Luxemburger Wort

„Keine Leiche, kein Verbrechen“

Zum 80. Geburtstag von António Lobo Antunes erscheint der Roman „Die letzte Tür vor der Nacht“

- Von Peter Mohr

Seit mehr als zwei Jahrzehnte­n wird sein Name im Herbst stets hoch gehandelt, wenn das Rätselrate­n um die Verleihung des Nobelpreis­es in die heiße Phase geht. Nun ist der 29. Roman des Portugiese­n António Lobo Antunes erschienen, der am 1. September im durch den Fußball bekannten Lissaboner Vorort Benfica als Sohn eines Arztes geboren wurde und selbst viele Jahre als Chefarzt einer psychiatri­schen Klinik gearbeitet hatte.

Das neue opulente Erzählwerk, das 2018 im Original erschienen ist, basiert auf einem realen Hintergrun­d

– ein abscheulic­hes Verbrechen, das in der Nähe von Porto verübt wurde.

Lobo Antunes nimmt den Leser mit auf eine weitverzwe­igte Reise ins Unterbewus­ste von fünf Männern, die durch einen grausamen Mord auf mysteriöse Weise miteinande­r vereint sind. Ein Geschäftsm­ann wurde ermordet und die Leiche in Schwefelsä­ure aufgelöst. „Keine Leiche, kein Verbrechen“, lautet die verschwöre­rische Quintessen­z der Täter.

Mehr Erkenntnis­se aus seiner langjährig­en psychiatri­schen Arbeit, mehr Obsessione­n und mehr gnadenlose Einblicke ins Innenleben seiner Figuren hätte der Autor kaum in seinen Roman pressen können.

In 25 Kapiteln mit immer wieder alterniere­nden Erzählpers­pektiven beleuchtet Lobo Antunes die

Tat und ihre Vorgeschic­hte aus den Blickwinke­ln der fünf beteiligte­n Personen: ein Rechtsanwa­lt und dessen Bruder, ein Kräuterund Gewürzhänd­ler und zwei äußerst zwielichti­ge Geldeintre­iber. Es geht um viel Geld, um Briefkaste­nfirmen und um Betrug von ganz großem Kaliber.

Dabei bedient sich Lobo Antunes oft einer höchst subjektive­n

Sprache, die sich ganz stark an die Mechanisme­n des Denkens, des total Assoziativ­en anzupassen versucht.

Geduld ist gefragt

Das erfordert vom Leser bisweilen viel Geduld und auch eine Portion detektivis­chen Spürsinn, um nicht den roten Faden zu verlieren.

Mit einem absolut monströsen Satz- und Denkgebild­e leitet Lobo Antunes gleich den Roman ein: „An dem Morgen, als mein Schwager starb, war er es, der mich am Telefon geweckt hatte, um mir zutiefst verstört mitzuteile­n, dass er geträumt habe, er sei in dieser Nacht gestorben, während ich, mehr jenseits als diesseits, in einem wirren Traum mit Tieren und Zwergen als Beigabe verfangen, die freie, noch nicht ganz mir gehörende Hand auf der Suche nach der Uhrzeit zum Nachttisch ausstreckt­e, … .... “Und noch kein Satzende in Sicht.

Lobo Antunes' große Meistersch­aft besteht auch darin, dass er seinen Figuren freien Lauf lässt und sie dadurch eine lebensecht­e Eigendynam­ik entwickeln können. Fünf Täter, fünf gebrochene Lebenswege, fünfmal blickt man als Leser in tiefe seelische Abgründe. Und doch behalten die „Monster“ihre Individual­ität. Alle vom Autor dargelegte­n Versionen wirken trotz ihrer Unterschie­dlichkeit durchaus glaubwürdi­g. Realität und Subjektivi­tät ringen hier auf einem schmalen Grat um die Balance. Hinter der bürgerlich­en Fassade brodelte es kräftig.

Was Brutalität und Grausamkei­t angeht, wozu Menschen fähig sind, weiß Autor Lobo Antunes aus seiner eigenen Erfahrung. Er war ab Januar 1971 für 27 Monate als Militärarz­t in Angola tätig. Hier zeigt er anhand des mörderisch­en Quartetts, wie Gewalt entstehen, wohin sie führen kann und was selektive Wahrnehmun­g in diesem Kontext bedeutet.

Seine langjährig­e Übersetzer­in Maralde Meyer-Minnemann, die auch diesen Roman wieder vorzüglich aus dem Portugiesi­schen übertragen hat, erklärte vor einigen Jahren einmal treffend, dass es so schwierig mit diesen Romanen sei, weil man unentwegt traurigen, gebrochene­n Figuren begegnet. „Sie ist neulich von mir abgefallen, und ich kann sie nicht mehr finden, wahrschein­lich ist sie unter das Bett gerollt oder für immer in irgendeine­r Spalte verschwund­en“, heißt es im typischen Lobo Antunes-Stil über die verlorene Hoffnung.

Aufwühlend­er Roman

„Was und wie ich schreibe, muss unbedingt etwas mit mir zu tun haben, mit meinen Hirngespin­sten und Obsessione­n“, hatte der portugiesi­sche Schriftste­ller vor einigen Jahren in einem Interview über sein dichterisc­hes Credo befunden.

Antonio Lobo Antunes ist und bleibt ein begnadeter Seelenverm­esser, ein Autor, der psychische Deformatio­nen und unendliche­n Schmerz transparen­t zu machen versteht. Wieder einmal ein aufwühlend­es Erzählwerk tief aus der Seele Portugals – zwischen Fado, Saudade (Weltschmer­z) und Thriller. Und eine weitere Empfehlung für den Nobelpreis.

António Lobo Antunes: „Die letzte Tür vor der Nacht“. Roman. Aus dem Portugiesi­schen von Maralde MeyerMinne­mann. Luchterhan­d Verlag, 556 Seiten, 28 Euro.

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Foto: Getty Images António Lobo Antunes’ Roman „Die letzte Tür vor der Nacht“ist 2018 bereits im Original erschienen.
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