Gegen das Vergessen
Am 30. August 1942 waren über 15 000 Luxemburger von der Zwangsrekrutierung betroffen – auch Marcel Goniva
Diekirch. Am 30. August 1942, vor nunmehr 80 Jahren, verordnete Gauleiter Gustav Simon die Wehrpflicht in Luxemburg für die Jahrgänge 1920 bis 1924, später sollten noch diejenigen von 1925 und 1926 hinzukommen.
15 409 junge Männer waren von der Zwangsrekrutierung betroffen, 12 031 erhielten einen Stellungsbefehl, davon ließen 3 500 ihr Leben oder gelten als vermisst. Ebenfalls wurden 7 969 junge Frauen in den Reichsarbeitsdienst (RAD) oder Kriegshilfsdienst (KHD) gezwungen, von denen 58 umkamen. Nackte Zahlen, die für ebenso viele persönliche Schicksale und familiäre Tragödien stehen. Deshalb hat „kein Aspekt des II. Weltkriegs für das Luxemburger Volk und sein historisches Erinnerungsvermögen größere Folgen als diese Zwangsrekrutierung“, schreibt Gilbert Trausch 1986 in seinem Vorwort zur „Odyssee eines Diekircher Zwangsrekrutierten“von B. Ditsch.
Einer der noch wenig lebenden Opfer dieses Verbrechens an der Jugend des Landes ist Marcel Goniva aus Diekirch. Trotz seines hohen Alters – er wird im Dezember 96 Jahre alt – ist er immer noch ein wichtiger Zeitzeuge in der „Kampagne gegen das Vergessen“, der regelmäßig vor Schulklassen Zeugnis ablegt von dem, was er und seine Kameraden in der verhassten Wehrmachtsuniform erlebt und erlitten haben.
Das Schicksal des Bruders
Geboren wurde er am 24. Dezember 1926 in Goeblingen als zweiter Sohn des Ehepaares Goniva-Reiland. Sein vier Jahre älterer Bruder Robert gehörte zu der ersten Gruppe von Zwangsrekrutierten, die im Herbst 1942 an die Ostfront beordert wurden.
Im März 1943 erhielt die Familie die fatale Nachricht, ihr Sohn Robert „sei im Gefecht bei Andrejowski für Großdeutschland gefallen und 20 Kilometer ostwärts von Saporoschje beerdigt…“Doch zwei Tage vor dem in seinem Heimatdorf angesagten Totenamt erreicht die Familie ein Feldpostbrief des vermeintlichen Gefallenen, in dem er mitteilt, „er befinde sich schwerverletzt in einem polnischen Lazarett und sei auf dem Wege der Besserung…“Gelegentlich seines Genesungsurlaubs im Herbst 1943 wird er desertieren und sich nach Frankreich absetzen.
Im Frühling 1944 wird Marcel Goniva für den RAD gemustert. Sein Vater rät ihm, ebenfalls zu fliehen, doch ein zusätzlicher Fahnenflüchtling in der Familie – der Amtsbürgermeister von Steinfort hatte ausdrücklich darauf hingewiesen – hätte unweigerlich die Deportation aller Familienangehörigen bedeutet.
Zu Beginn des Sommers kommt Marcel Goniva nach Pinne in Polen zum Arbeitsdienst, wo er im Herbst seinen Stellungsbefehl zur Wehrmacht erhält, zu einem Zeitpunkt also, wo Luxemburg schon befreit ist.
Nach einer Ausbildung im Schnellverfahren zum Maschinengewehrschützen
in Ribe in Dänemark kommt er mit seiner Einheit nach Pommern an die Ostfront. Der Versuch, sich auf der Zugfahrt dahin von der Truppe abzusetzen, scheitert am zögerlichen Verhalten einer seiner zwei luxemburgischen Kameraden.
Granatsplitter im Rücken
Seine Einheit wird hauptsächlich dazu eingesetzt, die Löcher in der zurückweichenden Front zu stopfen, was sich als ziemlich aussichtsloses Unterfangen herausstellt. Am 24. Januar 1945 wird seine Kompanie der aus versprengten Truppenteilen neu formierten Heeresgruppe „Weichsel“zugeteilt. Ihre Einsätze werden immer stärker behindert durch den endlosen Strom von Flüchtlingstrecks, versprengten Wehrmachtssoldaten und zurückflutenden Verwundeten aus aufgelösten Lazaretten, welche die Straßen nahezu unpassierbar machen. Erschwerend hinzu kommt eine Kältewelle mit Temperaturen bis zu 30 Grad unter dem Gefrierpunkt.
Auf dem Rückzug vor den vorrückenden Russen gerät er mit seiner Einheit in den Kessel von Kolberg, wo ihm und seinen Kameraden, wenn nicht der Tod, so doch die russische Gefangenschaft droht. Doch in letzter Minute werden sie nach Swinemünde ausgeschifft, um dann bei der Stabilisierung der Oderfront eingesetzt zu werden. Noch einmal werden die versprengten Truppen in Eberswalde neu aufgestellt, doch der Marsch der Russen auf Berlin ist nicht mehr aufzuhalten.
Seinen letzten Einsatz erlebt Marcel Goniva im Bahnhof von Köpenick. „Dort wurde mit Handgranaten und Pistolen von Raum zu Raum gekämpft, ja sogar Panzerfäuste
wurden eingesetzt beim Ringen Mann gegen Mann. Die Russen hatten die Wartesäle besetzt, wir befanden uns in der Halle. Hier wurde ich dann von den Splittern einer krepierenden Granate im Rücken getroffen. Diese Splitter trage ich auch heute noch im Rücken“, ist in „Lëtzebuerger Jongen am Krich“der Amicale Pinne & Jannowitz zu lesen.
Doch er hat das Glück, in einem der letzten Lazarettzüge aus Berlin evakuiert zu werden. In Lübeck gerät er in englische Gefangenschaft, aus der er als Luxemburger schon nach einigen Tagen entlassen wird.
Karriere als Unteroffizier
Nach einer abenteuerlichen Rückreise kommt er am 13. Mai zu Hause an, wo man allerdings mit seinem Tod gerechnet hatte. Dort trifft er auf seinen fahnenflüchtigen Bruder Robert, sodass die Familie sich glücklich schätzen kann, dass ihre beiden Söhne die Zwangsrekrutierung heil überlebt haben. Die Bezeichnung ‚heil‘ ist aber mit Vorsicht zu genießen, da damals an eine psychologische Betreuung dieser von den Fronterlebnissen traumatisierten Heimkehrer nicht einmal gedacht wurde.
Zwei Monate nach seiner Heimkehr wird Marcel Goniva im Rahmen der Einführung des obligatorischen Militärdienstes in die neu geschaffene luxemburgische Armee eingezogen. Für ihn und seine Altersgenossen war es eine Ehre, nun eine luxemburgische Uniform tragen zu dürfen.
Marcel Goniva entschloss sich für eine Berufskarriere als Unteroffizier. Dank seiner Ausbildung als Maschinenschlosser in der Handwerkerschule arbeitete er zunächst in Bitburg, dann auf dem Diekircher Herrenberg, in der
Werkstatt des Fuhrparks der Armee, dessen Leiter er später wurde, nachdem er die Meisterprüfung als Kfz-Mechaniker bestanden hatte. 1981 wurde er als Chef d’atelier ORD pensioniert und prompt von der Diekircher Gemeinde an der École Complémentaire als Instruktor eingestellt, ursprünglich nur für einige Monate, um einen Krankenurlaub zu überbrücken. Am Ende wurden neun Jahre daraus.
In seinem Vorwort zum Buch „Lëtzebuerger Jongen am Krich“schreibt der ehemalige Premierminister Jean-Claude Juncker: „Viele, die in jungen Jahren in die verhasste Uniform gepresst wurden, … ziehen es oft vor, zu schweigen statt zu erzählen … So verständlich ihr Schweigen auch ist, so falsch ist es. Wie sollen wir, die Jüngeren, die richtigen Lehren aus dem Geschehenen ziehen, wenn wir auf Vermutungen statt auf Wissen angewiesen sind.“
Diese GranatSplitter trage ich auch heute noch im Rücken. Marcel Goniva aus Diekirch
Gegen das Vergessen
Marcel Goniva hat sich diese Aufforderung zu Herzen genommen und vor rund zehn Jahren erzählten er und sein Leidensgenosse G. Junck, auf Einladung des damaligen Lyzeumsdirektors in Diekirch, zum ersten Mal Schülerinnen und Schülern von dem, was sie als Zwangsrekrutierte erlebt hatten. Es folgten viele Auftritte an anderen Sekundarschulen.
2017 wurde Marcel Goniva als Enrôlé de Force engagé dans la transmission de la mémoire seitens der Regierung die Auszeichnung Chevalier de l'Ordre de la Couronne de chêne verliehen. Solange seine Gesundheit es zulässt, möchte er sich weiterhin dafür einsetzen, dass das, was ihm und seinen Kameraden widerfahren ist, nicht dem Vergessen anheimfällt.