„Die Qualen haben sich gelohnt“
Noé Ury bestreitet die Deutschland-Tour und schnuppert Profiluft
Bis zum vergangenen Sonntag wurde bei der Deutschland-Tour an fünf Tagen Radsport vom Feinsten geboten. Filippo Ganna, Caleb Ewan, Alexander Kristoff, Adam Yates und Pello Bilbao durften sich über Etappensiege freuen. Yates sicherte sich zudem den finalen Triumph. Egan Bernal, Fabio Jakobsen, Romain Bardet, Bauke Mollema und Greg van Avermaet waren ebenfalls dabei. Das Starterfeld konnte sich wahrlich sehen lassen.
Und mittendrin fuhr fast klammheimlich ein Luxemburger. Noé Ury gehört nicht zur nationalen Radsport-Prominenz. Das Talent aus Grevenknapp im Westen des Landes fuhr erstmals im Juni bei den Landesmeisterschaften ins Rampenlicht, als er hinter Colin Heiderscheid Zweiter wurde. Es folgte Platz sechs im Luxemburger Klassement des U23-Dreiländerchampionats. Ury hat noch keinen Profivertrag in der Tasche. Der 18-Jährige fährt für das deutsche Drittliga-Team Dauner-Akkon, das eine Einladung zur Deutschland-Tour erhielt und sich somit gegen die zahlreichen Topteams beweisen durfte.
„Eine zusätzliche Motivation“Für Ury reichte es unter dem Strich zu Rang 90. Er war rund 40 Minuten langsamer als Yates. Aber das war Nebensache, Ury hat Erfahrungen gesammelt, die er so schnell nicht vergessen wird. Die Eindrücke sind noch frisch. „Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden. Die Deutschland-Tour ist ein großes Rennen. Die Organisation war perfekt. Alles lief reibungslos. Ich konnte erstmals sehen, was es bedeutet, so ein Rennen zu bestreiten. Ich muss sagen, dass ich auf den Geschmack gekommen bin. So könnte meine Zukunft aussehen. Dieser Wettkampf war eine zusätzliche Motivation“, schwärmt er, während er am Montag im Auto sitzt und nach Hause fährt.
In Deutschland fühlt er sich ohnehin wohl. „Es ist mein erstes Jahr auf Kontinentalebene. Ich bin gespannt, was die Zukunft noch bereithält“, erzählte er im Gespräch nach seiner überraschenden Silbermedaille bei den Landesmeisterschaften. „Serge Christen war Sportlicher Leiter beim Team Dauner. Sie hatten den Luxemburger Markt etwas im Blick. Heiderscheid fuhr schon bei der Mannschaft. Weil meine Mutter Deutsche ist, gingen meine Bewerbungen eher in den deutschsprachigen Raum“, erklärt Ury den Weg, den er eingeschlagen hat.
Die Deutschland-Tour, die ein riesiger Publikumserfolg war, war das mit Abstand größte Rennen in Urys noch junger Laufbahn. „Es war ziemlich verrückt. Beim Prolog ist man ja alleine am Start. Da steht man voll im Fokus. Das war eine besondere Atmosphäre. Ansonsten waren wirklich immer sehr viele Menschen in den Startund Zielorten. Die Leute wollten Fotos machen und haben nach Autogrammen gefragt. Ich war der jüngste Fahrer im Peloton, das hat der Sprecher bei der Teampräsentation am Morgen stets hervorgehoben. Ich hatte richtig viel Spaß“, fasst Ury zusammen.
Und er gibt gerne zu: „Ich hätte nicht gedacht, dass es mich derart beeindrucken oder mitnehmen würde, mit Topstars der Szene zu fahren. Es war cool, mit Fahrern unterwegs zu sein, die man ansonsten nur aus dem Fernsehen kennt. Bernal hat vor drei Jahren die Tour de France gewonnen. Bei der Deutschland-Tour stellte er sich voll in den Dienst seiner Ineos-Mannschaft und ließ sich in den Bergetappen nach getaner Arbeit zurückfallen. Ich fuhr am Schauinsland gemeinsam mit ihm ins Ziel. Für ihn war das wohl ein lockeres Dahinrollen, für mich eher weniger“, lacht er. „Insgesamt muss ich sagen, dass die Fahrer alle sehr nett sind. Ich konnte ein paar Worte mit Bernal und Jakobsen wechseln. Starallüren haben die keine.“
„Habe mich ordentlich verkauft“Ury ist auf den Geschmack gekommen: „Da mitzufahren, war schon schön, aber einen Impakt aufs Rennen zu haben, ist noch einmal eine andere Sache. Dennoch bin ich glücklich: Ich bin angekommen, während viele andere Fahrer aufgeben mussten. Ich habe zwar noch nie so gelitten, wie auf den letzten beiden Etappen, doch die Qualen haben sich gelohnt. Ich habe mich ordentlich verkauft. Das kann mir niemand mehr nehmen.“
Und er ergänzt: „Ich bin besonders stolz auf meinen Aufritt auf der letzten Etappe. Ich habe von Kilometer zehn bis Kilometer 190 gelitten. Es gab wirklich keine Verschnaufpause. Weniger gut war mein Auftritt am dritten Tag. Ich war im entscheidenden Moment nicht gut positioniert. Ein besseres Resultat wäre möglich gewesen.“
Ury, der noch ein Jahr im Sportlycée vor sich hat und sich vorstellen kann, zur Armee zu gehen, hat die Impressionen bei der Deutschland-Tour aufgesaugt. „Es fehlt mir an Erfahrung, das ist ganz klar. Mir ist ebenfalls klar geworden, dass ich längst noch nicht alles weiß, auch wenn ich das vielleicht manchmal anders sehe“, gesteht er.
In einem professionellen Peloton wird anders gefahren als bei den Junioren, wo die Rennen immer sehr nervös und von unzähligen Attacken geprägt sind. „Es gibt bei den Profis ungeschriebene Gesetze, die man zu beachten hat. Es gibt im Peloton respektierte Fahrer, die einem klarmachen, wie man sich als Mitglied einer kleinen Mannschaft zu verhalten hat und was man unterlassen soll“, schildert Ury.
Die Leute wollten Fotos machen und haben nach Autogrammen gefragt. Noé Ury
Der 18-Jährige hat ebenfalls ein Beispiel parat: „Hat sich bei den Profis die richtige Ausreißergruppe abgesetzt, beruhigt sich das Geschehen im Peloton. Die Mannschaft
des Führenden nimmt das Tempo raus und kontrolliert den Wettkampf. Dann ist es zu spät. Man kommt nicht mehr vorbei und hat folglich den richtigen Coup
verpasst. Hektisches im Peloton herumfahren, hat man zu unterlassen.“
Transfer durchaus möglich
Der talentierte Luxemburger sieht sich selbst vom Fahrertyp als jemanden „der vieles gut kann, aber nichts perfekt“. Er weiß aber bereits, in welche Richtung es gehen könnte: „Brandon McNulty vom Team UAE-Emirates ist ein Vorbild. Jemand, der gut im Kampf gegen die Uhr ist und auch gut die Berge hochkommt. So in etwa könnte es bei mir auch in den kommenden Jahren aussehen“Ury ist 1,81 m groß und ging mit 66 Kilogramm in die Tour de l'Avenir.
In den kommenden Monaten hat er viel vor: „Im Winter werde ich richtig hart trainieren. Ich habe zuletzt gemerkt, dass ich in den Rennen nach langen Anstrengungen noch nicht die Wattwerte drücken kann wie im Training. Daran muss ich also noch arbeiten.“
Für Ury endet die Saison bald. „Ich werde im Normalfall noch die Ronde de l'Isard bestreiten, ein U23-Rennen. Vielleicht noch ein
Bundesliga-Rennen“, sagt der Luxemburger. Wie es im kommenden Jahr für ihn weitergeht, ist noch offen. „Es steht noch nicht fest, ob ich beim Team Dauner-Akkon bleibe. Es gibt andere Möglichkeiten. In den kommenden zwei Monaten wird eine Entscheidung fallen.“
Was hingegen klar ist: Ury will noch viele ähnlich große Rennen wie die Deutschland-Tour bestreiten. Denn: „Es war mega.“
Es gibt im Peloton respektierte Fahrer, die einem klarmachen, wie man sich als Mitglied einer kleinen Mannschaft zu verhalten hat. Noé Ury