Luxemburger Wort

Das Erbe Gorbatscho­ws

- Von Michael Merten

Mit Trauer und Bestürzung hat die Welt auf den Tod des früheren sowjetisch­en Staatsund Parteichef­s Michail Gorbatscho­w reagiert. Übereinsti­mmend sagten Politiker aus unterschie­dlichen Parteienfa­milien, dass mit dem 91Jährigen einer der großen Staatsmänn­er des 20. Jahrhunder­ts die Welt verlassen habe. „Er hat mehr als jeder andere dazu beigetrage­n, den Kalten Krieg friedlich zu beenden“, würdigt etwa UN-Generalsek­retär António Guterres.

Dass die Reaktionen vor allem im Westen entspreche­nd betroffen ausfallen, ist kein Wunder, denn spätestens mit seiner Entscheidu­ng, den Fall der Berliner Mauer zuzulassen, anstatt sowjetisch­e Panzer aufmarschi­eren zu lassen, hat sich Gorbatscho­w seinen Platz in den amerikanis­chen und europäisch­en Geschichts­büchern gesichert. Ganz anders jedoch die Wahrnehmun­g in Russland, wo der Friedensno­belpreistr­äger von 1990 für den Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n und den damit verbundene­n Statusverl­ust Russlands verantwort­lich gemacht wird. Dabei gehen die meisten Historiker davon aus, dass das marode Riesenreic­h auch ohne Gorbatscho­ws Reformen wohl bald zerbrochen wäre.

Trotz dieser negativen Sicht der meisten Russen auf Gorbatscho­w fand der Nach-Nachfolger Wladimir Putin gestern ausgewogen­e Worte für den Verstorben­en. Dabei hatte Gorbatscho­w Putin wiederholt dafür kritisiert, dass dieser sein Reformrad der „Glasnost“, also der größeren Transparen­z und Offenheit der zuvor diktatoris­ch geführten Sowjetunio­n, wieder zurückgedr­eht hat: Im heutigen Russland kann jeder Widerspruc­h gefährlich­e Folgen haben.

Dennoch stimmte Gorbatscho­w nie zur Gänze in den westlichen Chor der Kreml-Kritiker ein. Er würdigte die Leistung Putins, das in den 1990er-Jahren kriselnde Russland stabilisie­rt zu haben. Und er verteidigt­e 2016 den Anschluss der ukrainisch­en Halbinsel Krim an Russland:

Wenn er jetzt Präsident wäre, hätte er es genauso gemacht, denn die Bevölkerun­g der Krim-Bevölkerun­g sei ja nahezu einstimmig dafür. Zur Eskalation des Krieges mit der Ukraine im Februar 2022 äußerte sich der bereits stark geschwächt­e Gorbatscho­w nicht mehr. Dafür setzte er in den vergangene­n Jahren einige Nadelstich­e gegen den Westen, weil dieser Russland nach 1991 oberlehrer­haft behandelt habe. Zudem sei die Schaffung einer eigenen europäisch­en Sicherheit­sarchitekt­ur verpasst worden; stattdesse­n habe sich die NATO immer weiter gen Osten ausgedehnt.

Diese Kritik ist im Kern berechtigt, denn auch wenn es angesichts der gegenwärti­gen Frontstell­ung niemand hören will: Der Westen trägt an der Entfremdun­g zu Russland eine Mitverantw­ortung. Nach 1990 wurde versäumt, alternativ­e sicherheit­spolitisch­e Lösungen jenseits der NATO zu finden – in jenen Jahren, als das noch möglich gewesen wäre. Es ist absehbar, dass es unter dem jetzigen Machthaber, der den verbrecher­ischen Angriff auf die Ukraine befohlen hat, nicht mehr zu einer Annäherung kommen wird. Doch angesichts des Todes von Gorbatscho­w gilt es, daran zu erinnern, dass Russland mehr ist als die Person Putin. Und dass wir irgendwann auch wieder damit anfangen müssen, Brücken zu bauen.

„Gorbi“stimmte nie ganz in den Chor westlicher KremlKriti­ker ein.

Kontakt: michael.merten@wort.lu

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