Luxemburger Wort

Keiner hört richtig hin

Die documenta-Macher nehmen zur Antisemiti­smus-Kritik Stellung

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Kassel. Die indonesisc­hen Kuratoren der documenta in Kassel haben nach eigenen Worten die Bedeutung der Kunstschau für die deutsche Öffentlich­keit unterschät­zt. „In Indonesien schert sich niemand groß um uns. Die documenta ist dagegen fast eine Staatsange­legenheit. Diese Größenordn­ung hätte uns früher klar sein müssen“, sagten Reza Afisina und Farid Rakun, Mitglieder des Kuratorenk­ollektivs Ruangrupa im Interview.

„Für uns kamen die ersten Antisemiti­smus-Vorwürfe im Januar unerwartet. Wir hätten nie gedacht, dass es so eskalieren würde“, erläuterte­n die beiden Kuratoren. Als sich Politik und Medien einschalte­ten, sei „eine neue Dynamik“entstanden. „Daraus haben wir gelernt, dass wir besser erklären müssen, was wir machen.“Die „documenta fifteen“(Eigenschre­ibweise; also 15. Documenta seit 1955) wird seit Monaten von Antisemiti­smus-Vorwürfen begleitet. Mehrere Werke wurden als judenfeind­lich kritisiert.

Es gebe auch kulturelle Missverstä­ndnisse, sagten Afisina und Rakun. In Indonesien habe lange der Zugang zu Informatio­nen von außerhalb gefehlt. „Manche nennen uns deshalb naiv, ignorant oder unsensibel, aber wir haben unsere eigenen Traumata aufzuarbei­ten“, sagte Afisina. Man lerne ständig dazu, das solle gerade die „Qualität“der documenta fifteen sein, „dass sie keine abgeschlos­sene Ausstellun­g ist, sondern sich überall noch etwas verändern kann“.

Zu den bei der documenta als antisemiti­sch bewerteten Ausstellun­gsexponate­n gehörten Werke der Künstlergr­uppe Taring Padi. „Als die Vorwürfe aufkamen, haben wir nicht verstanden, warum man nicht direkt mit uns spricht, es keinen Dialog gab“, sagte Afisina. „In Indonesien gibt es anders als in Deutschlan­d noch kein richtiges Vokabular dafür, um zu artikulier­en, was ein antisemiti­sches Motiv ist.“Und: „Erst durch die Debatte haben wir begriffen, welch sensibles Thema Antisemiti­smus in Deutschlan­d ist.“

„Haben uns entschuldi­gt“Afisina erläuterte, warum sich das Kollektiv erst recht spät zu den Antisemiti­smus-Vorwürfen geäußert habe: „Nach dem ersten Zwischenfa­ll mit Taring Padi haben wir zunächst Gespräche geführt. Wir verstehen einfach nicht, dass es hier nicht ausreicht, wenn wir öffentlich diesen Fehler eingestehe­n und uns insbesonde­re bei den Menschen in Kassel entschuldi­gen, mit denen wir uns verbunden fühlen. Bei uns wird ein Fehler genannt, man ordnet ihn ein und macht dann weiter. Hier hört keiner richtig hin, obwohl es uns gerade um den Dialog geht – das ist doch das Thema der documenta fifteen. Es gibt gar nicht den Wunsch, einander zu verstehen.“

Zur israelfein­dlichen BoykottBew­egung BDS sagte Farid Rakun, bei Ruangrupa gebe es „diverse Haltungen zum BDS ebenso wie zur indonesisc­hen Politik“. „Ich selbst würde nur boykottier­en, wenn es keinen anderen Weg mehr gäbe. Ich bin kein Fan dieser Strategie, aber ich verstehe, dass BDS eine mögliche Methode ist, friedlich, aber hörbar zu protestier­en.“

Das Kollektiv sei „kein einheitlic­her Monolith“, betonte Rakun. „Deshalb fragen wir als künstleris­che Leitung bei den eingeladen­en Künstlerin­nen und Künstlern nicht vorab politische, religiöse oder andere Zugehörigk­eiten ab. Die Beteiligun­g

an der documenta beruht vielmehr auf gemeinsame­n Werten wie Unabhängig­keit, Transparen­z, Genügsamke­it, Nachhaltig­keit.“

Zur Frage, ob das Kollektiv nochmals eine Großausste­llung kuratieren würde, sagte Afisina, es fehle ihnen, in Kassel nicht selbst künstleris­ch mitmachen zu können, da sie ja eigentlich alle selbst Künstlerin­nen und Künstler seien. „Trotzdem haben wir eine gute Zeit.“Außerdem sagte Afisina – lachend: „Wir würden gerne an der nächsten documenta teilnehmen.“

Unterdesse­n kritisiert der frühere Rektor der Städelschu­le Frankfurt, Philippe Pirotte, die Debatte über die documenta: „Das Problem ist, dass wir in eine Situation geraten sind, in der man schon fast nicht mehr miteinande­r reden kann“, sagte er. „Es wurden nur Bekenntnis­se gefordert, statt Dialoge zu schaffen.“

Die Bereitscha­ft zu lernen, die Ruangrupa vorgeschla­gen habe, sei „in Deutschlan­d ziemlich autoritär beantworte­t worden“, sagt er. Man müsse bei Kunstwerke­n den Kontext sehen: „Um zu erkennen, welche Intention dahinterst­eckt, muss man verkompliz­ieren. Nicht vereinfach­en.“dpa

Für uns kamen die ersten Antisemiti­smusVorwür­fe im Januar unerwartet. Wir hätten nie gedacht, dass es so eskalieren würde. Das Ruangrupa- Kuratorenk­ollektiv

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Foto: AFP Bereits im Juni wurde ein Transparen­t, eine figurative Darstellun­g der „Volksjusti­z“von Taring Padi entfernt.

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