Luxemburger Wort

Gefahr am Bahnüberga­ng

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Eigentlich bin ich eher Läuferin als Radfahreri­n. Dennoch zieht es mich gelegentli­ch aufs Rad. Es soll gesund sein und gelenkscho­nender als Laufen, heißt es. Bei mir trifft das allerdings nur bedingt zu. Denn auch Wochen nach meinem letzten Ausflug mit dem Drahtesel spüre ich noch ein leichtes Zwicken im Knie. Nun ja, das Radfahren ist eben wohl nur dann gelenkscho­nend, wenn man sich auch auf dem Fahrrad hält – und nicht irgendwann daneben liegt. Genau das ist mir allerdings passiert.

Es war an einem Bahnüberga­ng und es herrschte reger Betrieb. Denn das Queren war immer nur in kurzen Intervalle­n möglich und sehr viele Menschen

Irgendwann verlor ich das Gleichgewi­cht.

wollten auf die jeweils andere Seite. So kam es, wie es kommen musste: Als sich die Bahnschran­ken öffneten, versuchte ich, mich auf meinem

Rad durch das Gedränge zu bewegen. Im Schneckent­empo, wohlversta­nden. Irgendwann verlor ich das Gleichgewi­cht und landete unsanft auf dem Boden. Als ob das alleine nicht reichen würde, meinte der Bahnangest­ellte just in dem Augenblick, es sei Eile geboten, denn der nächste Zug sei bereits im Anmarsch und die Bahnschran­ken würden sehr bald wieder schließen. Mir blieb demnach nichts anderes übrig, als schnellstm­öglich aufzustehe­n, mein Rad zu ergreifen und mich humpelnd weg von den Gleisen zu begeben. Und zum Glück blieb auch den anderen Personen, die sich gerade am Bahnüberga­ng befanden, keine Zeit, sich über meinen peinlichen Sturz und mich lustig zu machen. Während Knie und Oberarm in Windeseile nicht nur die Farbe wechselten, sondern auch anschwolle­n, hatte ich immerhin etwas dazu gelernt: Auf dem Rückweg bin ich vorsichtsh­alber lieber vor dem Bahnüberga­ng vom Rad gestiegen und habe es auf die andere Seite geschoben. Sophie

chen an der Schoul an et freet keen, firwat oder wéi et him geet.“Denn für Ben ist die Geschichte mit dem Angriff auf dem Schulweg noch nicht vorbei. Sie fängt erst richtig an.

Die Täter brüsten sich mit dem Video, das sie beim Angriff gemacht haben. „Mamma ech sinn de gréisste Loser vu Lëtzebuerg, de Video ass iwwerall“, sagt Ben. „De ganze Lycée krut e geschéckt a ganz vill aner Lycéeën och!“

Der Junge traut sich nicht mehr in den Schulbus, nicht mehr in den Zug. Die Eltern fahren ihn zum Unterricht, holen ihn danach wieder ab. Vor der Schule wird er immer wieder bedroht. Selbst drinnen ist er nicht sicher: Schüler aus anderen Gebäuden lauern ihm auf der Schultoile­tte auf. Es folgt Racketting. Die Täter wollen ein Mal seinen Gürtel, ein anderes Mal seine Schuhe, dann sein Taschengel­d. „Soss maachen ech dech kal“, verspreche­n sie ihm.

Der Junge, der zuvor als äußerst kontaktfre­udig galt und sportbegei­stert, will nicht einmal mehr zum geliebten Fußballtra­ining. Sein Vater nimmt ihn mit zu einem Länderspie­l – doch auch dort lauert die Gang ihm auf. Als Ben einen Spieler um ein Autogramm bitten will, umkreisen die Gleichaltr­igen ihn, versuchen ihn wegzuzerre­n. Es gelingt Ben aber, ihnen zu entkommen.

Diesmal erstattet die Familie Strafanzei­ge. „Wann een héiert, wéi en anere Jong vun engem den Hals opgeschnid­de krut, well en deem keng Zigarett gi wollt, da freet een sech schonn, firwat mir de Kapp mussen dohinner hale, fir datt d'Schoul an d'Police dat an de Grëff kréien“, ärgert sich Nathalie.

Sie sei lange gegen die Strafanzei­ge gewesen. Für den Beamten der Jugendschu­tzabteilun­g der Kriminalpo­lizei haben sie und ihr Mann aber inzwischen nur Lob übrig. „Am Nachhinein ass et dat bescht, wat eis konnt geschéien“, seufzt die Mutter. „Datt mer do op Leit gefall sinn, déi wëssen, ëm wat et geet, a wéi domat ëmzegoen ass. Do kritt ee richteg gehollef, do gëtt een ënnerstëtz­t. Do si Leit, déi si richteg engagéiert.“Luca fügt hinzu: „De Beamten huet nogelausch­tert, net jugéiert. En huet genau dat Richtegt gesot, zum richtege Moment – och zum Ben!“Zudem habe der Beamte sich immer wieder gemeldet, sich nach Bens Befinden erkundet und der Familie Mut zugesproch­en.

Dann plötzlich werden Ben und seine Eltern selbst zur Polizei vorgeladen. Der Sohn wird beschuldig­t, Täter eines gewaltsame­n Diebstahls zu sein. Es ist offensicht­lich: Die Gang hat keinen direkten Zugriff mehr auf Ben, sie sucht nun andere Wege, ihn fertig zu machen. Denn Ben ist am Tag des Diebstahls nachweisli­ch zu Hause bei seiner Familie. „Well e sech als de gréisste Loser vu Lëtzebuerg net méi raus op d'Strooss traut“, unterstrei­cht Nathalie.

Showdown mit der Polizei vor der Schule

Und es geht weiter: Eines Tages, nach einem Update der Betriebsso­ftware ihres Handys, landen Textbotsch­aften, die an ihren Sohn gerichtet sind, auf der gekoppelte­n Smartwatch der Mutter. Den SMS-Slang der Jugendlich­en muss Nathalie erst entziffern.

Ihr Junge ist an diesem Tag auf einem Schulausfl­ug. Man fordert ihn auf, sich der Gruppe vor seiner Schule zu stellen. „Soss geet et der wéi dem Tom*“– einem Kumpel von Ben. Den haben die

Täter so lange verprügelt, bis er sich vor sie auf die Knie setzte und um Gnade flehte – vor laufenden Handykamer­as. Nathalie verständig­t sofort die Polizei.

Polizisten in Zivil beziehen vor der Schule Stellung, doch die Gang wartet schon auf dem Weg vom Ausflug zurück zur Schule auf Ben. An einer Ecke packen zwei Jungen ihn an der Schulter und wollen ihn in eine Nebenstraß­e zerren. Die Lehrerin geht dazwischen. „Hal deng Maul, du hues eis souwisou näischt ze soen“, entgegnen sie der Lehrerin, lassen dann aber doch von ihrem Vorhaben ab. Und an Ben gerichtet: „Mir gesinn eis souwisou nach!“

Danach will Ben nicht mehr zur Schule. Er schreibt nur noch die Prüfungen. Andere Schulen sind keine Alternativ­e. Denn da die Gang-Mitglieder noch schulpflic­htig sind, werden sie nach einem Vorfall an einer Schule an eine nächste verwiesen. Somit gibt es sie inzwischen in allen Lyzeen. Und wenn nicht, dann haben sie Freunde da.

Der Angriff auf dem Schulweg war im Februar. Für Ben und seine Familie hat die Geschichte noch immer kein Ende gefunden. Freunde nehmen nach der Geschichte Abstand von der Familie. „D'Geschicht huet den Tour gemaach, an et mierkt een, datt et de Leit peinlech ass, doriwwer mat eis ze schwätzen, oder och nëmmen ze froen, wéi et dem Ben geet“, schildert Nathalie. „An da ginn et och déi Mammen, déi soen der riicht an d'Gesiicht, mengem Jong ass dat do awer net geschitt. Sou, wéi wann et eis Schold wier.“

Kurz bevor die Polizei Anfang August die fünf „Dix-Sept“-Mitglieder nach einem gewaltsame­n Diebstahl auf frischer Tat festnimmt und zwei davon inhaftiert werden, spitzt sich die Lage für Ben erneut dramatisch zu. Freunde warnen Ben davor, dass GangMitgli­eder sich umhören, um seine Adresse zu erfahren. Sie möchten ihn jetzt zu Hause aufsuchen.

In sozialen Medien übt „Dixsept“sich weiter in Machtdemon­strationen. Wie dem „Luxemburg Wort“zugetragen wurde, so etwa jüngst bei einem Auftritt zu 42 auf der Schueberfo­uer. Und proklamier­en, dass die beiden vor einem Monat Inhaftiert­en bald wieder draußen seien.

Von seiner Zukunft im Ausland erhofft sich Ben nun neue Freunde und einen Neustart ohne Angst. Er möchte eine Seite umblättern und ein neues Kapitel aufschlage­n.

An dann hëlt een d'Saach gären an de Grapp, an da seet ee sech, do ginn et Instanzen, déi hëllefen engem. An da geschitt dat awer net. Mutter des Opfers

Für die Gang ist er einfach weg. „De Lycée ass dach eigentlech eng vun de schéinsten Zäiten am Liewen, do gehéiert een zu deene méi Groussen, et entdeckt een d'Welt an d'Liewen, an da komme sou Leit a maachen dat alles futti“, meint Nathalie. „Déi wësse ganz genau, datt hinnen näischt geschitt. Dofir maache se dat.“

Es bleibe ein Gefühl der Machtlosig­keit. „An dat mussen aner Leit net och hunn“, meint sie abschließe­nd. „Well et ass evident, datt et och aner Famille ginn, deenen et sou geet wéi eis. Déi solle wëssen, datt se gehollef kréien – a virun allem solle se wëssen: Dir sidd net eleng!“

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Ein Problem ist auch, dass die Jugendlich­en ihren Häschern auf dem Schulweg oder auch in der Schule selbst immer wieder hilflos gegenübers­tehen. Auch weil sich niemand traut, etwas zu sagen.

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