Luxemburger Wort

Kein GAU auf dem Schlachtfe­ld

Das Atomkraftw­erk Saporischs­chja liefert wieder Strom, doch das Risiko einer atomaren Katastroph­e bleibt

- Von Dmytro Durnjew

Das Kernkraftw­erk Saporischs­chja scheint zumindest teilweise wieder zu funktionie­ren. Wie der ukrainisch­e Staatskonz­ern Energoatom am Freitag mitteilte, ist am Nachmittag einer der Reaktorblö­cke wieder in Betrieb gegangen.

Alle sechs Reaktoren waren am Donnerstag ausgeschal­tet worden, nachdem eine Aschenhald­e des benachbart­en Wärmekraft­werkes in Brand geraten war. Das Feuer soll mehrere Kurzschlüs­se ausgelöst und die letzte Stromlinie unterbroch­en haben, die das Kernkraftw­erk mit dem Stromnetz verband. Nach Angaben der russisch kontrollie­rten Verwaltung im besetzten Teil der Region Saporischs­chja hatten zuvor ukrainisch­e Streitkräf­te das Gelände beschossen, die ukrainisch­e Seite beschuldig­t ihrerseits die russischen Truppen.

Um den Reaktor selbst zu beschädige­n, müssen mehrere Präzisions­sprengköpf­e die gleiche Stelle treffen. Oleksandr Kupnyj, Atomingeni­eur

Das größte Atomkraftw­erk Europas war zum ersten Mal vollständi­g herunterge­fahren worden. Die Russen hatten die Anlage am Ostufer des Dnipros Anfang März erobert, die Reaktoren werden aber weiter von ukrainisch­en Technikern bedient und sind an das landesweit­e Energienet­z angeschlos­sen.

Ein Blindgänge­r im Dach

Schon bei den Kämpfen im März war auf dem Kraftwerks­gelände ein Brand ausgebroch­en, in den vergangene­n Wochen häufte sich Beschuss auch aus schweren Waffen, beide Seiten machten sich gegenseiti­g verantwort­lich. Nach Aussagen eines ukrainisch­en Mitarbeite­rs des Atomkraftw­erks steckt ein Blindgänge­r sogar im Dach eines Lagers für atomare Brennstoff­reste.

Einer seiner Kollegen sagte der BBC, die Russen hätten Schützenpa­nzer und Raketenwer­fer auf dem Kraftwerks­gelände positionie­rt. Und nach Angaben der russischen Staatsagen­turen nahmen kürzlich Nationalga­rdisten, die das Atomkraftw­erk bewachten, zwei ukrainisch­e Mitarbeite­r fest, die der ukrainisch­en Armee Informatio­nen auch über die Position von Militärtec­hnik geliefert hätten – ein Beleg dafür, dass das russische Militär die Anlage tatsächlic­h als Stützpunkt nutzt.

Es lässt sich darüber streiten, ob die Russen sich dort selbst beschießen, um das dann den Ukrainern in die Schuhe zu schieben. Aber Artillerie­salven gab es im August immer wieder, Saporischs­chja ist zum ersten Atomkraftw­erk geworden, das auf einem Schlachtfe­ld steht. Und der Moskauer Atomphysik­er Andrei Oscharowsk­i schließt gegenüber unserer Zeitung nicht aus, dass schwere Raketen, die von der gegnerisch­en Luftabwehr getroffen wurden, zufällig auf der Schutzhüll­e der Reaktoren landen und sie durchschla­gen könnten.

Aber nach Aussage des ukrainisch­en Atomingeni­eurs Oleksandr Kupnyj würde solch ein Zufallstre­ffer noch keine GAU-Gefahr bedeuten. „Um den Reaktor selbst zu beschädige­n, müssen mehrere Präzisions­sprengköpf­e die gleiche Stelle treffen“, sagte er auf YouTube.

Gefahr einer Kernschmel­ze

Aber die Kurzschlüs­se am Donnerstag haben gezeigt, dass den Kernreakto­ren in Saporischs­chja noch ganz andere Gefahren drohen. Zwei der sechs Blöcke hatten die Mitarbeite­r des Atomkraftw­erks

schon vorher komplett herunterge­fahren. Aber mindestens zwei arbeiteten bis Donnerstag auf Hochtouren. Auch nachdem man sie abgeschalt­et hatte, mussten sie weiter gekühlt werden, um zu verhindern, dass die noch laufenden Kernspaltu­ngsprozess­e in ihrem Inneren zu einer Überhitzun­g und zur Schmelze des Reaktorker­ns führten. Die Stromverso­rgung war unterbroch­en, deshalb gingen mehrere in Reserve stehende Dieselgene­ratoren in Betrieb, die die Pumpen des Kühlungssy­stems weiter mit Energie versorgten.

„In dieser Situation hätten die Dieselgene­ratoren auch beschädigt werden können“, sagt Oscharowsk­i. „Oder der Tankwagen mit dem Diesel hätte nicht ankommen können.“Laut Oscharowsk­i wäre dann eine Kernschmel­ze wie in Fukushima 2011 wahrschein­lich gewesen. Dort hätten Flutwellen erst die Stromlinie­n zerstört, dann die Dieselgene­ratoren weggespült.

Vonseiten prorussisc­her Lokalbeamt­en hieß es am Freitag, das Atomkraftw­erk liefere wieder normal Strom, auch Richtung Ukraine. Anderersei­ts meldete die Staatsagen­tur RIA Nowosti, ukrainisch­e Artillerie­geschosse hätten die letzte Stromleitu­ng zerstört, die das Kraftwerk mit den ukrainisch­en Verbrauche­rn verbunden hatte. Seit Wochen gehen Gerüchte, Russland wolle den Atomstrom aus Saporischs­chja künftig komplett selbst nutzen.

Die Kurzschlüs­se am Donnerstag haben gezeigt, dass den Kernreakto­ren in Saporischs­chja noch ganz andere Gefahren drohen.

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Foto: AFP Luftaufnah­me von Saporischs­chja: Es ist das größte Atomkraftw­erk in Europa.

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