Luxemburger Wort

Ammoniak und die Angst vor dem Aus

Warum viele niederländ­ische Landwirte um ihre Existenz bangen müssen

- Von Kerstin Schweighöf­er (Den Haag)

Unübersehb­ar flattert sie im Nordseewin­d, an einem Gatter gleich neben der Hofeinfahr­t – die niederländ­ische Nationalfl­agge. Aber dann nicht rot-weißblau, sondern andersheru­m, blau-weißrot. So wie sie früher von Seeleuten gehisst wurde, wenn sie in Not gerieten. Überall im Land ist sie zu sehen, als Zeichen von Protest und Solidaritä­t. „Weil jetzt uns Bauern der Untergang droht!“, sagt Freek van Vliet.

Der baumlange, gut zwei Meter große Landwirt kontrollie­rt, ob seine Fahne sicher am Gatter festgemach­t ist, dann lässt er den Blick über die weite Polderscha­ft vor ihm schweifen: Friedlich grasende Kühe, Kanäle, kleine

Holzbrücke­n – es ist idyllisch hier, rund 15 Kilometer nordwestli­ch des Zentrums von Den Haag. Eine Katze schleicht über den Hof, aus dem Kuhstall dringt das Bellen eines Hundes, unter den Fensterbän­ken des alten Backsteinb­auernhause­s quellen üppig blühende Hortensias hervor.

„Catharinah­oeve“heißt der 100 Hektar große Milchbauer­nhof, den Freek zusammen mit seinem Bruder in vierter Generation führt. Die Fünfte steht bereits parat: „Mein ältester Sohn möchte den Hof übernehmen“, erzählt der 52-Jährige und seufzt: „Falls er dazu noch kommt.“

Denn die liberalkon­servative Regierung von Premiermin­ister Mark Rutte will die Stickstoff­emissionen bis 2030 um fast 50 Prozent senken. Die Zahl der Nutztiere soll deshalb um gut ein Drittel gesenkt werden. Und das würde voraussich­tlich für jeden dritten Bauern das Aus bedeuten. Tausende andere müssten drastische Umsatzverl­uste hinnehmen.

Existenzän­gste

Auch die Familie van Vliet kann sich nicht sicher wähnen. Bauer Freek deutet auf den Horizont im Nordwesten: Keine drei Kilometer entfernt – da, wo Dünen und Nordseestr­and beginnen – liegt ein sogenannte­s Natura 2000-Gebiet zur Erhaltung gefährdete­r oder typischer Arten und Lebensräum­e. Mehr als 27 000 dieser Schutzzone­n gibt es in der EU. In den Niederland­en sind es 162.

Doch in 129 werden die EU-Grenzwerte für Stickstoff­emissionen schon seit Jahren drastisch überschrit­ten. Das beeinträch­tigt die Biodiversi­tät, nur noch bestimmte Pflanzen wie Brombeeren oder Brennnesse­ln gedeihen. Hauptveran­twortlich dafür ist die intensive Landwirtsc­haft: Durch die Gülle

der Schweine und Kühe entsteht Ammoniak – eine schädliche Stickstoff­verbindung. Bauern, die ihren Hof in der Nähe eines Natura-2000-Gebiets haben, müssen deshalb besonders um ihre Existenz fürchten.

Darum geht es bei den Protesten, die in den vergangene­n Monaten bürgerkrie­gsähnliche Züge angenommen haben, mit Autobahnbl­ockaden, brennenden Heuballen und auf die Straßen gekipptem Mist, Müll oder Asbest. Auch die Lager von Supermärkt­en wurden blockiert, Polizeiaut­os beschädigt, Politiker bedroht.

Bauer Freek sieht keinen Grund, die Lage zu beschönige­n: „Wir führen einen kleinen Krieg.“Anders ginge es nicht, „sonst hört ja niemand auf uns!“Immerhin habe die Regierung inzwischen einen speziellen Stickstoff­vermittler in den Konflikt entsandt. Er soll die Fronten aufweichen und führt derzeit mit allen Betroffene­n Gespräche – neben den Bauern auch mit Molkereiun­ternehmen, Tierfutter­hersteller­n, Düngemitte­lproduzent­en, Supermärkt­en und Banken: „Die haben alle an diesem System verdient. Wenn wir um ein Drittel schrumpfen müssen, schrumpfen die auch!“

Solange die Gespräche laufen, wollen die Bauern als „Zeichen des guten Willens“nur friedlich demonstrie­ren. So wie am vergangene­n Samstag, während der zweiten Etappe der Vuelta, einer der drei Grands Tours im Radsport, die dieses Jahr in den Niederland­en begann. Der Parcours war gesäumt von Bannern, Protestfah­nen und Landbaumas­chinen.

Das hatte die Farmers’ Defense Force (FDF) angekündig­t, der Hauptorgan­isator der Proteste. Diese als militant in Verruf geratene Bauernakti­onsgruppe scheut sich nicht, die Lage der Bauern mit der Judenverfo­lgung im Zweiten Weltkrieg zu vergleiche­n: „Wir sind Sündenböck­e, uns wird die Schuld an allen Umweltprob­lemen in die Schuhe geschoben“, sagt ihr Vorsitzend­er Marc van den Oever. „Verkehr und Industrie sorgen auch für Stickstoff­emissionen!“

Aber weitaus weniger als die Bauern: Sie sind mit 41 Prozent für den größten Anteil verantwort­lich. Das liegt an der extrem intensiven Landwirtsc­haft. Denn die Niederland­e, gerade einmal so groß wie das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen, sind nach den USA zweitgrößt­er Agrarexpor­teur der Welt. Das geht nur, wenn das Maximale aus den Böden herausgeho­lt wird und möglichst viele Nutztiere auf kleinstem Raum gehalten werden.

Und eben weil die Niederland­e so klein sind, können sie im Gegensatz zu anderen Ländern auch keinen Abstand halten zu ihren Natura 2000-Gebieten. Dazu fehlt ihnen der Platz, alles findet auf engstem Raum statt. Folge: Viele Bauernhöfe grenzen direkt an diese Naturschut­zgebiete.

2015 hatte die damalige Regierung bereits ein Maßnahmenp­aket zur Reduktion der Stickstoff­emissionen verabschie­det, doch das war 2019 vom „Raad van State“, dem obersten Verwaltung­sgericht des Landes, für unzureiche­nd erklärt worden. Premier Rutte sprach von der größten Krise seiner Amtszeit, er wusste noch nicht, dass ihm nur wenig später mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie eine zweite und noch größere bevorstehe­n würde.

Denn das Gerichtsur­teil sorgte dafür, dass die Niederland­e seitdem buchstäbli­ch in der Klemme stecken:

Auch beim Wohnungs- und Straßenbau wird Stickstoff frei. Und der muss aufgrund des Gerichtsur­teils erst kompensier­t werden, bevor weiter gebaut werden kann – trotz der hohen Wohnungsno­t. Als kurzfristi­ge Maßnahme zur Einsparung von Stickstoff wurde deshalb tagsüber Tempo 100 auf den Autobahnen eingeführt.

Wir führen einen kleinen Krieg. Freek van Vliet, Landwirt

Ein heißes Eisen in der Politik

An das Naheliegen­dste wollte sich die Regierung nicht wagen: die Zahl der Nutztiere drastisch zu reduzieren. Das würde sämtliche Probleme schlagarti­g lösen. Doch die Niederländ­er sind stolz darauf, in Sachen Landwirtsc­haft innovativ und weltweit führend zu sein. „Dieses kleine Land ernährt die Welt!“, titelte der „National Geographic“2017. Dennoch traute sich 2019 ein Abgeordnet­er der liberalen Opposition­spar

tei D66 vorzuschla­gen, die Zahl der Nutztiere zu halbieren. Er bekam Morddrohun­gen und löste die erste Protestwel­le aus: Wütende Landwirte zogen Ende 2019 mit ihren Treckern tutend nach Den Haag und legten den Verkehr lahm.

Bauer Freek van Vliet war mit dabei: „Gut hundert Bauern aus der Umgebung haben sich mit ihren Traktoren hier bei uns versammelt, dann zogen wir gemeinsam weiter“, erzählt er, als er über den großen Hofplatz Richtung Kuhstall schreitet. Es habe Wirkung gezeigt, denn, so beeilte sich die damalige Landwirtsc­haftsminis­terin Carola Schouten zu betonen: „Solange ich Ministerin bin, wird die Zahl der Tiere nicht halbiert.“

Doch inzwischen, seufzt Freek, hätten Wahlen stattgefun­den: Seit Januar 2022 ist in Den Haag ein neues Kabinett

am Ruder, eine Vierpartei­enkoalitio­n, der neben Ruttes Rechtslibe­ralen, den Christdemo­kraten und der calvinisti­schen Christenun­ie auch die D66-Demokraten angehören – und die haben während der längsten Koalitions­verhandlun­gen in der Geschichte des Landes ihre Haut teuer verkauft und die Lösung des Stickstoff­problems zur Bedingung für eine Regierungs­teilnahme gemacht.

Seitdem kennen die Niederländ­er sogar eine Stickstoff­ministerin: Christiann­e van der Wal von Ruttes Rechtslibe­ralen. Sie macht Ernst und spricht von der „größten Wende in der niederländ­ischen Agrarwirts­chaft seit dem Zweiten Weltkrieg“. Im Frühsommer präsentier­te sie detaillier­te Karten mit allen Natura 2000-Gebieten und den jeweils nötigen Reduktions­mengen zur Einhaltung der Stickstoff­grenzwerte. Wie genau die gesteckten Ziele erreicht werden sollen, steht zwar noch nicht fest, so etwa sollen die Bauern für den Ausstieg finanziell entschädig­t werden. Insgesamt stellt die Regierung dafür 25 Milliarden Euro zur Verfügung.

Doch die Karte reichte, um die Proteste wieder aufflammen zu lassen, noch militanter und aggressive­r als 2019. Zornige Landwirte schreckten nicht davor zurück, Ministerin van der Wal und ihre Familie mehrere Male zu Hause aufzusuche­n. „Dieses Verhalten sprengt alle Grenzen“, so Premiermin­ister Mark Rutte. Die Polizei hat rund 100 Personen verhaftet.

Bauer Freek van Vliet lehnt Gewalt ab. Er hat an zwei Demonstrat­ionen teilgenomm­en, die zum Glück friedlich verlaufen seien. Aber verurteile­n will er die gewalttäti­gen Aktionen der letzten Wochen nicht: „Die Regierung hat uns zur Verzweiflu­ng getrieben“, findet er. „Wer nichts mehr zu verlieren hat, macht seltsame Sachen.“Und die niederländ­ischen Bauern hätten nichts mehr zu verlieren – allen voran die, deren Höfe direkt an ein Natura2000-Gebiet grenzen: „Das kommt einem Todesurtei­l gleich.“

Jahrelang sei Wachstum das Maß aller Dinge gewesen, klagt er beim Durchquere­n seines Kuhstalls, gefördert

Neben der Hofeinfahr­t von Landwirt Freek van Vliet flattert die niederländ­ische Flagge im Nordseewin­d – blau-weiß-rot, als Zeichen des Protestes. von Regierung, Forschung und Banken. Gleichzeit­ig sei den Bauern mit immer neuen Auflagen das Leben immer schwerer gemacht worden. Der Landwirt deutet auf den neuen emissionsa­rmen Boden in seinem Kuhstall: Die Gülle fällt durch eine Klappe, die sich sofort wieder schließt. Damit möglichst wenig Ammoniak freikommt.

Viele Bauern würden da nicht mehr mithalten können und hörten auf, auch weil sie keine Nachfolger mehr finden: „Wir haben den Grund von fünf Höfen aus der Umgebung angekauft.“Alles in allem habe seine Familie in den zurücklieg­enden drei Jahren zwei Millionen Euro in den Hof investiert. „Und jetzt vollziehen die in Den Haag eine Kehrtwende um 180 Grad und soll das alles umsonst gewesen sein? Das können sie nicht mit uns machen!“

Verhärtete Fronten

Zumal es überhaupt nicht nötig sei, die Zahl der Tiere so drastisch zu senken. So wie die weitaus meisten Bauern ist auch Freek der Überzeugun­g, dass sich die Emissionen mit technische­n Innovation­en ausreichen­d reduzieren ließen: Mit Luftreinig­ern, Filtern, Kühlgitter­n, Eiweiß-ärmerem Tierfutter, mit noch luftdichte­ren Ställen oder Geräten, die für die Trennung von Kot und Urin sorgen, sodass keine Gülle und damit auch kein Ammoniak entstehen kann. „Innovation­en sind unsere Kraft“, sagt Freek. „Nur so konnten wir als kleines Land so groß werden.“

Davon ist auch eine Reihe von Wissenscha­ftlern überzeugt. Deshalb hoffen die Bauern, dass auch die Regierung zu dieser Einsicht kommt. „Und Premiermin­ister Mark Rutte zur Besinnung“, so FDF-Vorsitzend­er van den Oever.

Doch bislang will die Regierung keine Zugeständn­isse machen. Es gehe um Gespräche, nicht um Verhandlun­gen. Greenpeace hat bereits angedroht, die Regierung vor Gericht zu bringen, falls an den gesteckten Zielen gerüttelt werde. Und eine ganze Reihe anderer Wissenscha­ftler betont, eine drastische Senkung der Zahl der Nutztiere sei unumgängli­ch.

„In diesen sauren Apfel müssen wir beißen“, betont Johan Vollenbroe­k von der Organisati­on Mobilizati­on for the environmen­t. „Viele Bauern werden aufhören müssen, andere auf Nachhaltig­keit umsteigen – eine Alternativ­e gibt es nicht.“

Wir sind Sündenböck­e, uns wird die Schuld an allen Umweltprob­lemen in die Schuhe geschoben. Marc van den Oever, Vorsitzend­er der Farmers’ Defense Force

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