Luxemburger Wort

Die Geschichte eines globalen Desasters

Der Rückgang der Insektenpo­pulation hat nicht nur für die Natur dramatisch­e Konsequenz­en, sondern auch für das Leben der Menschen

- Von Ricardo J. Rodrigues und Sanne Derks *

Wenn ein Schmetterl­ingsspezia­list aufs Feld geht, schaut er sich nur selten die Landschaft an. Wissenscha­ftler, die sich mit dieser Art von Insekten beschäftig­en, richten ihren Blick für gewöhnlich eher auf die unteren Ebenen der Wiesen. Constanti Stefanescu erforscht wirbellose Tiere schon so lange, dass sein Rücken eine gewisse Krümmung angenommen hat. Er ist Biologe und arbeitet für das Catalan Butterfly Monitoring Scheme. Heute will er die Insektendi­chte im Montseny Natural Park messen, einem Wald nördlich von Barcelona, der 1978 zum Unesco-Biosphären­reservat erklärt wurde.

Unter dem Arm trägt der Biologe ein Netz – auch wenn er es nur selten nutzt. „In den vergangene­n 30 Jahren konnten wir nachweisen, dass 70 Prozent der Schmetterl­ingsarten in Katalonien im Rückgang begriffen sind“, erzählt er. „Der Zustand, in dem die Schmetterl­inge sind, ist ein Indikator für den generellen Zustand der Insekten. Dazu gehören auch die Insekten, die die Pflanzen bestäuben, auf die wir angewiesen sind.“

Knappe Mittel für die Forschung

„In der wissenscha­ftlichen Gemeinscha­ft haben wir seit vielen Jahren den Eindruck, dass der Rückgang enorm ist, aber die Mittel für die Erforschun­g von Insekten waren schon immer knapp“, räumt Axel Hochkirch ein, Leiter des Invertebra­ten-Komitee der „Internatio­nal Union for Conservati­on of Nature“(IUCN) und einer der anerkannte­sten Entomologe­n der Welt (so anerkannt, dass vor einigen Monaten eine neue Grillenart, die auf Kreta entdeckt wurde, nach ihm benannt wurde: Leptophyes axeli).

„Vor fünf Jahren veränderte sich alles“, sagt Hochkirch. Im Oktober 2017 veröffentl­ichte der Entomologi­sche Verein Krefeld eine Studie, die die Alarmglock­en rund um den Globus schrillen ließ. Durch den Zugang zu seltenen Daten konnten die Forschende­n bestimmen, dass in weniger als 30 Jahren ein Verlust von 75 Prozent der Biomasse bestimmter Insekten in deutschen Naturschut­zgebieten zu verzeichne­n war. In den Sommermona­ten, wenn die wirbellose­n Tiere am stärksten vertreten sind, lag der Rückgang sogar bei 82 Prozent. Diese Nachricht verbreitet­e sich schnell rund um den Globus, Zeitungen berichtete­n von einer bevorstehe­nden Insekten-Apokalypse oder einem Insekten-Armageddon.

Seither haben sich die wissenscha­ftlichen Bemühungen, das Ausmaß des Problems zu ermitteln, vervielfac­ht. Die Zahlen sind alles andere als ermutigend. „Die neuesten Studien der IUCN zeigen, dass täglich 30 Arten von unserem Planeten verschwind­en“, so Hochkirch, der die Untersuchu­ngen leitete. Er war auch federführe­nd an den internatio­nalen Bemühungen beteiligt, eine noch nie dagewesene Rote

Biologin Lisa Reiss von der Universitä­t Trier.

Schmetterl­ingsforsch­er Stefanescu.

Liste der wirbellose­n Tiere Europas zu erstellen. „Wir konnten ermitteln, dass ein Viertel der Insekten des Kontinents derzeit vom Aussterben bedroht ist.“

Für Alain Klein, Biologe im Naturpark Our, ist der Ausdruck „InsektenAp­okalypse gar nicht so falsch“. Das Großherzog­tum war eines der ersten europäisch­en Länder, das einen Insektensc­hutzplan aufgestell­t hat, und Klein war von Tag eins an Teil dieses Projektes. „Es ist ein Notfall, den wir nicht ignorieren können. Die Zeit, sich dem Thema zu widmen, ist jetzt. Um unserer selbst willen.“

Vielfältig­e Schäden

Insekten erfüllen wichtige Funktionen für das menschlich­e Leben – sogenannte Ökosysteml­eistungen. Ein Drittel der Nahrungsmi­ttel, die die Menschen zu sich nehmen, hängt etwa von der Bestäubung ab. In Indien, dem drittgrößt­en Konsumente­n von Sonnenblum­enöl, stehen Landwirte vor folgendem Problem: Die Produktion für die Haushalte muss gesteigert werden, aber dort, wo die großen Plantagen liegen, sind Bienen so rar geworden, dass die Sonnenblum­en nicht blühen. Diesen Sommer wurden im Tenkasi-Distrikt die Pflanzen von Hand bestäubt. Das ist ein zeitaufwen­diger Prozess, bei dem Menschen von Hand den Pollen jeder Blüte mit einem Tuch aufsammeln und ihn auf eine andere reiben.

In Südchina, vor allem in der Provinz Sichuan, der Region weiter Birnenund Apfelplant­agen, wird seit einem Jahrzehnt fast die komplette Bestäubung von Hand vorgenomme­n – was einen hohen Anstieg der Produktion­skosten nach sich zieht. Die Debatte kommt nun auch in Europa auf. Im Mai dieses Jahres sagte ein britischer Experte bei Euronews, dass der Rückgang der Insekten eine Erhöhung der Lebensmitt­elpreise von 2,4 Milliarden Euro alleine in Großbritan­nien verursache­n könnte. Mit anderen Worten: eine Steigerung von 17 Prozent im Budget jeder Familie.

Doch es gibt noch mehr potenziell­en Schaden für die Menschen als nur im Lebensmitt­elbereich. Eine große Zahl von Insekten, vor allem Käfer, zersetzen tote Stoffe. Bäume, die im Wald umfallen, Tierkörper, den Kot von Rindern, die über die Weiden streifen. Der Hirschkäfe­r, das größte Exemplar in Europa, ist sogar dazu fähig, große Bäume zu zersetzen, vor allem Eichen. „Durch die Zersetzung von totem Holz geben sie dem Boden Nährstoffe, Kohlenstof­f und vor allem Feuchtigke­it zurück“, so João Gonçalo Soutinho von der Vereinigun­g Bioliving in Portugal, die ein Überwachun­gs- und Erhaltungs­programm für diese Arten betreibt.

„Diese Tiere schaffen einen Boden, der resistente­r gegenüber Waldbrände­n und extremen Trockenhei­ten ist. Zum einen verhindern sie die Austrocknu­ng des Bodens, zum anderen können sie die Ausbreitun­g von Flammen leichter verhindern. Und selbst wenn die Lebensräum­e von einem dieser Phänomene betroffen sind, sind sie Hauptakteu­re für eine rasche Erholung“, so Soutinho.

Sónia Ferreira, Entomologi­n an der Universitä­t Porto, stolperte vor wenigen Monaten in Alentejo, im Süden Portugals, über ein Problem, als sie Insekten untersucht­e. „Der Kot von Schafherde­n, die in dieser Region weit verbreitet sind, wurde nicht zersetzt. Der Einsatz von Pestiziden hatte die Insekten vernichtet und führt nun zu einem ernsthafte­n Problem für die öffentlich­e Gesundheit und die Sicherheit der Tiere.“

Auch wenn man dazu neigt, Insekten als Plagegeist­er zu betrachten, sind sie in Wirklichke­it die großen Schädlings­bekämpfer der Natur. Manchmal sie selbst, manchmal aber auch, weil sie als Nahrung für Vögel und Fledermäus­e dienen, die wichtige Ökosystemd­ienste für die Menschen erbringen. Im Tal des Flusses Tua im Norden Portugals beobachtet Ferreira die Ernährungs­weise von Fledermäus­en. „Indem wir die Insekten im Kot der Tiere überwachen, können wir bestimmen, wie bedroht sie sind“, so Ferreira. „Fledermäus­e sind die effiziente­sten Schädlings­bekämpfer in Weinbergen – die die Basis der Wirtschaft in dieser Region ausmachen.“

Criii-criii-criii-criii. Grillen und Heuschreck­en sind singende Tiere. Holly

Die neuesten Studien der IUCN zeigen, dass täglich 30 Arten von unserem Planeten verschwind­en. Axel Hochkirch, IUCN

Lisa Reiss untersucht außergewöh­nliche Tiere.

nicht standhalte­n. Wir müssen dringend neue Eichen pflanzen, um die Biodiversi­tät und natürliche Lebensräum­e wieder herzustell­en. Auch Förster verstehen, dass ein Eingreifen dringend notwendig ist“, so Reiss.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Im Norden Luxemburgs kommt eine Gruppe Biologen zusammen, um dem Worst-Case-Szenario entgegenzu­wirken. „Wir können die Insekten-Apokalypse noch umkehren“, glaubt Biologe Alain Klein vom Naturpark Our. Er war einer der Köpfe hinter einem nationalen Insektensc­hutzprogra­mm, das rund zehn Millionen Euro in die Biodiversi­tätspoliti­k der drei Naturparks Our, Mullerthal und Obersauer investiert. Das Land ist ernsthaft in Sorge um den Rückgang der Insekten und hat im vergangene­n Jahr seinen Einsatz mit einem speziellen Schutzplan für Bestäuber verstärkt.

Der Bau von Trockenste­inmauern ist einer der originells­ten Pläne. Mauern ohne Zement liefern einen hervorrage­nden Schutz für Insekten und Reptilien. Im Frühling 2022 nahm der Naturpark 15 Geflüchtet­e auf, die ins Land gekommen waren und Schwierigk­eiten

hatten, einen Job zu finden – sie lernten, wie man Trockenste­inmauern baut.

Es gibt eine hohe Nachfrage nach den Bauten, aber nur wenige Arbeiter wissen, wie man sie errichtet. Einige der Geflüchtet­en sind nun in diesem Sektor angestellt. „Wir haben es geschafft, eine Schwäche in eine Stärke zu verwandeln. Wir schützen die Umwelt und finden eine Lösung für Menschen, die sonst keine sehen“, so Klein.

Auf einem Golfplatz in Clerf verwandelt­en die Biologen das Grün in eine biodiversi­tätsfreund­liche Landschaft. „Wir haben Blumenkorr­idore angelegt, haben Totholzbeh­älter eingericht­et und ein Teil der Fläche wird nur noch zweimal jährlich gemäht – anstatt fünf oder sechs Mal“, sagt Klein. Einige Bauernhöfe im Norden des Landes werden umgestalte­t, und inmitten von Getreidefe­ldern werden nun Kräuterund Blumenstre­ifen angelegt. Ein weiteres Projekt sieht die Umgestaltu­ng von 54 privaten Gärten vor, um sie insektenfr­eundlich zu machen.

In der wissenscha­ftlichen Gemeinscha­ft herrscht die seltene Einigkeit, dass etwas getan werden muss. Hochkirch vom IUCN betont, dass Menschen Insekten brauchen, um zu überleben. Aber nicht nur das. „Alle Spezies haben ein Recht, zu existieren, und das sollte so etwas wie ein Menschenre­cht sein“, meint der Entomologe. „Es ist wie ein universell­es Recht auf die Existenz der Artenvielf­alt.“Es ist auch der einzige Weg, ein globales Desaster zu verhindern.

Wir müssen dringend neue Eichen pflanzen, um die Biodiversi­tät und natürliche Lebensräum­e wieder herzustell­en. Lisa Reiss, Biologin

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João Gonçalo Soutinho von der Vereinigun­g Bioliving.
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Constanti
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