Spät abends bestellt und morgens geliefert
JD.com arbeitet an der logistischen Zukunft Chinas – ständige Lockdowns machen dem E-Commerce-Riesen zu schaffen
Am südlichen Ende Pekings, wo die Hauptstadt allmählich in Maisfelder, Zugbahntrassen und verstaubte Straßen ausfranst, liegt eine der logistischen Drehscheiben der Region: Auf einem unscheinbaren Industriegelände arbeiten 200 Angestellte und ein Vielfaches an Robotern auf 133 000 Quadratmetern, um Pakete zu schichten, Waren am Fließband zu sortieren und fertige Lieferungen in die Lastwagen zu laden.
Täglich verlassen bis zu 880 000 Produkte den sogenannten „Asia No.1 Logistics Park“. Eine Mitarbeiterin, die wie alle hier rote Westen über ihren Schultern trägt, sagt stolz: „Wir sind besonders für unsere Effizienz bekannt. Wenn du vor elf Uhr abends eine Bestellung aufgibst, hast du die Lieferung bis morgen früh vor deiner Haustür“.
Mit der Sars-Epidemie ab ins Netz Hinter dem Logistik-Imperium steht JD.com, einer der führenden E-Commerce-Konzerne Chinas: Das Unternehmen mit Sitz in Peking verzeichnet knapp 500 Millionen Nutzer auf seiner firmeneigenen Shopping-App und betreibt nahezu tausend Warenhäuser im gesamten Land.
1998 wurde JD.com vom damaligen Uni-Absolventen Liu Qiangdong gegründet. Ausgerechnet die Sars-Epidemie Anfang der Nullerjahre sorgte dafür, dass man das Geschäft – damals notgedrungen – in Richtung online verlegte. Knapp 20 Jahre später war es erneut ein Corona-Virus, welches das Unternehmen nachhaltig veränderte: Zu Beginn der Covid-Pandemie blieben die Chinesen in ihren eigenen vier Wänden und bestellten – stärker als ohnehin zuvor – ihre Einkäufe per Smartphone-App. Abertausende Lieferkuriere auf bunten Electro-Scootern hielten damals die Infrastruktur der Städte am Leben. Der Aktienkurs von JD.com konnte sich innerhalb weniger Monate verdoppeln und – wie fast alle Konkurrenten ebenfalls – Rekordumsätze verzeichnen.
Wie sich im Pekinger Warenhaus zeigt, hat die Pandemie zu einer nachhaltigen Automatisierung geführt: Verglichen mit 2019 stehen hier nur mehr ein Viertel der Angestellten an den Fließbändern und Regalen.
Doch menschliche Hände werden bei einigen Produktsparten nach wie vor gebraucht – insbesondere bei Verbraucherelektronik. Denn während die Greifarme von Robotern längst Textilien problemlos abfertigen können, laufen sie bei Smartphones und Ladeteilen Gefahr, die hochsensible Ware zu beschädigen.
Doch langfristig ist es nur mehr eine Frage der Zeit, bis in China sämtliche Warenhausmitarbeiter durch Roboter sowie Lieferkuriere durch Drohnen ersetzt werden. Denn die Volkswirtschaft leidet nicht nur unter rasant steigenden Löhnen, sondern auch einer immensen Alterung der Bevölkerung. „Unsere Angestellten verrichten daher zunehmend Management-Aufgaben und technische
Tätigkeiten, weniger die rein körperliche Arbeit“, sagt Liu Hui, Leiter des Instituts für Konsum und Industrieentwicklung bei JD.com: „Wir sehen Roboter und Menschen als perfektes Paar, das sich gegenseitig ergänzt“.
Der charismatische Manager hat in den 20. Stock der Firmenzentrale geladen; einen riesigen Bürokomplex mit gläserner Fassade, eigenem Starbucks, etlichen FoodCourts
und einer futuristischen Lobby mit weißem Marmorboden. Die lichtdurchfluteten Büroflure, die fast ausschließlich von jungen, demonstrativ gut gelaunten Angestellten auf ihrem Weg zur Mittagspause bevölkert werden, versprühen durchaus den kalifornischen Charme des Silicon Valley.
Doch die politische Realität könnte unterschiedlicher kaum sein. Dass JD.com dieser Tage seine Pforten gegenüber ausländischen Journalisten öffnet, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn sämtliche Internetunternehmen stehen derzeit massiv unter Druck.
Staatschef hat eine andere Vision Staatspräsident Xi Jinping hat die gesamte Tech-Branche in den letzten zwei Jahren einer bisher nie dagewesenen Regulierungswelle unterzogen. Er wirft ihnen vor, exzessiv die Daten ihrer User zu sammeln, prekäre Arbeitsverhältnisse zu schaffen und mit unfairen Geschäftspraktiken kleinere Wettbewerber aus dem Markt zu drängen.
Hinter dem Machtkampf gegen die mächtigen Online-Konzerne steht aber auch die implizite Botschaft, dass Xi eine andere Vision für die zweitgrößte Volkswirtschaft anstrebt: Dem 69-Jährigen ist es weniger wichtig, dass sein Land die benutzerfreundlichsten Apps und schnellsten Online-Lieferdienste entwickelt hat. Sondern er will jene Technologie produzieren, die in der analogen Welt der Menschen einen realen Wert darstellt – etwa Halbleiter oder Flugzeugmaschinen.
Kuriere in abgeriegelten Gebieten Dementsprechend versucht man auch in der Chefetage von JD.com zu betonen, dass man mehr als nur hohe Umsätze generiert. Das Unternehmen rühmt sich etwa, dass es mit seinem E-CommerceGeschäft die chinesische Landbevölkerung direkt mit den wohlhabenden Konsumenten der Küstenmetropolen verbindet – und sie so am wirtschaftlichen Aufstieg teilhaben lässt.
Ebenfalls hat JD.com während des zweimonatigen Lockdowns in Shanghai etliche Lieferkuriere in die abgeriegelten Gebiete geschickt, um als freiwillige Helfer die grundlegende Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen.
Gleichzeitig aber leiden Logistikfirmen wie JD.com mittlerweile selbst unter der anhaltenden NullCovid-Strategie, die regelmäßig Millionenstädte in Lockdowns versetzt und die Kauflust innerhalb der Bevölkerung stark abbremst. Im ersten Jahresquartal verzeichnete man das bisher langsamste Umsatzwachstum überhaupt.
Zudem hat die Branche generell mit einer relativ hohen Ineffizienz zu kämpfen: Die Kosten der Logistikausgaben am Bruttoinlandsprodukt betragen in China rund 14 Prozent, fast doppelt so viel wie in den Vereinigten Staaten.
Waren aus den USA noch begehrt Doch wer einen Blick in den „Showroom“von JD.com wirft, kann dennoch nur staunen ob der schieren Dimension des Logistikimperiums. Auf blinkenden LEDBildschirmen wertet die Datenabteilung ihre Erkenntnisse in Echtzeit aus: Allein an diesem Vormittag sind demnach bis 11.15 Uhr nicht nur über sechseinhalb Millionen Bestellungen eingegangen, sondern haben die firmeneigenen Lieferkuriere bereits knapp zehn Millionen Kilometer zu den Kunden zurückgelegt.
Bei den Usern zeigt sich im Zuge der Pandemie ein deutlicher Trend zu heimischen Produkten. Doch insbesondere Smartphones, Computer und Beauty-Produkte werden weiterhin vor allem aus dem Ausland gekauft. Besonders interessant: Unter den Importländern genießen die USA höchste Popularität, gefolgt von Japan, Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Und trotz der derzeit anti-amerikanischen Stimmung ist Apple nach wie vor die beliebteste internationale Marke. Beim Konsum, so scheint es, spielt auch in China die Ideologie nur eine untergeordnete Rolle.
Das Unternehmen mit Sitz in Peking verzeichnet knapp 500 Millionen Nutzer auf seiner firmeneigenen Shopping-App.