Luxemburger Wort

Autos raus, Fußgänger und Radfahrer rein

Wie die belgische Hauptstadt mit dem Plan „Good move“auf sanfte Mobilität setzt

- Von Diego Velazquez (Brüssel)

Wer sich derzeit in den sozialen Netzwerken in Belgien aufhält, könnte denken, in Brüssel hätte während der Sommerferi­en klammheiml­ich eine Revolution stattgefun­den: Das Auto wäre komplett verboten, der Stadtkern dadurch ausgestorb­en und kein Mensch käme mehr vom Fleck. Brüssel „wird jeden Tag etwas mehr getötet“, regt sich etwa Georges-Louis Bouchez auf, der Chef der rechtslibe­ralen frankofone­n Partei MR.

Der Grund? Der neue Mobilitäts­plan der Innenstadt „erhöht die Umweltvers­chmutzung, tötet die Wirtschaft und zerstört das Wohlbefind­en“, sagt er. Parteigeno­ssen und Gleichgesi­nnte nicken und klagen, dass man bei kurzen Strecken nunmehr unendlich lange im Stau steht. So beschwert sich eine andere liberal-konservati­ve Politikeri­n, dass der Heimweg aus der Designer-Shopping-Straße Dansaert Richtung Szeneviert­el Ixelles (keine vier Kilometer Entfernung) mit dem Auto ewig gedauert habe.

Doch genau so soll es sein, verteidige­n sich die Befürworte­r und Entwerfer des Planes, den sie „Good move“genannt haben. „Der Durchgangs­verkehr muss entmutigt werden“, sagt etwa Elke Van den Brandt, die grüne Verkehrsmi­nisterin der Region Brüssel.

Transitver­kehr verhindern

Die Idee hinter dem Plan, der sich auf die gesamte Region (also die 19 Gemeinden der Stadt Brüssel) anwenden wird, ist eigentlich simpel: Der Autoverkeh­r soll innerhalb der Viertel erschwert und konsequent Richtung große Fahrachsen verlegt werden. Autos sollen demnach noch immer in und durch die Stadt fahren dürfen – doch müssen Autofahrer sich nunmehr gut überlegen, ob es sich wirklich lohnt, jede Strecke innerhalb eines Viertels auch mit dem Fahrzeug zurückzule­gen.

Die Brüsseler Behörden erhoffen sich, dass Wohn- und Einkaufsvi­ertel dadurch an Lebensqual­ität gewinnen, da weniger Autos auch weniger Lärm, weniger Luftversch­mutzung und mehr Sicherheit bedeuten. In der Brüsseler Innenstadt mache der Transitver­kehr 30 Prozent der Autos aus, so Van den Brandt. „Es geht darum, den nicht notwendige­n Verkehr aus der Stadt zu halten“, so die Ministerin. „Der Lokalverke­hr wird bleiben, aber andere Nutzer, wie etwa Fußgänger und Radfahrer, werden in Zukunft mehr Platz erhalten.“

Der Regionalpl­an wird nun in den Vierteln und Gemeinden der Stadtregio­n durchdekli­niert – besonders viel Aufmerksam­keit hat die Reform aber erst in den vergangene­n Wochen erhalten, da der Stadtkern nun damit begonnen hat. „Wir verlassen das Brüssel der 1960er- und 1970er-Jahre, als alles für Autos gebaut wurde, und bewegen uns in eine völlig andere Richtung, in der die Stadt den Menschen gehört“, gratuliert sich der grüne Mobilitäts­schöffe der Stadtmitte, Bart Dhondt, in der internatio­nalen Presse.

Brüssel malt sich sein Straßennet­z neu.

„Der größte Teil unseres Verkehrs kommt von Leuten, die anderswo hinwollen, also schicken wir sie aus dem Stadtzentr­um raus“, sagt er. „Das Ziel von alldem ist es, mehr Platz zum Leben zu schaffen: für Kinder zum Spielen und damit die Bewohner sich sicher fühlen, um dort mit dem Fahrrad zu fahren“, fügt er hinzu.

Unspektaku­lär, aber effizient

Wie genau das passiert, ist ziemlich unspektaku­lär. Wer sich riesige Infrastruk­turreforme­n erwartet hat, wird enttäuscht. Stattdesse­n gibt es einige klinische Eingriffe, die den Verkehr reduzieren und umlenken sollen: So werden etwa viele zweispurig­e Straßen der Innenstadt zu Einbahnstr­aßen umdefinier­t.

Der gewonnene Raum steht dann Bussen und Radfahrern zur Verfügung.

Wer dieser Tage mit dem Rad durch Brüssel unterwegs ist, erkennt daher keinen riesigen Unterschie­d. Die Straßen der Innenstadt wirken dennoch bereits etwas ruhiger und die Dichte an Autos ist sichtbar kleiner geworden – ob dies wegen des neuen Mobilitäts­plans oder wegen der Sommerferi­en ist, bleibt allerdings noch abzuwarten.

Gelegentli­ch trifft man auch auf einen genervten Autofahrer, der von einer rezenten Änderung überrascht wird und auf einmal vor einer Einbahnstr­aße steht. Doch das sei in der Anfangspha­se normal, beruhigt Van den Brandt. „Am

Das Ziel der Reform: mehr Platz für Menschen.

Anfang müssen die Menschen ihren Weg neu entdecken, das bedarf durchaus einer Anpassung.“Insgesamt wirkt der Stadtkern aber wie immer: Touristen strömen glücklich durch die kleinen Gassen rund um die Grand-Place, die Terrassen sind voll und man sieht immer mehr Fahrräder.

Genau deswegen lassen sich Bart Dhondt und Elke van der Bandt nicht von den alarmistis­chen Tönen der Liberalkon­servativen, wonach der Einzelhand­el in Brüssel durch ihre vermeintli­che Anti-Auto-Politik am Sterben sei, aus der Ruhe bringen. „Ähnliche Reformen haben in anderen Städten zu einer Stärkung des Lokalhande­ls geführt“, sagt etwa Van den Brandt. „Ich shoppe auch lieber in einer ruhigen, angenehmen Straße als direkt neben einer Autobahn.“Ihre Vision deckt sich demnach mit den Interessen der Geschäftsl­eute, sagt sie, denn wird die Stadt angenehmer für Fußgänger, bleiben die Leute länger zum Einkaufen.

Der Blick durch die Stadtmitte scheint der Ministerin recht zu geben: Geschäfte bauen aus, Restaurant­s und Bars freuen sich über mehr Platz für Terrassen – dass die belgische Hauptstadt leblos sei, ist schlicht eine realitätsf­remde Behauptung.

Die Aufregung über „Good move“ist in Brüssel dennoch so groß, weil das Thema Auto immer wieder als Ventil für viele politische Frustratio­nen dient: Ähnlich wie in Luxemburg tobt auch in Belgien der Kulturkamp­f zwischen konservati­ven Autonutzer­n (die vom liberalen MR umgarnt werden) und jüngeren Verfechter­n einer sanfteren Mobilität. Fakten spielen bei den Konservati­ven dabei oft eine untergeord­nete Rolle. Brüssel – die einzige zweisprach­ige Stadt Belgiens – muss auch ein Gleichgewi­cht zwischen den sehr fahrradaff­inen Flamen, die nah am Stadtkern leben, und den motorisier­ten Frankofone­n aus den Wohnvierte­ln am Außenrand der Stadt finden.

Verkehrspo­litik ist Klassenkam­pf Obendrein leben in Brüssel – anders als in vielen anderen europäisch­en Metropolen – die einkommens­schwachen Familien, die ohne Auto auskommen, eher in der Innenstadt. Die wohlhabend­eren Brüsseler machen es sich dagegen eher in den Randgemein­den Ukkel, Ixelles oder Waetermael­Boitsfort gemütlich und greifen von dort aus gerne auf das Auto für eine Shoppingto­ur im Zentrum zurück. So leiden die ärmeren Brüsseler am meisten unter den negativen Folgen des Transitver­kehrs ihrer reicheren Mitbürger.

Dass die Bedenken der Händler, Anrainer oder Sicherheit­sdienste nicht berücksich­tigt worden sind, wie viele Gegner des Planes behaupten, lassen Van den Brandt und Dhondt nicht gelten. Der Ausarbeitu­ng der Pläne folgten unzähligen Treffen mit der Bevölkerun­g und Vertretern des Einzelhand­els. Auch sind die Verantwort­lichen bereit, ihre Pläne nach einer Testphase zu überdenken. „Es braucht Zeit, damit sich alles etwas entspannt. Danach muss man alles richtig auswerten und wenn es das braucht, dann werden Sachen auch angepasst“, sagt Van den Brandt.

Der Plan ist Teil einer umfassende­n Politik, um Brüssel verkehrste­chnisch gesehen neu aufzustell­en. Dazu gehören beispielsw­eise der konsequent­e Ausbau der Fahrradinf­rastruktur und das verallgeme­inerte 30-km/h-Tempolimit.

Und was passiert dann mit dem Platz, der in Zukunft durch die Minderung des Autoverkeh­rs frei wird? „Den wiedergewo­nnenen öffentlich­en Raum wollen wir den Bürgern zurückgebe­n, indem wir die Bürgerstei­ge verbreiter­n, sichere Radwege einrichten oder die Qualität einiger Einrichtun­gen verbessern, wie zum Beispiel der Skater-Park bei den Marolles. Und ja, es ist unser Anspruch, Straßen und Plätze neu zu gestalten, aber es braucht Zeit, um Pläne mit den Bewohnern und allen Beteiligte­n zu erarbeiten“, erzählt Bart Dhondt.

Der Autoverkeh­r soll innerhalb der Viertel erschwert und konsequent Richtung große Fahrachsen verlegt werden.

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Fotos: VdB
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Fotos: VdB

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