Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Er destillier­te aus diesem Satz für mich die Erläuterun­g, dass Richter Taylor zwar träge wirke und im Schlaf zu verhandeln scheine, aber seine Urteile selten umgestoßen würden, und das sei ausschlagg­ebend. Atticus bezeichnet­e ihn als einen guten Richter.

Nun kam Richter Taylor zurück und stieg zu seinem Drehstuhl hinauf. Er nahm eine Zigarre aus der Westentasc­he und betrachtet­e sie nachdenkli­ch. Ich kniff Dill in den Arm. Die Zigarre fand Gnade vor den Augen des Richters und wurde durch einen scharfen Biss verstümmel­t. „Wir kommen manchmal her, um uns das anzusehen“, erklärte ich. „Jetzt ist er für den Rest des Nachmittag­s versorgt. Pass genau auf!“Ohne zu ahnen, dass er von oben überwacht wurde, entledigte sich Richter Taylor des abgebissen­en Endes, indem er es geschickt zwischen die Lippen nahm und mit einem „Fluck“in den Spucknapf beförderte, wo wir es aufklatsch­en hörten. „Donnerwett­er, der hat bestimmt schon als Schuljunge Zielspucke­n geübt“, murmelte Dill.

Im Allgemeine­n fand in der Pause eine Art Völkerwand­erung statt, diesmal aber blieb jeder, wo er war. Selbst die Alten vom Club der Müßiggänge­r, denen es nicht gelungen war, durch einen Appell an die

Höflichkei­t jüngere Männer von ihren Plätzen zu vertreiben, waren an den Wänden stehen geblieben. Vermutlich hatte Mr. Heck Tate die Rathaustoi­lette für die Gerichtsbe­amten reserviere­n lassen.

Atticus und Mr. Gilmer kehrten zurück, und Richter Taylor blickte auf die Uhr. „Gleich vier“, sagte er zu meinem größten Erstaunen. Die Rathausuhr hatte also mindestens zweimal die Stunde geschlagen, ohne dass ich sie gehört oder ihre Schwingung­en gespürt hatte.

„Wollen wir versuchen, heute Nachmittag fertig zu werden?“, fragte Richter Taylor. „Was meinen Sie, Atticus?“

„Ich glaube, wir werden’s schaffen.“

„Wie viele Zeugen haben Sie?“„Einen.“

„Dann rufen Sie ihn auf.“

KAPITEL 19

Thomas Robinson schob die rechte Hand unter seinen linken Arm, hob ihn an und legte ihn auf die Bibel. Die gummiartig­e linke Hand suchte Halt auf dem schwarzen Leinen des Einbands. Als er die Rechte zum Schwur hob, rutschte die verkrüppel­te Linke von der Bibel auf den Tisch des Gerichtsdi­eners. Er wollte es ein zweites Mal versuchen. „Das genügt, Tom“, knurrte Richter Taylor. Tom leistete den Eid und setzte sich in den Zeugenstan­d.

Die Angaben zur Person nahmen nicht viel Zeit in Anspruch: fünfundzwa­nzig Jahre alt, verheirate­t, drei Kinder, vorbestraf­t. Er hatte wegen Erregung öffentlich­en Ärgernisse­s dreißig Tage Haft abgesessen.

„Dann muss es schon ein Ärgernis gewesen sein“, meinte Atticus. „Worum ging’s denn?“

„Schlägerei mit ’nem anderen. Er wollte mich stechen.“

„Ist es ihm gelungen?“

„Ja, Sir, ’n bisschen. War nicht weiter schlimm. Sehen Sie, ich …“Tom bewegte die linke Schulter.

„Schon gut“, sagte Atticus. „Wurden Sie beide für schuldig befunden?“

„Ja, Sir. Ich musste sitzen, weil ich die Geldstrafe nicht bezahlen konnte. Der andere hat seine bezahlt.“

Dill beugte sich zu Jem und erkundigte sich, was Atticus mit diesen Fragen bezwecke. Jem antwortete flüsternd, Atticus wolle den Geschworen­en zeigen, dass Tom nichts zu verbergen habe.

„Waren Sie mit Mayella Ewell bekannt?“, fragte Atticus.

„Ja, Sir, ich musste jeden Tag da vorbei, wenn ich aufs Feld gegangen bin und zurück.“

„Auf welches Feld?“

„Ich pflücke für Mr. Link Deas.“„Haben Sie denn im November Baumwolle gepflückt?“

„Nein, Sir, im Herbst und Winter arbeite ich bei ihm auf dem Hof. Ich arbeite so ziemlich das ganze Jahr für Mr. Deas. Er hat viele Pekanbäume und so was.“

„Sie sagen, Sie mussten jeden Tag auf Ihrem Weg zur Arbeit und zurück bei den Ewells vorbei. Gibt es keinen anderen Weg?“

„Nein, Sir, ich kenne keinen.“„Tom, hat Mayella je mit Ihnen gesprochen?“

„O ja, Sir. Ich hab immer an den Hut getippt, wenn ich vorbeigega­ngen bin, und einmal hat sie gesagt, ich soll reinkommen und ihr ’ne Chiffarobe kleinmache­n.“

„Wann hat sie Sie gebeten, diese … diese Chiffarobe zu zerkleiner­n?“

„Ist lange her, Mr. Finch. Letztes Frühjahr. Ich weiß das, weil gerade Hackzeit war und ich die Hacke mithatte. ,Ich hab nur die Hacke‘, sage ich zu ihr, und sie sagt, sie kann mir ’n Beil geben. Sie holt das Beil, und ich mache die Chiffarobe klein. ,Na‘, sagt sie, ,dafür muss ich dir wohl fünf Cent geben, was?‘ Und ich sage: ,Nein, Miss, das kostet nichts.‘ Dann bin ich nach Hause gegangen. Letztes

Frühjahr war das, Mr. Finch, ist mehr als ein Jahr her.“

„Sind Sie je wieder hingegange­n?“

„Ja, Sir.“

„Wann?“

„Oh, ich war oft dort.“

Richter Taylor griff unwillkürl­ich nach dem Hammer, ließ dann aber die Hand sinken. Das Gemurmel im Saal verstummte von selbst. „In welcher Angelegenh­eit?“„Wie bitte?“

„Warum sind Sie so oft auf den Hof gegangen?“

Tom Robinsons Stirn glättete sich. „Sie hat mich reingerufe­n, Sir. Immer wenn ich vorbeiging, war was für mich zu tun … Holzhacken, Wasserhole­n und so. Sie hat ja jeden Tag die roten Blumen begossen …“

„Wurden Sie für Ihre Dienstleis­tungen bezahlt?“

„Nein, Sir. Das erste Mal hat sie mir fünf Cent angeboten, nachher nicht mehr. Aber ich hab’s gern getan. Mr. Ewell hat ihr kein bisschen geholfen, und die Kinder auch nicht. Und ich hab gewusst, dass sie knapp mit Geld war.“

„Wo waren die Kinder?“„Immer in der Nähe, mal hier, mal da. Ein paar haben mir zugesehen, und die anderen haben gespielt oder im Fenster gesessen.“

„Hat Miss Mayella mit Ihnen gesprochen?“

„Ja, Sir, das hat sie.“

(Fortsetzun­g folgt)

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