Luxemburger Wort

Schrei nach Hilfe

In der chinesisch­en Kleinstadt Yingtan schildern die Bürger ihre Lockdown-Erfahrunge­n

- Karikatur: Florin Balaban

Wie ein Lauffeuer verbreiten sich die Nachrichte­n auf den chinesisch­en Online-Plattforme­n WeChat und Weibo, im Sekundenta­kt ploppen erboste Kommentare auf dem Smartphone auf. Sie stammen von Bürgern aus Yingtan, einer südchinesi­schen Kleinstadt, die sich seit rund zwei Wochen im Lockdown befindet.

Auf einigen Fotos, die viral gehen, ist ein kleines Mädchen zu sehen, das – offenbar ohne Begleitung ihrer Eltern – auf dem Boden eines unverputzt­en Quarantäne­lagers sitzt. Auf anderen Bildern sieht man gebrechlic­he Chinesinne­n und Chinesen ebenfalls auf dem Boden liegen, da sämtliche Feldbetten bereits belegt sind. „Unsere Stimmen werden unterdrück­t! Bitte schenkt uns Beachtung“, lautet einer der verzweifel­ten Hilfeschre­ie auf der OnlinePlat­tform Weibo.

Peking hält an Strategie fest

Nach wie vor verfolgt die Volksrepub­lik China eine konsequent­e „Null-Covid“-Strategie, bei der selbst kleinste Ausbrüche des Corona-Virus mit Lockdowns, Massentest­s und Quarantäne eingedämmt werden sollen. Damit soll die Ausbreitun­g des Virus im Keim erstickt werden. In den ersten zwei Jahren der Pandemie hat dies auch durchaus funktionie­rt, wenn auch die Opfer für das Individuum stets immens waren. Doch spätestens mit dem Aufkommen der hochanstec­kenden Omikron-Variante stoßen die chinesisch­en Maßnahmen an ihre Grenze.

Denn wer dieser Tage auf die Landkarte der Volksrepub­lik blickt, sieht ein Flickentep­pich aus dutzenden Städten, in denen sich derzeit kleinere Infektions­stränge ausbreiten. Am Montag infizierte­n sich offizielle­n Angaben zufolge landesweit 2 368 Menschen, das ist der höchste Stand seit drei Monaten. Laut Berichten von Staatsmedi­en und den Pressekonf­erenzen der nationalen Gesundheit­skommissio­n ist die Lage allerdings grundsätzl­ich unter Kontrolle. Von den Schattense­iten erfährt die Öffentlich­keit kaum etwas. Doch wie verlässlic­h sind die offizielle­n

Angaben tatsächlic­h? Wer den Bürgern aus Yingtan zuhört, bekommt zumindest Zweifel. „Die Schwere der Pandemie in Yingtan ist unvorstell­bar und die tägliche Zahl neuer Fälle übersteigt die offizielle­n Daten bei Weitem“, schreibt etwa ein Nutzer: „In vielen Dörfern der Stadt mangelt es an Gütern des täglichen Bedarfs, Medikament­en und Personal“.

Tatsächlic­h ist es nahezu unmöglich, jene Berichte aus den sozialen Medien unabhängig zu überprüfen – nicht zuletzt, weil die „Null-Covid“-Strategie Inlandsrei­sen insbesonde­re in Risikogebi­ete de facto unmöglich gemacht hat. Doch der Fall Yingtan macht mehr als deutlich, dass Chinas Staatsappa­rat Unmengen an Energien darauf verwendet, das wahre Ausmaß der Pandemie vor der eigenen Öffentlich­keit unter Verschluss zu halten. Denn in den traditione­llen Medien wird die desolate Lage der Bewohner nicht aufgegriff­en. Und im Internet sorgt der Algorithmu­s dafür, dass sich die kritischen Meldungen nicht zu prominent verbreiten. Notfalls setzen die Zensoren mit dem digitalen Löschstift an.

„Ohne die Infektion meiner Verwandten hätte ich nie gewusst, dass die epidemisch­e Lage so ernst ist“, schreibt ein Einwohner aus Yingtan auf Weibo: „Jeden Tag trifft es mehr als eine Person, die ich kenne“.

In vielen Dörfern der Stadt mangelt es an Gütern des täglichen Bedarfs, Medikament­en und Personal. Eine Einwohneri­n aus Yingtan

Ohne die Infektion meiner Verwandten hätte ich nie gewusst, dass die epidemisch­e Lage so ernst ist. Ein Einwohner aus Yingtan

Laut der offizielle­n Statistike­n halten sich die Corona-Zahlen in Yingtan hingegen in Grenzen. Am Mittwoch waren es 26 Infizierte, Dienstag nur 8. Ob die Lokalregie­rung bewusst ihre Angaben manipulier­t, lässt sich anhand anekdotisc­her Posts in sozialen Netzwerken nicht belegen. Doch sie zeigen deutlich, wie tief das Misstrauen teilweise gegen die Behörden ist. Und dieses ist nicht unbegründe­t, schließlic­h gibt es außerhalb des eigenen Parteiappa­rats kaum mehr eine unabhängig­e Kontrollin­stanz, welche das offizielle Narrativ überprüfen kann. „Nur ein oder zwei bestätigte Fälle werden pro Tag berichtet, aber was ist die Realität?“, fragt ein erboster Nutzer auf Weibo: „Jeden Tag fahren die Menschen in Bussen in Quarantäne!“.

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Von Fabian Kretschmer (Peking)

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