Die Geschichte eines globalen Desasters
Der Rückgang der Insektenpopulation hat nicht nur für die Natur dramatische Konsequenzen, sondern auch für das Leben der Menschen
Wenn ein Schmetterlingsspezialist aufs Feld geht, schaut er sich nur selten die Landschaft an. Wissenschaftler, die sich mit dieser Art von Insekten beschäftigen, richten ihren Blick für gewöhnlich eher auf die unteren Ebenen der Wiesen. Constanti Stefanescu erforscht wirbellose Tiere schon so lange, dass sein Rücken eine gewisse Krümmung angenommen hat. Er ist Biologe und arbeitet für das Catalan Butterfly Monitoring Scheme. Heute will er die Insektendichte im Montseny Natural Park messen, einem Wald nördlich von Barcelona, der 1978 zum Unesco-Biosphärenreservat erklärt wurde.
Unter dem Arm trägt der Biologe ein Netz – auch wenn er es nur selten nutzt. „In den vergangenen 30 Jahren konnten wir nachweisen, dass 70 Prozent der Schmetterlingsarten in Katalonien im Rückgang begriffen sind“, erzählt er. „Der Zustand, in dem die Schmetterlinge sind, ist ein Indikator für den generellen Zustand der Insekten. Dazu gehören auch die Insekten, die die Pflanzen bestäuben, auf die wir angewiesen sind.“
Knappe Mittel für die Forschung
„In der wissenschaftlichen Gemeinschaft haben wir seit vielen Jahren den Eindruck, dass der Rückgang enorm ist, aber die Mittel für die Erforschung von Insekten waren schon immer knapp“, räumt Axel Hochkirch ein, Leiter des Invertebraten-Komitee der „International Union for Conservation of Nature“(IUCN) und einer der anerkanntesten Entomologen der Welt (so anerkannt, dass vor einigen Monaten eine neue Grillenart, die auf Kreta entdeckt wurde, nach ihm benannt wurde: Leptophyes axeli).
„Vor fünf Jahren veränderte sich alles“, sagt Hochkirch. Im Oktober 2017 veröffentlichte der Entomologische Verein Krefeld eine Studie, die die Alarmglocken rund um den Globus schrillen ließ. Durch den Zugang zu seltenen Daten konnten die Forschenden bestimmen, dass in weniger als 30 Jahren ein Verlust von 75 Prozent der Biomasse bestimmter Insekten in deutschen Naturschutzgebieten zu verzeichnen war. In den Sommermonaten, wenn die wirbellosen Tiere am stärksten vertreten sind, lag der Rückgang sogar bei 82 Prozent. Diese Nachricht verbreitete sich schnell rund um den Globus, Zeitungen berichteten von einer bevorstehenden Insekten-Apokalypse oder einem Insekten-Armageddon.
Seither haben sich die wissenschaftlichen Bemühungen, das Ausmaß des Problems zu ermitteln, vervielfacht. Die Zahlen sind alles andere als ermutigend. „Die neuesten Studien der IUCN zeigen, dass täglich 30 Arten von unserem Planeten verschwinden“, so Hochkirch, der die Untersuchungen leitete. Er war auch federführend an den internationalen Bemühungen beteiligt, eine noch nie dagewesene Rote
Biologin Lisa Reiss von der Universität Trier.
Schmetterlingsforscher Stefanescu.
Liste der wirbellosen Tiere Europas zu erstellen. „Wir konnten ermitteln, dass ein Viertel der Insekten des Kontinents derzeit vom Aussterben bedroht ist.“
Für Alain Klein, Biologe im Naturpark Our, ist der Ausdruck „InsektenApokalypse gar nicht so falsch“. Das Großherzogtum war eines der ersten europäischen Länder, das einen Insektenschutzplan aufgestellt hat, und Klein war von Tag eins an Teil dieses Projektes. „Es ist ein Notfall, den wir nicht ignorieren können. Die Zeit, sich dem Thema zu widmen, ist jetzt. Um unserer selbst willen.“
Vielfältige Schäden
Insekten erfüllen wichtige Funktionen für das menschliche Leben – sogenannte Ökosystemleistungen. Ein Drittel der Nahrungsmittel, die die Menschen zu sich nehmen, hängt etwa von der Bestäubung ab. In Indien, dem drittgrößten Konsumenten von Sonnenblumenöl, stehen Landwirte vor folgendem Problem: Die Produktion für die Haushalte muss gesteigert werden, aber dort, wo die großen Plantagen liegen, sind Bienen so rar geworden, dass die Sonnenblumen nicht blühen. Diesen Sommer wurden im Tenkasi-Distrikt die Pflanzen von Hand bestäubt. Das ist ein zeitaufwendiger Prozess, bei dem Menschen von Hand den Pollen jeder Blüte mit einem Tuch aufsammeln und ihn auf eine andere reiben.
In Südchina, vor allem in der Provinz Sichuan, der Region weiter Birnenund Apfelplantagen, wird seit einem Jahrzehnt fast die komplette Bestäubung von Hand vorgenommen – was einen hohen Anstieg der Produktionskosten nach sich zieht. Die Debatte kommt nun auch in Europa auf. Im Mai dieses Jahres sagte ein britischer Experte bei Euronews, dass der Rückgang der Insekten eine Erhöhung der Lebensmittelpreise von 2,4 Milliarden Euro alleine in Großbritannien verursachen könnte. Mit anderen Worten: eine Steigerung von 17 Prozent im Budget jeder Familie.
Doch es gibt noch mehr potenziellen Schaden für die Menschen als nur im Lebensmittelbereich. Eine große Zahl von Insekten, vor allem Käfer, zersetzen tote Stoffe. Bäume, die im Wald umfallen, Tierkörper, den Kot von Rindern, die über die Weiden streifen. Der Hirschkäfer, das größte Exemplar in Europa, ist sogar dazu fähig, große Bäume zu zersetzen, vor allem Eichen. „Durch die Zersetzung von totem Holz geben sie dem Boden Nährstoffe, Kohlenstoff und vor allem Feuchtigkeit zurück“, so João Gonçalo Soutinho von der Vereinigung Bioliving in Portugal, die ein Überwachungs- und Erhaltungsprogramm für diese Arten betreibt.
„Diese Tiere schaffen einen Boden, der resistenter gegenüber Waldbränden und extremen Trockenheiten ist. Zum einen verhindern sie die Austrocknung des Bodens, zum anderen können sie die Ausbreitung von Flammen leichter verhindern. Und selbst wenn die Lebensräume von einem dieser Phänomene betroffen sind, sind sie Hauptakteure für eine rasche Erholung“, so Soutinho.
Sónia Ferreira, Entomologin an der Universität Porto, stolperte vor wenigen Monaten in Alentejo, im Süden Portugals, über ein Problem, als sie Insekten untersuchte. „Der Kot von Schafherden, die in dieser Region weit verbreitet sind, wurde nicht zersetzt. Der Einsatz von Pestiziden hatte die Insekten vernichtet und führt nun zu einem ernsthaften Problem für die öffentliche Gesundheit und die Sicherheit der Tiere.“
Auch wenn man dazu neigt, Insekten als Plagegeister zu betrachten, sind sie in Wirklichkeit die großen Schädlingsbekämpfer der Natur. Manchmal sie selbst, manchmal aber auch, weil sie als Nahrung für Vögel und Fledermäuse dienen, die wichtige Ökosystemdienste für die Menschen erbringen. Im Tal des Flusses Tua im Norden Portugals beobachtet Ferreira die Ernährungsweise von Fledermäusen. „Indem wir die Insekten im Kot der Tiere überwachen, können wir bestimmen, wie bedroht sie sind“, so Ferreira. „Fledermäuse sind die effizientesten Schädlingsbekämpfer in Weinbergen – die die Basis der Wirtschaft in dieser Region ausmachen.“
Criii-criii-criii-criii. Grillen und Heuschrecken sind singende Tiere. Holly
Die neuesten Studien der IUCN zeigen, dass täglich 30 Arten von unserem Planeten verschwinden. Axel Hochkirch, IUCN
Lisa Reiss untersucht außergewöhnliche Tiere.
nicht standhalten. Wir müssen dringend neue Eichen pflanzen, um die Biodiversität und natürliche Lebensräume wieder herzustellen. Auch Förster verstehen, dass ein Eingreifen dringend notwendig ist“, so Reiss.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Im Norden Luxemburgs kommt eine Gruppe Biologen zusammen, um dem Worst-Case-Szenario entgegenzuwirken. „Wir können die Insekten-Apokalypse noch umkehren“, glaubt Biologe Alain Klein vom Naturpark Our. Er war einer der Köpfe hinter einem nationalen Insektenschutzprogramm, das rund zehn Millionen Euro in die Biodiversitätspolitik der drei Naturparks Our, Mullerthal und Obersauer investiert. Das Land ist ernsthaft in Sorge um den Rückgang der Insekten und hat im vergangenen Jahr seinen Einsatz mit einem speziellen Schutzplan für Bestäuber verstärkt.
Der Bau von Trockensteinmauern ist einer der originellsten Pläne. Mauern ohne Zement liefern einen hervorragenden Schutz für Insekten und Reptilien. Im Frühling 2022 nahm der Naturpark 15 Geflüchtete auf, die ins Land gekommen waren und Schwierigkeiten
hatten, einen Job zu finden – sie lernten, wie man Trockensteinmauern baut.
Es gibt eine hohe Nachfrage nach den Bauten, aber nur wenige Arbeiter wissen, wie man sie errichtet. Einige der Geflüchteten sind nun in diesem Sektor angestellt. „Wir haben es geschafft, eine Schwäche in eine Stärke zu verwandeln. Wir schützen die Umwelt und finden eine Lösung für Menschen, die sonst keine sehen“, so Klein.
Auf einem Golfplatz in Clerf verwandelten die Biologen das Grün in eine biodiversitätsfreundliche Landschaft. „Wir haben Blumenkorridore angelegt, haben Totholzbehälter eingerichtet und ein Teil der Fläche wird nur noch zweimal jährlich gemäht – anstatt fünf oder sechs Mal“, sagt Klein. Einige Bauernhöfe im Norden des Landes werden umgestaltet, und inmitten von Getreidefeldern werden nun Kräuterund Blumenstreifen angelegt. Ein weiteres Projekt sieht die Umgestaltung von 54 privaten Gärten vor, um sie insektenfreundlich zu machen.
In der wissenschaftlichen Gemeinschaft herrscht die seltene Einigkeit, dass etwas getan werden muss. Hochkirch vom IUCN betont, dass Menschen Insekten brauchen, um zu überleben. Aber nicht nur das. „Alle Spezies haben ein Recht, zu existieren, und das sollte so etwas wie ein Menschenrecht sein“, meint der Entomologe. „Es ist wie ein universelles Recht auf die Existenz der Artenvielfalt.“Es ist auch der einzige Weg, ein globales Desaster zu verhindern.
Wir müssen dringend neue Eichen pflanzen, um die Biodiversität und natürliche Lebensräume wieder herzustellen. Lisa Reiss, Biologin