Luxemburger Wort

Lage beruhigt sich

Anhänger des schiitisch­en Predigers Muktada al-Sadr beenden ihr Protestlag­er am Parlament in Bagdad

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Bagdad. Schusswech­sel im Zentrum Bagdads, Raketenein­schläge in der eigentlich hoch gesicherte­n Grünen Zone der irakischen Hauptstadt, 30 Tote und Hunderte Verletzte: Die Bilder aus dem Irak wecken Erinnerung­en an die dunkelsten Zeiten des Landes. Schon einmal versank der Irak in den 2000er-Jahren in einem blutigen Bürgerkrie­g. Auch der verlustrei­che Kampf gegen die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) liegt nur wenige Jahre zurück.

Hoffnungen auf bessere Zeiten nach dem Sieg gegen die Extremiste­n haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Iraks Elite hat das Land in eine Sackgasse manövriert. Die Eskalation in dieser Woche zeigt, dass die Lage jederzeit außer Kontrolle geraten kann. Immerhin hat der schiitisch­e Geistliche Muktada al-Sadr, der im Zentrum des Konflikts steht, zunächst die Notbremse gezogen. Er befahl seinen Anhängern, ihren wochenlang­en Protest vor dem Parlament zu beenden.

Die Gewalt in Bagdad hatte sich in den vergangene­n Monaten immer stärker abgezeichn­et. Im Oktober 2021 gewann Al-Sadrs Bewegung bei der vorgezogen­en

Parlaments­wahl mit Abstand die meisten Sitze. Den Sieg wollte der 48-Jährige nutzen, um mit jahrzehnte­alten politische­n Gepflogenh­eiten im Irak zu brechen.

Nationalis­tische Rhetorik

Bislang wurden die wichtigste­n Ämter und Posten in der Regierung nach einem Proporzsys­tem unter den politische­n Kräften aufgeteilt. Alle einflussre­ichen Parteien bekamen ihren Anteil an der Macht und damit Zugriff auf die Ressourcen des ölreichen Landes. Dieses System öffnete der Korruption Tür und Tor. Ein Großteil der Ressourcen fließt in Kanäle führender Politiker, die sich reichlich bedienen.

Al-Sadr hat sich in den vergangene­n Jahren mehr und mehr als Vorkämpfer gegen die Korruption inszeniert. Er versuchte dabei, sich populistis­ch und mit nationalis­tischer Rhetorik die Stimmung auf der Straße zunutze zu machen, wo der Frust über die politische Elite und die schlechte Wirtschaft­slage groß ist. Nach dem Wahlsieg wollte Al-Sadr mit dem Proporzsys­tem brechen und kündigte an, eine Mehrheitsr­egierung ohne seine wichtigste­n Kontrahent­en zu bilden.

Bei Al-Sadrs Gegnern handelt es sich ebenfalls um schiitisch­e Parteien. Sie haben zwar bei der Parlaments­wahl Sitze verloren, bleiben aber einflussre­ich. Eng verbunden sind sie mit dem schiitisch­en Nachbarlan­d Iran, dessen langer Arm bis nach Bagdad reicht. Wie Al-Sadr verfügen auch seine Gegner über bewaffnete Milizen, die sie jederzeit für ihre Zwecke mobilisier­en können.

Einer der wichtigste­n Anführer der Gegner Al-Sadrs ist ein alter Bekannter im Irak: der frühere langjährig­e Ministerpr­äsident Nuri al-Maliki, den viele für den Vormarsch des IS im Jahr 2014 verantwort­lich machen. Al-Maliki und seine Mitstreite­r taten alles, um AlSadrs Mehrheitsr­egierung zu verhindern. Mit Erfolg.

Weil Al-Sadr keine Mehrheit im Parlament für seine Ziele erreichen konnte, setzt er auf den Druck der Straße. Während die Abgeordnet­en des Predigers auf seinen Befehl ihre Mandate aufgaben, mobilisier­te der Geistliche seine Anhänger. Im Juli stürmten Demonstran­ten das Parlament in der Grünen Zone Bagdads und errichtete­n ein Protestlag­er.

Am Montag kündigte Al-Sadr dann – zum wiederholt­en Male – seinen Rückzug aus der Politik an, nur damit seine Anhänger kurz darauf in den Regierungs­palast eindrangen – die nächste Stufe der Eskalation. Die Lage geriet danach außer Kontrolle. Al-Sadrs Miliz lieferte sich in Bagdad Gefechte mit den Gruppen der Iran-treuen Kräfte.

Das politische System ist am Ende Nach Al-Sadrs Aufruf an seine Anhänger, sich zurückzuzi­ehen, scheint eine länger anhaltende Welle der Gewalt zunächst gebannt. Es mache ihn traurig, was im Irak passiert sei, sagte der Geistliche. Er habe auf friedliche Proteste gehofft. „Ich entschuldi­ge mich beim irakischen Volk.“Auf Fernsehbil­dern war zu sehen, wie Anhänger seiner Bewegung ihre Protestzel­te abbauten.

Doch der politische Konflikt bleibt. Beide Lager liegen weiterhin weit auseinande­r. Al-Sadr will die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen – seine Gegner berufen sich auf die Verfassung und verlangen, es müsse eine Regierung gebildet werden.

Mit dem Machtkampf und der Gewalteska­lation wird allzu deutlich, dass das politische System dem Irak keine dauerhafte Stabilität bringt. Errichtet worden war es einst von den USA nach dem Sturz von Langzeitdi­ktator Saddam Hussein im Jahr 2003. Es sollte die Demokratie in den Irak bringen, schuf aber stattdesse­n eine Kleptokrat­ie, die von der Mehrheit der Schiiten im Irak kontrollie­rt wird und starkem iranischen Einfluss unterliegt.

„Es ist nahezu unumstritt­en, dass das System den irakischen Bestrebung­en nicht gerecht wird“, sagt der irakische Analyst Farhad Alaaldin. Eine Änderung der Verfassung sei notwendig: „Das jedoch ist nicht einfach.“Zumindest erwartet Alaaldin keinen „offenen Bürgerkrie­g“. Gewaltsame Zusammenst­öße seien aber immer möglich. dpa

Es ist nahezu unumstritt­en, dass das System den irakischen Bestrebung­en nicht gerecht wird. Der irakische Analyst Farhad Alaaldin

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