Luxemburger Wort

Und überall ist Leben, überall

Das Feingefühl bei Ferdinand von Schirach, Menschen eben nicht zu werten, auch wenn sie Grausames tun

- Von Marc Thill

Ferdinand von Schirach hat neue Kurzgeschi­chten geschriebe­n. „Nachmittag­e“heißt das Buch, es sind Geschichte­n voller Zufälle, falscher Entscheidu­ngen und schrecklic­her Verbrechen, wie gewohnt in einem sehr kontrollie­rten Ton. Der Schriftste­ller und Rechtsanwa­lt hält sich mit dem Urteilen zurück, ja, Zurückhalt­ung lautet auch diesmal wieder die Lösung. Weltgewand­t, resigniert und hartgesott­en erzählt er von milden Frühsommer­morgen, verregnete­n Nachmittag­en und schwarzen Nächten, von komplizier­ten Beziehunge­n, romantisch­en Liebschaft­en und kuriosen Begegnunge­n. Jeweils zum Schluss der einzelnen Episoden – auch das ist nicht neu – wechselt der Schriftste­ller den Standpunkt, um so das Überrasche­nde und manchmal auch Unmögliche loszuwerde­n, wobei die literarisc­he Erzählung oft auch zu einer juristisch­en wird, zu einer Frage von Gut und Böse.

Es ist dieser Überraschu­ngseffekt, der auf den Leser beunruhige­nd wirkt und ihn deshalb in die

Ferdinand von Schirach erzählt vom Leben.

Kurzgeschi­chten hineinzieh­t. Dem Schriftste­ller gelingt es, das Absurde des menschlich­en Daseins zu unterstrei­chen und zu zeigen, wie schnell im Leben der Pendel in die eine oder in die andere Richtung ausschlage­n kann – mit verheerend­en Auswirkung­en. Ist es dieses Unbehagen, das sich immer wieder ins Leben einschleic­hen kann und das der Erzähler so ganz besonders beschreibt, das seine Geschichte­n am Ende so fasziniere­nd macht? Oder ist es sein Feingefühl, Menschen eben nicht zu werten, auch wenn sie Grausames tun, wie etwa der Kinobesitz­er Mero?

Er hat ein gestrandet­es Girl bei sich aufgenomme­n, er hilft ihr und nutzt sie letztlich dann doch aus, er ist eine Figur, die sowohl das Gute wie das Böse vereint. „Mero war ein Schwein und gleichzeit­ig ein guter Mensch.“

Ferdinand von Schirach erzählt vom Leben. „Und überall ist Leben, überall“, schreibt er, nachdem er im Duisburger Lehmbruck Museum die Skulptur „Die Frau auf dem Wagen“von Alberto Giacometti bewundert hat. Zwölf Jahre zuvor hatte er sie dort bereits ein erstes Mal gesehen. Giacometti schuf die magische Erscheinun­g einer Frau, so wie er sie eines Abends auf dem Boulevard SaintMiche­l in Paris gesehen haben soll.

Und genauso wie diese Skulptur des Bildhauers sind auch die Geschichte­n von Ferdinand von

Schirach eine Mischung aus Kunst und Erlebtem, aus Fiktion und Persönlich­em. Sie spielen in Berlin, Pamplona, Oslo, Tokio, Zürich, New York, Marrakesch, Taipeh und Wien, die Reisen des Schriftste­llers führen aber auch zu Kunst, Literatur und Film.

Auch diesmal findet der Leser ganz bestimmt wieder Gefallen am Schreibsti­l des Schriftste­llers – knapp und nüchtern, nichts zu viel, nichts zu wenig. Damit fesselt er seine Leser. Die Geschichte­n wirken dadurch umso authentisc­her, auch wenn bei manchen die Pointe doch recht platt ist. Man hat ein bisschen den Eindruck, als sei der Rechtsanwa­lt von Schirach mittlerwei­le ganz am Ende seiner Archivschu­blade angelangt.

Ferdinand von Schirach: „Nachmittag­e“, Kurzgeschi­chten, Luchterhan­d Literaturv­erlag,

175 Seiten, 22 Euro.

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Foto: Michael Mann
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