Autos raus, Fußgänger und Radfahrer rein
Wie die belgische Hauptstadt mit dem Plan „Good move“auf sanfte Mobilität setzt
Wer sich derzeit in den sozialen Netzwerken in Belgien aufhält, könnte denken, in Brüssel hätte während der Sommerferien klammheimlich eine Revolution stattgefunden: Das Auto wäre komplett verboten, der Stadtkern dadurch ausgestorben und kein Mensch käme mehr vom Fleck. Brüssel „wird jeden Tag etwas mehr getötet“, regt sich etwa Georges-Louis Bouchez auf, der Chef der rechtsliberalen frankofonen Partei MR.
Der Grund? Der neue Mobilitätsplan der Innenstadt „erhöht die Umweltverschmutzung, tötet die Wirtschaft und zerstört das Wohlbefinden“, sagt er. Parteigenossen und Gleichgesinnte nicken und klagen, dass man bei kurzen Strecken nunmehr unendlich lange im Stau steht. So beschwert sich eine andere liberal-konservative Politikerin, dass der Heimweg aus der Designer-Shopping-Straße Dansaert Richtung Szeneviertel Ixelles (keine vier Kilometer Entfernung) mit dem Auto ewig gedauert habe.
Doch genau so soll es sein, verteidigen sich die Befürworter und Entwerfer des Planes, den sie „Good move“genannt haben. „Der Durchgangsverkehr muss entmutigt werden“, sagt etwa Elke Van den Brandt, die grüne Verkehrsministerin der Region Brüssel.
Transitverkehr verhindern
Die Idee hinter dem Plan, der sich auf die gesamte Region (also die 19 Gemeinden der Stadt Brüssel) anwenden wird, ist eigentlich simpel: Der Autoverkehr soll innerhalb der Viertel erschwert und konsequent Richtung große Fahrachsen verlegt werden. Autos sollen demnach noch immer in und durch die Stadt fahren dürfen – doch müssen Autofahrer sich nunmehr gut überlegen, ob es sich wirklich lohnt, jede Strecke innerhalb eines Viertels auch mit dem Fahrzeug zurückzulegen.
Die Brüsseler Behörden erhoffen sich, dass Wohn- und Einkaufsviertel dadurch an Lebensqualität gewinnen, da weniger Autos auch weniger Lärm, weniger Luftverschmutzung und mehr Sicherheit bedeuten. In der Brüsseler Innenstadt mache der Transitverkehr 30 Prozent der Autos aus, so Van den Brandt. „Es geht darum, den nicht notwendigen Verkehr aus der Stadt zu halten“, so die Ministerin. „Der Lokalverkehr wird bleiben, aber andere Nutzer, wie etwa Fußgänger und Radfahrer, werden in Zukunft mehr Platz erhalten.“
Der Regionalplan wird nun in den Vierteln und Gemeinden der Stadtregion durchdekliniert – besonders viel Aufmerksamkeit hat die Reform aber erst in den vergangenen Wochen erhalten, da der Stadtkern nun damit begonnen hat. „Wir verlassen das Brüssel der 1960er- und 1970er-Jahre, als alles für Autos gebaut wurde, und bewegen uns in eine völlig andere Richtung, in der die Stadt den Menschen gehört“, gratuliert sich der grüne Mobilitätsschöffe der Stadtmitte, Bart Dhondt, in der internationalen Presse.
Brüssel malt sich sein Straßennetz neu.
„Der größte Teil unseres Verkehrs kommt von Leuten, die anderswo hinwollen, also schicken wir sie aus dem Stadtzentrum raus“, sagt er. „Das Ziel von alldem ist es, mehr Platz zum Leben zu schaffen: für Kinder zum Spielen und damit die Bewohner sich sicher fühlen, um dort mit dem Fahrrad zu fahren“, fügt er hinzu.
Unspektakulär, aber effizient
Wie genau das passiert, ist ziemlich unspektakulär. Wer sich riesige Infrastrukturreformen erwartet hat, wird enttäuscht. Stattdessen gibt es einige klinische Eingriffe, die den Verkehr reduzieren und umlenken sollen: So werden etwa viele zweispurige Straßen der Innenstadt zu Einbahnstraßen umdefiniert.
Der gewonnene Raum steht dann Bussen und Radfahrern zur Verfügung.
Wer dieser Tage mit dem Rad durch Brüssel unterwegs ist, erkennt daher keinen riesigen Unterschied. Die Straßen der Innenstadt wirken dennoch bereits etwas ruhiger und die Dichte an Autos ist sichtbar kleiner geworden – ob dies wegen des neuen Mobilitätsplans oder wegen der Sommerferien ist, bleibt allerdings noch abzuwarten.
Gelegentlich trifft man auch auf einen genervten Autofahrer, der von einer rezenten Änderung überrascht wird und auf einmal vor einer Einbahnstraße steht. Doch das sei in der Anfangsphase normal, beruhigt Van den Brandt. „Am
Das Ziel der Reform: mehr Platz für Menschen.
Anfang müssen die Menschen ihren Weg neu entdecken, das bedarf durchaus einer Anpassung.“Insgesamt wirkt der Stadtkern aber wie immer: Touristen strömen glücklich durch die kleinen Gassen rund um die Grand-Place, die Terrassen sind voll und man sieht immer mehr Fahrräder.
Genau deswegen lassen sich Bart Dhondt und Elke van der Bandt nicht von den alarmistischen Tönen der Liberalkonservativen, wonach der Einzelhandel in Brüssel durch ihre vermeintliche Anti-Auto-Politik am Sterben sei, aus der Ruhe bringen. „Ähnliche Reformen haben in anderen Städten zu einer Stärkung des Lokalhandels geführt“, sagt etwa Van den Brandt. „Ich shoppe auch lieber in einer ruhigen, angenehmen Straße als direkt neben einer Autobahn.“Ihre Vision deckt sich demnach mit den Interessen der Geschäftsleute, sagt sie, denn wird die Stadt angenehmer für Fußgänger, bleiben die Leute länger zum Einkaufen.
Der Blick durch die Stadtmitte scheint der Ministerin recht zu geben: Geschäfte bauen aus, Restaurants und Bars freuen sich über mehr Platz für Terrassen – dass die belgische Hauptstadt leblos sei, ist schlicht eine realitätsfremde Behauptung.
Die Aufregung über „Good move“ist in Brüssel dennoch so groß, weil das Thema Auto immer wieder als Ventil für viele politische Frustrationen dient: Ähnlich wie in Luxemburg tobt auch in Belgien der Kulturkampf zwischen konservativen Autonutzern (die vom liberalen MR umgarnt werden) und jüngeren Verfechtern einer sanfteren Mobilität. Fakten spielen bei den Konservativen dabei oft eine untergeordnete Rolle. Brüssel – die einzige zweisprachige Stadt Belgiens – muss auch ein Gleichgewicht zwischen den sehr fahrradaffinen Flamen, die nah am Stadtkern leben, und den motorisierten Frankofonen aus den Wohnvierteln am Außenrand der Stadt finden.
Verkehrspolitik ist Klassenkampf Obendrein leben in Brüssel – anders als in vielen anderen europäischen Metropolen – die einkommensschwachen Familien, die ohne Auto auskommen, eher in der Innenstadt. Die wohlhabenderen Brüsseler machen es sich dagegen eher in den Randgemeinden Ukkel, Ixelles oder WaetermaelBoitsfort gemütlich und greifen von dort aus gerne auf das Auto für eine Shoppingtour im Zentrum zurück. So leiden die ärmeren Brüsseler am meisten unter den negativen Folgen des Transitverkehrs ihrer reicheren Mitbürger.
Dass die Bedenken der Händler, Anrainer oder Sicherheitsdienste nicht berücksichtigt worden sind, wie viele Gegner des Planes behaupten, lassen Van den Brandt und Dhondt nicht gelten. Der Ausarbeitung der Pläne folgten unzähligen Treffen mit der Bevölkerung und Vertretern des Einzelhandels. Auch sind die Verantwortlichen bereit, ihre Pläne nach einer Testphase zu überdenken. „Es braucht Zeit, damit sich alles etwas entspannt. Danach muss man alles richtig auswerten und wenn es das braucht, dann werden Sachen auch angepasst“, sagt Van den Brandt.
Der Plan ist Teil einer umfassenden Politik, um Brüssel verkehrstechnisch gesehen neu aufzustellen. Dazu gehören beispielsweise der konsequente Ausbau der Fahrradinfrastruktur und das verallgemeinerte 30-km/h-Tempolimit.
Und was passiert dann mit dem Platz, der in Zukunft durch die Minderung des Autoverkehrs frei wird? „Den wiedergewonnenen öffentlichen Raum wollen wir den Bürgern zurückgeben, indem wir die Bürgersteige verbreitern, sichere Radwege einrichten oder die Qualität einiger Einrichtungen verbessern, wie zum Beispiel der Skater-Park bei den Marolles. Und ja, es ist unser Anspruch, Straßen und Plätze neu zu gestalten, aber es braucht Zeit, um Pläne mit den Bewohnern und allen Beteiligten zu erarbeiten“, erzählt Bart Dhondt.
Der Autoverkehr soll innerhalb der Viertel erschwert und konsequent Richtung große Fahrachsen verlegt werden.