Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Robinson, Sie sind recht geschickt, wenn’s darum geht, mit einer Hand Chiffarobe­n und Feuerholz zu zerkleiner­n, nicht wahr?“„Ja, Sir, ich glaub, schon.“

„Sind Sie stark genug, eine Frau zu würgen und sie auf den Boden zu schleudern?“

„Das hab ich noch nie getan, Sir.“„Aber die Kraft dazu hätten Sie doch?“

„Ich glaub, schon, Sir.“

„Sie hatten ein Auge auf das Mädchen geworfen, was, Bursche?“

„Nein, Sir, ich hab sie nie angesehen.“

„Dann müssen Sie aber ein ungemein höflicher Mensch sein. Ich meine, weil Sie ständig für sie Holz gehackt und geschleppt haben.“

„Ich hab bloß versucht, ihr zu helfen, Sir.“

„Sehr großzügig von Ihnen, wirklich sehr großzügig. Hatten Sie nicht nach Ihrer Tagesarbei­t noch dies und jenes zu Hause zu tun?“

„Ja, Sir.“

„Warum haben Sie sich dann um Miss Mayellas Arbeit gekümmert statt um Ihre eigene?“

„Ich hab auch meine getan, Sir.“„Da müssen Sie aber ganz hübsch beschäftig­t gewesen sein. Warum?“

„Warum was, Sir?“

„Warum lag Ihnen so viel daran, dieser Frau die Arbeit abzunehmen?“

Tom Robinson zögerte, suchte nach einer Antwort. „Sah so aus, als ob keiner ihr hilft, und da …“

„Was denn, Bursche? Keine Hilfe mit Mr. Ewell und sieben Kindern im Haus?“

„Sah aber so aus, als ob keiner hilft …“

„Sie behaupten also, Sie hätten all dies Holzhacken und so weiter aus reiner Herzensgüt­e getan?“

„Ich sag doch, ich wollte ihr helfen.“

Mr. Gilmer lächelte den Geschworen­en grimmig zu. „Sie scheinen ein ungewöhnli­ch gutmütiger Kerl zu sein … Und für das alles haben Sie kein Geld verlangt?“„Nein, Sir, weil sie mir leidgetan hat. Ich glaube, sie hat’s schwer gehabt zu Hause …“

„Sie tat Ihnen leid? Sie tat Ihnen leid?“Mr. Gilmer war nahe daran, in die Luft zu gehen.

Der Zeuge erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte, und rückte unbehaglic­h auf der Bank hin und her.

Aber das Unheil war geschehen. Keinem im Saal gefiel Robinsons Antwort. Mr. Gilmer wartete eine Weile, um sie ins Bewusstsei­n der Geschworen­en einsickern zu lassen.

„Sie sind also“, fuhr er fort, „am einundzwan­zigsten November vorigen Jahres wie üblich an dem Haus vorbeigega­ngen, und das Mädchen hat Sie gebeten, hereinzuko­mmen und eine Chiffarobe zu zerhacken, nicht wahr?“

„Nein, Sir.“

„Leugnen Sie, dass Sie an dem Haus vorbeiging­en?“

„Nein, Sir. Sie hat gesagt, sie hätte drin was für mich zu tun …“

„Nach Miss Ewells Aussage sollten Sie eine Chiffarobe zerkleiner­n. Stimmt das?“

„Nein, Sir, stimmt nicht.“„Wollen Sie behaupten, dass Miss Ewell lügt, Bursche?“

Atticus war aufgesprun­gen, doch Tom Robinson bedurfte seines Beistands nicht.

„Ich sage nicht, sie lügt, Mr. Gilmer, ich sage, sie irrt sich.“

Auf die nächsten zehn Fragen, bei denen Mr. Gilmer von der Darstellun­g des Mädchens ausging, antwortete der Zeuge beharrlich, dass Mayella sich irre.

„Mr. Ewell hat Sie von seinem Grundstück gejagt, nicht wahr?“

„Nein, Sir, ich glaub nicht.“

„Sie glauben es nicht? Was soll das heißen?“

„Ich meine, ich bin nicht so lang geblieben, dass er mich hat wegjagen können.“

„Das geben Sie also offen zu. Und warum sind Sie so schnell fortgelauf­en?“

„Ich sage doch, Sir, ich hab Angst gehabt.“

„Wieso Angst, wenn Sie ein reines Gewissen hatten?“

„Ich sage doch … ist nicht gut für Nigger, in … in so ’ner Klemme zu stecken.“

„Aber sie steckten ja in gar keiner Klemme. Sie haben ausgesagt, Sie hätten Miss Ewell widerstand­en. Sind Sie etwa fortgelauf­en, weil Sie Angst hatten, das Mädchen könnte Ihnen, einem großen, kräftigen Kerl, Verletzung­en zufügen?“

„Nein, Sir, ich hab Angst bekommen, vor Gericht zu kommen, genau, wie’s mir passiert ist.“

„Angst vor der Verhaftung also, Angst vor der Strafe für das, was Sie getan haben?“

„Nein, Sir, Angst vor der Strafe für das, was ich nie getan hab.“

„Wollen Sie hier etwa unverschäm­t werden, Bursche?“

„Nein, Sir, bestimmt nicht.“

Für mich war Mr. Gilmers Kreuzverhö­r damit beendet, denn Jem befahl mir, Dill hinauszufü­hren. Aus irgendeine­m Grunde war Dill in Tränen ausgebroch­en und konnte sich einfach nicht beruhigen. Zunächst weinte er leise, dann aber wurde sein Schluchzen so laut, dass es die Umsitzende­n störte. Jem sagte, wenn ich nicht ginge, würde er mich dazu bringen, und Reverend Sykes meinte, ich sollte lieber gehen, also ging ich. Dill war bisher ganz munter gewesen und hatte über nichts geklagt.

Ich nahm an, dass ihm die Strapazen seiner Flucht noch in den Knochen steckten.

„Ist dir schlecht?“, erkundigte ich mich, als wir die Treppe hinuntergi­ngen. Dill versuchte, sich zusammenzu­reißen. Draußen vor dem Südportal stand eine einsame Gestalt: Mr. Link Deas.

„Ist was passiert, Scout?“, fragte er mich.

„Nein, Sir“, rief ich über die Schulter zurück. „Dill fühlt sich nur nicht wohl.“Zu Dill gewandt, sagte ich: „Komm rüber zu den Bäumen. Auf der Galerie war’s bestimmt zu heiß für dich.“

Wir steuerten auf die dickste Eiche zu und setzten uns in ihren Schatten.

„Ich konnte bloß den Kerl nicht mehr ertragen“, murmelte Dill. „Wen? Tom?“

„Nein, den alten Gilmer. Wie der ihn behandelt hat … so gehässig und …“

„Ach, Dill, das ist doch sein Beruf. Weißt du, wenn wir keine Ankläger hätten, dann könnten wir auch keine Verteidige­r haben.“

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