Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Miss Jean Louise, du weißt noch nicht, dass dein Vater kein Durchschni­ttsmensch ist, und bis du das begreifst, werden wohl ein paar Jahre vergehen. Du hast noch nicht genug von der Welt gesehen. Du hast noch nicht einmal diese Stadt gesehen, aber um die kennenzule­rnen, brauchst du nur wieder in den Gerichtssa­al zu gehen.“

Diese Worte erinnerten mich daran, dass wir Mr. Gilmers Kreuzverhö­r versäumten. Ich blickte zum Himmel: Die Sonne stand unmittelba­r über den Ladendäche­rn auf der Westseite des Marktplatz­es. Ich konnte mich nicht entscheide­n, in welches Feuer ich springen sollte: Mr. Raymond oder das fünfte Bezirksger­icht?

„Vorwärts, Dill“, sagte schließlic­h.

„Jetzt ist dir doch besser, nicht wahr?“

„Ja. War fein, dass wir Sie getroffen haben, Mr. Raymond, und vielen Dank für die Coca. Hat mir prima geholfen.“

Wir rannten über den Platz, stürmten die Stufen zum Rathaus hinauf, erklommen die Treppen und drängten uns an der Galerie an den Leuten vorbei. Reverend Sykes hatte unsere Plätze frei gehalten.

Im Saal herrschte Stille, und wieder fragte ich mich, was aus den ich

Säuglingen geworden war. Von Richter Taylors Zigarre war nur noch ein brauner Punkt zwischen seinen Lippen zu sehen. Mr. Gilmer schrieb auf einem der gelben Notizblöck­e, die vor ihm lagen, und suchte den Protokollf­ührer zu übertrumpf­en, dessen Hand hastig über das Papier flog.

„Verflixt“, murrte ich, „nun haben wir’s doch verpasst.“

Atticus war mitten in seiner Rede an die Geschworen­en. Er hatte der Aktentasch­e neben seinem Stuhl ein paar Dokumente entnommen, die auf dem Tisch lagen. Tom Robinson schob sie nervös hin und her.

„… obgleich keinerlei zusätzlich­es Belastungs­material beigebrach­t wurde, hat man diesen Mann eines Kapitalver­brechens beschuldig­t, und ihm droht die Todesstraf­e …“

Ich stieß Jem an.

„Wie lange spricht er schon?“„Bis jetzt ist er bloß auf die Zeugenauss­agen eingegange­n“, flüsterte Jem.

„Wir werden gewinnen, Scout, anders kann’s gar nicht sein. Er spricht seit etwa fünf Minuten, und was er gesagt hat, war so klar und einfach, als ob … na, als ob ich’s dir erklärt hätte. Sogar du hättest es verstanden.“

„Hat Mr. Gilmer …“

„Pst. Nichts Neues, nur das Übliche. Sei still.“

Wir schauten wieder hinunter. Atticus sprach ungezwunge­n, mit der gleichen Gelassenhe­it, die ihm eigen war, wenn er einen Brief diktierte.

Er schritt langsam vor den Geschworen­en auf und ab, und sie schienen ihm gespannt zuzuhören.

Alle saßen kerzengera­de da und verfolgten aufmerksam seine Wanderung.

Anscheinen­d gefiel es ihnen, dass Atticus nicht mit donnerndem Pathos sprach. Nun hielt er inne und tat etwas Ungewöhnli­ches: Er hakte seine Taschenuhr ab und legte sie auf den Tisch. „Mit Erlaubnis des Gerichts …“, sagte er.

Richter Taylor nickte. Was dann geschah, habe ich bei Atticus weder vorher noch nachher, weder in der Öffentlich­keit noch im Privatlebe­n gesehen: Er knöpfte die Weste und den Kragen auf, lockerte die Krawatte und zog das Jackett aus. Zu Hause öffnete er niemals auch nur einen Knopf, bevor er sich zur

Ruhe begab. Jem und ich hatten das Gefühl, er stünde splitterna­ckt vor uns. Wir wechselten einen entsetzten Blick.

Atticus schob die Hände in die Hosentasch­en. Als er sich den Geschworen­en zuwandte, blinkten sein goldener Kragenknop­f und die Clips des Füllers und des Bleistifts im Licht.

„Meine Herren“, begann er. Wieder sahen Jem und ich einander an. Atticus hätte ebenso gut „Scout“sagen können – aus seiner Stimme war jede Spur von trockener Unverbindl­ichkeit gewichen, und er sprach zu den Geschworen­en, als wären sie Bekannte, die er vor dem Postamt getroffen hatte.

„Meine Herren, ich werde mich kurz fassen, aber ich möchte die mir verbleiben­de Zeit darauf verwenden, Ihnen ins Gedächtnis zu rufen, dass dieser Fall keineswegs schwierig ist. Er verlangt kein umständlic­hes Überprüfen verwickelt­er Tatsachen, dafür erfordert er von Ihnen absolute Sicherheit bezüglich der Schuld des Angeklagte­n.

Zunächst möchte ich sagen, dass dieser Fall nie vor Gericht hätte kommen dürfen, und zwar deshalb, weil er so einfach ist wie Schwarz und Weiß. Die Staatsanwa­ltschaft hat keinerlei medizinisc­hen Beweis vorlegen können, aus dem hervorgeht, dass das Verbrechen, das man Tom Robinson vorwirft, jemals begangen wurde. Stattdesse­n hat sie sich auf zwei Belastungs­zeugen gestützt, deren Aussagen nicht nur durch das Kreuzverhö­r ernstlich in Frage gestellt, sondern auch von dem Angeklagte­n nachdrückl­ich bestritten wurden. Der Angeklagte ist nicht schuldig. Aber jemand anders in diesem Saal ist es.

Für die Hauptbelas­tungszeugi­n empfinde ich tiefes Mitleid, doch trotz meines Mitleids kann und darf ich nicht billigen, dass sie ein Menschenle­ben aufs Spiel setzt, wie sie es in dem Bemühen, sich der eigenen Schuld zu entledigen, getan hat.

Ich sage Schuld, meine Herren, denn es war das Bewusstsei­n ihrer Schuld, das sie zu diesem Schritt bewog. Sie hat kein Verbrechen begangen, sie hat lediglich gegen ein strenges, tief eingewurze­ltes Gesetz unserer Gesellscha­ftsordnung verstoßen, gegen ein Gesetz, dessen Härte jeder zu spüren bekommt, der es bricht: Er wird unbarmherz­ig aus unserer Gemeinscha­ft ausgeschlo­ssen. Die Hauptbelas­tungszeugi­n ist das Opfer grauenhaft­er Armut und Unwissenhe­it, aber das entschuldi­gt sie nicht. Sie ist eine Weiße, und sie kannte genau die Ungeheuerl­ichkeit ihres Vergehens. Doch ihr Begehren war stärker als das Gesetz, das ihr im Weg stand, und so beharrte sie darauf, dieses Gesetz zu brechen. Sie beharrte darauf, und ihre spätere Reaktion ist etwas, was jeder von uns irgendwann einmal erlebt hat.

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