Das knallrote N
Vor 25 Jahren wurde Netflix gegründet – Mediensoziologe Dr. Gerrit Fröhlich der Uni Trier über den Erfolg der Plattform
Tudum. Das Netflix-Jingle ist für 220 Millionen Abonnenten weltweit so vertraut wie das knallrote N, das NetflixLogo. Vor 25 Jahren wurde das Unternehmen gegründet, beschäftigte sich damals mit dem Versand von DVDs, heute ist es eine Streaming-Plattform. Was den Erfolg von Netflix ausmacht, wie sich Medienkonsum verändert, das erklärt Dr. Gerrit Fröhlich, Medienwissenschaftler an der Universität Trier.
Dr. Gerrit Fröhlich, wie lässt sich dieser Siegeszug der Serien und Plattformen erklären?
So ganz plötzlich kam das natürlich nicht. Vor den Plattformen gab es bereits DVD-Boxen, die diesen Siegeszug der Serien in den 1990er- und 2000er-Jahren begünstigt haben. Treibende Kraft dabei war sicherlich der amerikanische Sender HBO. Komplexe Serien sind teilweise im Fernsehen gefloppt und konnten sich erst auf DVD behaupten. Inhalte konnten anspruchsvoller werden und Erzählstrukturen langfristiger, was als „Quality-TV“vermarktet wurde. Inhaltliche und technische Entwicklungen haben sich also bereits damals gegenseitig bedingt.
Plattformen gehören heute zu jedem Haushalt wie früher mal die Tageszeitung. Warum mögen wir Plattformen?
Netflix hat Anfang der 2010erJahre diesen Diskurs um das Quality-TV aufgegriffen, um Fernsehen in Richtung der Literatur zu rücken. Die nichtlineare Konsumierbarkeit auf Plattformen beispielsweise wurde in die Tradition von Büchern gestellt, die man ja auch lesen kann, wann und wo man will. Warum wir Plattformen so mögen, liegt aber auch daran, dass es einfach immer weniger Angebote gibt, die ohne Abonnement verfügbar wären. Wer kulturell interessiert ist, kommt um eine gewisse Anzahl an Abos so kaum herum.
Was macht den Erfolg der Plattformen aus? Ist es die scheinbar endlose Auswahl an Angeboten?
Oder die freie Wahl, wann man sich wo was anschauen kann?
Ich glaube, es ist die Kombination der scheinbar unendlichen Verfügbarkeit und Vielfalt und gleichzeitig der vermeintlich hochindividuellen Auswahl.
Schon das Interface der Plattformen ist so gestaltet, dass es nie das komplette Archiv zeigt. Es öffnet sich nach und nach, was eine Illusion von Bodenlosigkeit erzeugt, ähnlich wie die Timeline in sozialen Netzwerken, bei der man nie ans Ende gelangen kann. Einerseits wird dadurch die Verfügbarkeit eines vermeintlich riesigen Archivs suggeriert, andererseits gibt es das Versprechen von Individualität. Dem Nutzer wird vermittelt, dass ihm in den Archiven der Plattform genau empfohlen wird, was nur ihm in diesem Moment gefallen könnte. Es ist zudem ein Versprechen von Spontanität, da der Nutzer sich nicht bereits am Nachmittag festlegen muss, auf welchen Inhalt er am Abend Lust hat. Diese vermeintliche Individualität wird allerdings dadurch konterkariert, dass einzelne Serien dann trotzdem immer wieder die klassische Rolle eines Lagerfeuers annehmen – Serien, denen sich dann doch wieder alle gleichzeitig zuwenden und die man nicht verpassen möchte, um mitreden zu können.
Wie wichtig ist dem Nutzer der Faktor „Kino zuhause“?
Das ist vor allem mit der Coronapandemie hinzugekommen. Es gab während der Pandemie zwar nie einen Engpass an Filmen allgemein, die waren ja weiterhin verfügbar, dafür aber an frischen Blockbustern. Termine wurden verschoben, Filmprojekte auf Eis gelegt oder ganz abgebrochen. Kinos waren geschlossen. Filmverleiher und Streamingdienste haben sich daher zusammengetan, um teure Heimkino-Premieren anzubieten.
Was bleibt angesichts der Fülle an Plattformen und der riesigen Auswahl für das traditionelle Fernsehen überhaupt noch übrig?
Fernsehen nimmt noch immer einen sehr großen Teil der täglichen Mediennutzung ein, auch bei den Jüngeren. Ihr Zeitbudget für das TV ist ungebrochen hoch, sie sehen viel fern und streamen zusätzlich. In einer Umfrage von 2020 antworten 70 Prozent der Befragten, sie hätten am Vortag das Fernsehen genutzt, nur 17 Prozent geben an, sie hätten auf Streamingdienste wie Netflix zurückgegriffen. Der Tod des Fernsehens wird schon lange ausgerufen, liegt aber noch in weiter Ferne.
Vielleicht aber das Ende des linearen Fernsehens?
Diese Konsumform hat in der Tat an Bedeutung eingebüßt. Allerdings hat das Fernsehen das Erfolgskonzept der Plattformen in Form der Mediatheken für sich entdeckt. Es integriert neue Entwicklungen und bleibt trotzdem ein institutionell gestütztes und auch bei den Zuschauern etabliertes Leitmedium. Wer sich viele Serien, Sendungen und Filme anschaut, der konsumiert eben nicht nur das Neue, also Streamingdienste, sondern auch immer noch sehr viel von dem Alten. Er landet dann doch wieder bei der Doku eines öffentlich-rechtlichen Senders oder bei einer Serie in der Arte-Mediathek. Und umgekehrt sind diejenigen, die viel traditionelles Fernsehen schauen, auch nicht abgeneigt, sich eine gut besprochene Serie auf Netflix anzusehen.
Klassisches Fernsehen und digitaler Wandel lassen sich also vereinen?
Das Fernsehen reagiert auf den digitalen Wandel, indem es seine Sendungen online begleitet. Die Tagesschau in Deutschland beispielsweise ist in vielen Varianten online verfügbar. Sie wird dann ergänzt durch Online-Zusatzinformationen oder es gibt eine 100Sekunden-Version fürs Internet. Die lineare Ausstrahlung ist also nur einer von vielen Verwertungsschritten. Das Fernsehen passt sich an die neuen Medienlogiken an, so wie es Print-Angebote ja auch tun.
Leiden andere Gesellschaftsbereiche, etwa die Bühnenkunst, das Buch oder Sportveranstaltungen, unter den Plattformen?
Derartige Befürchtungen haben jeden Medienwandel begleitet. Gerade dem Fernsehen war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine konsumistische Rezeptionshaltung vorgeworfen worden. Behauptet wurde, man werde sich „zu Tode amüsieren“, wie damals ein Bestseller hieß. Im 19. Jahrhundert hat man den Roman kritisiert, weil er von der Arbeit abhalte und weil seine Leser sich in ihrer Fantasie verlieren würden. Aber weder Theater noch Kino laufen Gefahr, zu verschwinden. Eher werden sie, wie die ehemals kritisierten Medien, wie eben der Roman oder das TV, nun zu positiven Gegenpolen stilisiert, zur guten alten Zeit. Es fällt aber auf, wie sich Streaming-Plattformen mittlerweile gegenseitig kannibalisieren. Jede Plattform hat ihre Leuchtturmprodukte, die zum Abo locken sollen. Seit einigen Jahren ist dies der Fall mit Apple TV+ und dessen Eigenproduktionen. Auch Disney will mit der zeitnahen Veröffentlichung von
Dem Nutzer wird vermittelt, in den Archiven der Plattform genau das zu finden, was scheinbar nur ihm in diesem Moment gefallen könnte.
Disney. Video-on-Demand begünstigt zudem andere Erzählstrukturen: Komplexe Handlungsstränge über einen längeren Zeitraum ausschließlich im linearen Fernsehen zur Verfügung zu stellen, ist zwar nicht unmöglich, aber schwierig. Allein schon, weil nie garantiert werden kann, dass man keine Folge verpasst. Dank der Mediatheken der TV-Sender ist das mittlerweile natürlich ebenfalls im Wandel. Auch sie stellen Serien teilweise als Komplettpaket online, noch bevor sie linear ausgestrahlt werden, und passen sich damit der Plattformlogik an.
In Serien werden viele Themen behandelt, nicht nur Fiktion, auch Shows, Dokus, Kulinarik. Ist es diese Mischung, dieses Vielschichtige, die am Ende entscheidend ist?
Netflix möchte alle Geschmäcker bedienen, geht aber gar nicht so planvoll und algorithmenbasiert vor, wie es vom eigenen Marketing oft suggeriert wird. Netflix setzt darum auf ein riesiges Angebot, in der Hoffnung, dass der Rezipient schon entscheidet, was der nächste Hit sein wird und dass sich dann eine Eigendynamik ergibt, ein Hype in sozialen Netzwerken. Man denke nur an erfolgreiche Zufallstreffer wie „Tiger King“, „Squid Game“oder die sehr komplexe Serie „Dark“, die keiner auf dem Reißbrett planen konnte. Und neuerdings versucht Netflix sich auch noch an einer Ausweitung auf das Medium der Videospiele. Wie aber kürzlich bekannt wurde, nutzt das im Moment gerade mal ein Prozent der Abonnenten.
Trotzdem: Laufen wir wegen der Algorithmen nicht doch Gefahr, dass am Ende ein kultureller Einheitsbrei entsteht?
Produkte werden angepasst, das stimmt. Und das findet branchenübergreifend statt. Musik wird für Spotify oder TikTok optimiert, Online-Spiele werden nachgebessert, je nachdem wie die Spieler sich verhalten. Netflix hat bereits 2015 angegeben, genau sagen zu können, wann welche Zuschauer bei einer Serie aussteigen, und sich daran zu orientieren. Aber man merkt auch, dass dies eine Art der Selbst-Mystifizierung der Betreiber und ihrer technischen Möglichkeiten ist, gerade um sich vom sogenannten klassischen Fernsehen abzusondern und als überlegen darzustellen. Was über die Macht der Algorithmen behauptet wird, ist also immer auch ein stückweit Marketing.
Wie lassen sich bei Netflix die gesammelten Daten über das Verhalten der Abonnenten überhaupt nutzen?
2017 sagte Netflix-CEO Reed Hastings dem „Economist“, die Netflix-Algorithmen seien bald so gut, dass sie dem Nutzer die optimale Serie oder den exakt passenden Film für seine aktuelle Stimmung nennen könnten, sobald er sich einlogge. Das sind aber erstmal Versprechungen und noch kein Ist-Zustand. Wenn das funktionieren würde, gäbe es ja die abendliche Qual der Wahl nicht, sondern es würde einem auf der Startseite immer nur das eine Produkt angezeigt, das man auf jeden Fall gerade sehen möchte. Man muss immer trennen zwischen dem, was Algorithmen tatsächlich tun, und dem, was in der Selbstdarstellung oder von den Kritikern behauptet wird, was sie tun. Tatsächlich meinen wahrscheinlich nicht mal Mitarbeiter im Marketing und Mitarbeiter in der Tech-Abteilung desselben Unternehmens das Gleiche, wenn sie von Algorithmen sprechen. Vermutlich ist der Großteil der riesigen Datenmenge bei Netflix auch kaum klar und einfach auszuwerten. Das Verhalten der Zuschauer ist wahnsinnig differenziert. Was Standardisierung, Muster und Schablonen anbelangt, so hat es die in der Kultur im Übrigen immer schon gegeben. Und wenn diese Standardisierung dann tatsächlich zum Problem werden sollte, weil die Kunden weggehen, dann wird Optimierung wiederum einfach bedeuten, wieder mehr Außergewöhnliches anzubieten.
Das Schablonenhafte macht also wieder Freiraum für das Kreative?
Ja, das kann man so sehen. Schablonen gab es immer, und Verbraucher mögen das ja durchaus. Man möchte nicht immer nur Originelles und Überraschendes sehen. Am Ende landen die Nutzer doch gerne wieder bei der einen, gerade populären Serie, und damit entsteht wieder dieses klassische Lagerfeuer, das am Esstisch oder bei Twitter kommentiert wird. Und das ist ja zu guter Letzt auch der einzige Indikator für die Popularität einer Netflix-Serie: Da die Plattform keine Zahlen veröffentlicht, weiß man vom Erfolg nur, was in der Öffentlichkeit über sie gesprochen wird. Nach etlichen Standard-Produkten kommt immer wieder das eine Produkt, das unerwartet einen Nerv trifft, durch die Decke geht und zum internationalen Blockbuster avanciert. Es wird vielleicht immer schwieriger, diese Nadel im Heuhaufen zu finden, weil der Heuhaufen einfach immer größer wird. Und amüsanterweise treten dann wieder ganz klassische Ordnungsund Entscheidungsinstanzen neben die Empfehlungsalgorithmen. Redaktionelle Angebote übernehmen wieder eine ähnliche Rolle wie einst die Fernsehzeitschriften. Sie kuratieren. Viele Digital Natives würden heute über das Konzept einer Fernsehzeitschrift lachen, aber wenn „Buzzfeed“regelmäßig eine Liste der besten Serien veröffentlicht, dann ist das im Prinzip dasselbe.
Mit 625 Millionen geschauten Stunden in den ersten 28 Tagen hält „Bridgerton“auch einen Rekord. Keine andere englischsprachige Netflix-Serie hat laut Angaben des Streaming-Dienstes 2020 einen besseren Start hingelegt.
Die erste Staffel der französischen Krimi-Serie „Lupin“ist mit 76 Millionen Views die beliebteste Serienproduktion aus Europa im Jahr 2021.
Es wird vielleicht immer schwieriger, die Nadel im Heuhaufen zu finden, weil der Heuhaufen einfach immer größer wird.
Netflix lädt im Dezember 2017 die erste Staffel der spanischen Bankräuber-Dramaserie „La casa de papel“hoch, die zu einem Überraschungserfolg avanciert – weltweit sehen 180 Millionen die fünf Staffeln des Formats.
Eng mit dem ersten Lockdown 2020 ist die Doku-Serie „Tiger King“verbunden. 64 Millionen sehen sich zu dem Zeitpunkt die Serie an, derweil eine zweite Staffel nicht wirklich überzeugen kann.
Die Serie „The Queen's Gambit“mit Anya Taylor-Joy in der Hauptrolle begeistert 62 Millionen Accounts und verhilft auch dem leicht angestaubten Schachspiel zu neuem Aufschwung.