Und überall ist Leben, überall
Das Feingefühl bei Ferdinand von Schirach, Menschen eben nicht zu werten, auch wenn sie Grausames tun
Ferdinand von Schirach hat neue Kurzgeschichten geschrieben. „Nachmittage“heißt das Buch, es sind Geschichten voller Zufälle, falscher Entscheidungen und schrecklicher Verbrechen, wie gewohnt in einem sehr kontrollierten Ton. Der Schriftsteller und Rechtsanwalt hält sich mit dem Urteilen zurück, ja, Zurückhaltung lautet auch diesmal wieder die Lösung. Weltgewandt, resigniert und hartgesotten erzählt er von milden Frühsommermorgen, verregneten Nachmittagen und schwarzen Nächten, von komplizierten Beziehungen, romantischen Liebschaften und kuriosen Begegnungen. Jeweils zum Schluss der einzelnen Episoden – auch das ist nicht neu – wechselt der Schriftsteller den Standpunkt, um so das Überraschende und manchmal auch Unmögliche loszuwerden, wobei die literarische Erzählung oft auch zu einer juristischen wird, zu einer Frage von Gut und Böse.
Es ist dieser Überraschungseffekt, der auf den Leser beunruhigend wirkt und ihn deshalb in die
Ferdinand von Schirach erzählt vom Leben.
Kurzgeschichten hineinzieht. Dem Schriftsteller gelingt es, das Absurde des menschlichen Daseins zu unterstreichen und zu zeigen, wie schnell im Leben der Pendel in die eine oder in die andere Richtung ausschlagen kann – mit verheerenden Auswirkungen. Ist es dieses Unbehagen, das sich immer wieder ins Leben einschleichen kann und das der Erzähler so ganz besonders beschreibt, das seine Geschichten am Ende so faszinierend macht? Oder ist es sein Feingefühl, Menschen eben nicht zu werten, auch wenn sie Grausames tun, wie etwa der Kinobesitzer Mero?
Er hat ein gestrandetes Girl bei sich aufgenommen, er hilft ihr und nutzt sie letztlich dann doch aus, er ist eine Figur, die sowohl das Gute wie das Böse vereint. „Mero war ein Schwein und gleichzeitig ein guter Mensch.“
Ferdinand von Schirach erzählt vom Leben. „Und überall ist Leben, überall“, schreibt er, nachdem er im Duisburger Lehmbruck Museum die Skulptur „Die Frau auf dem Wagen“von Alberto Giacometti bewundert hat. Zwölf Jahre zuvor hatte er sie dort bereits ein erstes Mal gesehen. Giacometti schuf die magische Erscheinung einer Frau, so wie er sie eines Abends auf dem Boulevard SaintMichel in Paris gesehen haben soll.
Und genauso wie diese Skulptur des Bildhauers sind auch die Geschichten von Ferdinand von
Schirach eine Mischung aus Kunst und Erlebtem, aus Fiktion und Persönlichem. Sie spielen in Berlin, Pamplona, Oslo, Tokio, Zürich, New York, Marrakesch, Taipeh und Wien, die Reisen des Schriftstellers führen aber auch zu Kunst, Literatur und Film.
Auch diesmal findet der Leser ganz bestimmt wieder Gefallen am Schreibstil des Schriftstellers – knapp und nüchtern, nichts zu viel, nichts zu wenig. Damit fesselt er seine Leser. Die Geschichten wirken dadurch umso authentischer, auch wenn bei manchen die Pointe doch recht platt ist. Man hat ein bisschen den Eindruck, als sei der Rechtsanwalt von Schirach mittlerweile ganz am Ende seiner Archivschublade angelangt.
Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“, Kurzgeschichten, Luchterhand Literaturverlag,
175 Seiten, 22 Euro.