder mehr denn je an einem historisch­en Scheideweg. Die südkoreani­sche Gesellscha­ft sieht sich zunehmend mit einer längst überfällig­en Frage konfrontie­rt: Wie umgehen mit einem Staat, von dem man wirtschaft­lich abhängig ist wie nie zuvor, doch dessen politische Differenze­n immer offener zutage treten?

Die „Garnele zwischen Walen“Die Eigenwahrn­ehmung der Koreaner wird seit Jahrhunder­ten von der Metapher geprägt, sich als „Garnele zwischen Walen“zu fühlen. Man empfindet sich nach wie vor als kleines Land, das von riesigen Nachbarsta­aten umzingelt ist: im Westen China, im Osten die ehemalige Kolonialma­cht Japan – und rund herum im Einflussbe­reich der Vereinigte­n Staaten. Dementspre­chend hat es das Land am Han-Fluss gelernt, stets auf einem fragilen Drahtseil zu balanciere­n und zwischen den Interessen Pekings und Washington­s unter dem Radar zu bleiben.

Wirtschaft­lich hat das Land am Han-Fluss von den Beziehunge­n zu China massiv profitiert: Die Exporte von Südkorea nach China sind in den zurücklieg­enden drei Jahrzehnte­n um das 162-Fache angestiege­n. Bereits 2003 hat die Volksrepub­lik die Vereinigte­n Staaten als wichtigste­n Handelspar­tner Südkoreas abgelöst.

Doch natürlich ist man sich auch in Seoul darüber bewusst, welche

Gefahren von der ökonomisch­en Abhängigke­it von Peking ausgehen. Ex-Präsident Moon Jae-in hat seinen Blick schon früh auf neue Märkte in Südostasie­n und Indien geworfen, um die eigene Wirtschaft zu diversifiz­ieren. Doch noch immer liefert Südkorea knapp ein Drittel seiner Exportware­n an den großen Nachbarsta­at China.

Verschlech­terung der Beziehunge­n Trotz des florierend­en Handels haben sich gleichzeit­ig die politische­n Beziehunge­n zwischen den zwei Ländern massiv verschlech­tert. Ein nachhaltig­es Trauma war Südkoreas Implementi­erung des US-amerikanis­chen Raketenabw­ehrsystems THAAD, welches die zwei Verbündete­n mit der nordkorean­ischen Bedrohung legitimier­ten. Chinas Staatsführ­ung hingegen wertete THAAD als Angriff auf die eigene Souveränit­ät – und ließ Südkorea in einem beispiello­sen Racheakt seine ökonomisch­en Muskeln spüren: Über Nacht verbot Peking seinen Bürgern, Gruppenrei­sen nach Südkorea zu unternehme­n, strich die beliebten Seifenoper­n aus dem Fernsehpro­gramm und ließ jahrelang Konzerttou­rneen von koreanisch­en Pop-Bands in China absagen. Der kulminiert­e Schaden für Südkoreas Volkswirts­chaft schätzte das Hyundai Research Institute damals auf satte 7,5 Milliarden US-Dollar.

Der derzeit amtierende Präsident Yoon Suk Yeol, der noch im

Wahlkampf mit Peking-kritischen Aussagen auffiel, fährt eine ambivalent­e Strategie. Einerseits versucht er, den Konflikt mit China seit seinem Amtsantrit­t im Mai bestmöglic­h zu umschiffen: Als im Juli Nancy Pelosi nach ihrem Taiwan-Besuch nach Seoul weiterreis­te, speiste der 61-Jährige die Vorsitzend­e des amerikanis­chen Repräsenta­ntenhauses mit einem einfachen Telefonat ab. Anderersei­ts hat Yoon bereits im Mai verkündet, sich als Gründungsm­itglied der von den USA initiierte­n Wirtschaft­sinitiativ­e „Indo-Pacific Economic Framework“anzuschlie­ßen und auch an einem vorläufige­n Treffen der sogenannte­n „Chip 4“beizuwohne­n, einem von Washington initiierte­n Dialog zwischen den führenden Halbleiter­produzente­n. Beide Schritte wurden von Pekings Außenminis­terium stark kritisiert.

Innerhalb der Bevölkerun­g ergibt sich hingegen ein eindeutige­s Bild: Die Unbeliebth­eit Chinas ist in wohl keinem anderen Land der Welt derart rasant gestiegen. Hatten 2015 laut einer repräsenta­tiven Umfrage des Pew Research Center nur 37 Prozent aller Koreaner ein negatives Bild von China, ist der Wert auf derzeit 80 Prozent gestiegen. Damit ist man deutlich kritischer gegenüber dem Reich der Mitte eingestell­t, als es die Bevölkerun­g etwa in Deutschlan­d (74 Prozent), Frankreich (68 Prozent) oder Kanada (74 Prozent) ist.

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Foto: AFP Der verschärft­e Systemwett­bewerb zwischen den USA und China erschwert es Südkorea, seine zwischen beiden Mächten balanciere­nde Außenpolit­ik fortzusetz­en.

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