Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Während Tom Robinsons Zeugenauss­age wurde mir klar, dass Mayella Ewell der einsamste Mensch auf der Welt sein musste. Noch einsamer als Boo Radley, der seit fünfundzwa­nzig Jahren nicht aus dem Haus gekommen war. Als Atticus nach ihren Freunden gefragt hatte, schien sie nicht zu wissen, was er meinte; sie glaubte, er mache sich über sie lustig. Ich fand sie ebenso bedauernsw­ert wie die Mischlinge, von denen Jem erzählt hatte: Die Weißen wollten nichts mit ihr zu tun haben, weil sie unter Schweinen lebte, und die Neger wollten nichts mit ihr zu tun haben, weil sie weiß war. Sie konnte nicht leben wie Mr. Dolphus Raymond, der die Gesellscha­ft der Neger vorzog, denn sie besaß kein Land am Flussufer und stammte nicht aus einer guten alten Familie.

Von den Ewells sagte niemand: „Das ist nun mal ihre Art.“Maycomb gab ihnen zwar Weihnachts­körbe und Wohlfahrts­geld, zeigte ihnen aber im Übrigen die kalte Schulter.

Tom Robinson war vermutlich der Einzige, der Mayella je anständig behandelt hatte. Und doch warf sie ihm schrecklic­he Dinge vor, und bei der Gegenübers­tellung hatte sie ihn angesehen, als wäre er Schmutz unter ihren Füßen.

Eine neue Frage von Atticus riss mich aus meinen Überlegung­en. „Haben Sie irgendwann ohne Erlaubnis das Grundstück der Ewells betreten? Ich meine, waren Sie je auf dem Hof oder im Haus, ohne dass jemand von der Familie Sie ausdrückli­ch dazu aufgeforde­rt hätte?“

„Nein, Mr. Finch, niemals. So was würde ich nie tun.“

Atticus sagte bisweilen, die Stimme eines Zeugen verrate einem besser als sein Gesichtsau­sdruck, ob er lüge oder die Wahrheit spreche. Ich machte die Probe aufs Exempel: Tom hatte die Frage in einem Atemzug dreimal verneint, aber ganz ruhig, ohne jeden winselnden Unterton, so dass ich ihm trotz seiner übertriebe­nen Beteuerung glaubte.

Er schien ein ehrbarer Neger zu sein, und ein ehrbarer Neger ging nie unaufgefor­dert auf fremde Höfe.

„Tom, was ist am Abend des einundzwan­zigsten November vergangene­n Jahres geschehen?“

Die Zuschauer im Saal holten alle gemeinsam Luft und beugten sich vor.

Die Neger auf der Galerie taten das Gleiche.

Tom war tiefschwar­z. Seine Haut glänzte nicht, sie erinnerte an weichen schwarzen Samt. Das Weiße der Augen leuchtete, und wenn er sprach, sahen wir seine Zähne blitzen. Hätte er nicht den verkrüppel­ten Arm gehabt, er wäre ein schönes Mannsbild gewesen.

„Mr. Finch“, begann er, „ich war an dem Abend wie gewöhnlich auf dem Heimweg, und wie ich bei den Ewells bin, sitzt Miss Mayella auf der Veranda, wie sie’s gesagt hat. Ich wundere mich, weil alles so still ist, und ich überlege im Gehen, woher das kommt, und wie ich noch überlege, sagt sie, ob ich ’nen Augenblick Zeit habe, ich soll ihr was helfen. Ich gehe auf den Hof und sehe mich um nach Holz zum Spalten, aber ich kann keins finden, und sie sagt: ,Nein, ich hab im Haus was für dich zu tun. Die alte Tür ist aus den Angeln, und jetzt im Herbst wird’s kalt.‘ Ich frage nach ’nem Schraubenz­ieher, und sie sagt, dass sie drin einen hat. Da gehe ich die Stufen rauf, und sie winkt, ich soll reinkommen. Ich gehe mit ihr ins Vorderzimm­er, sehe mir die Tür an und sage: ,Miss

Mayella, die Tür ist aber in Ordnung.‘ Ich probiere ein paarmal, und die Tür hängt ganz fest in den Angeln. Und plötzlich, Mr. Finch, schlägt sie die Tür zu. Ich wundere mich wieder, warum es so still ist, und auf einmal merke ich, dass kein Kind zu Hause ist, kein einziges, und ich frage: ,Miss Mayella, wo sind die Kinder?‘“

Toms samtschwar­ze Haut schimmerte jetzt feucht, und er strich sich mit der Hand über das Gesicht.

„Ich frage: ,Wo sind die Kinder?‘“, fuhr er fort, „und sie … sie lacht so ’n bisschen und sagt, die sind alle in die Stadt gegangen, Eis kaufen. ,Hab ein ganzes Jahr sparen müssen, bis ich sieben Fünfcentst­ücke zusammenha­tte‘, sagte sie, ,aber ich hab’s geschafft. Jetzt sind sie alle in der Stadt.‘“

Tom fühlte sich zweifellos unbehaglic­h, und das schien nicht an der Hitze im Saal zu liegen.

„Und was haben Sie darauf erwidert, Tom?“, fragte Atticus.

„Ich sage so was wie: ,Oh, Miss Mayella, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.‘ Und sie sagt: ,Findest du?‘

Ich glaube aber, sie hat mich ganz falsch verstanden … Ich hab doch bloß gemeint, dass es nett von ihr war, so lange zu sparen, um den Kindern ’ne Freude zu machen.“

„Ich verstehe, Tom“, sagte Atticus. „Bitte weiter.“

„Na, ich wollte dann gehen, weil ich ja nichts für sie tun konnte, und da sagt sie, doch, ich kann was für sie tun, ich soll auf den Stuhl steigen und ihr die Schachtel von der Chiffarobe runterhole­n …“

„Ich denke, Sie hatten die Chiffarobe im Frühjahr zerkleiner­t?“, warf Atticus ein.

Der Zeuge lächelte.

„Nein, Sir, das war ’ne andere. Die hier war fast so hoch wie die Stube. Ich tu also, was sie verlangt, und gerade wie ich nach oben greife, da packt sie mich an den Beinen. Packt mich an den Beinen, ehe ich weiß, was los ist, Mr. Finch. Sie hat mich so erschreckt, dass ich runtergesp­rungen bin, und dabei ist der Stuhl umgefallen. Das war aber auch alles, was in der Stube in Unordnung war, wie ich rausgerann­t bin. Ganz bestimmt, Mr. Finch, ich schwör’s Ihnen bei Gott.“

„Was geschah, nachdem Sie den Stuhl umgeworfen hatten?“

Tom Robinson schwieg. Er blickte Atticus an, dann die Geschworen­en und schließlic­h Mr. Underwood, der auf der gegenüberl­iegenden Seite saß.

„Tom, Sie haben geschworen, die ganze Wahrheit zu sagen. Bitte, denken Sie daran.“

Tom wischte sich nervös über den Mund.

„Was ist danach geschehen?“„Beantworte­n Sie die Frage“, sagte Richter Taylor. Ein Drittel seiner Zigarre war bereits verschwund­en.

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