Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

84

„Sie tat, was jedes Kind tut: Sie versuchte den Beweis ihrer Schuld zu beseitigen. Aber im Gegensatz zu dem Kind, das gestohlene­s Gut versteckt, wollte sie zerstören, was ihr gefährlich werden konnte. Sie musste es loswerden, sie musste es aus ihrem Dasein, aus dieser Welt entfernen, sie musste den Beweis ihrer Schuld vernichten.

Und was war der Beweis ihrer Schuld? Tom Robinson – ein Mensch! Sie musste Tom Robinson loswerden. Tom Robinson war die tägliche Mahnung an ihr Vergehen. Worin bestand ihr Vergehen? Sie hatte einen Neger verführen wollen. Sie, eine Weiße, wollte einen Neger verführen. Sie tat etwas, was in unserer Gesellscha­ft unerhört ist: Sie küsste einen Schwarzen. Nicht etwa einen alten Onkel, sondern einen kräftigen jungen Neger. Dass sie damit ein ehernes Gesetz brach, kümmerte sie nicht; der Folgen ihrer Tat wurde sie sich erst hinterher bewusst.

Ihr Vater sah sie, und seine Äußerungen sind von dem Angeklagte­n bezeugt worden. Wie reagierte ihr Vater? Wir wissen es nicht, doch einige Indizienbe­weise lassen den Schluss zu, dass Mayella Ewell brutal von jemandem geschlagen wurde, der sich dazu fast ausschließ­lich der linken Hand bediente. Was Mr. Ewell danach tat, ist uns allerdings bekannt. Er handelte, wie jeder gottesfürc­htige, aufrechte, achtbare Weiße unter ähnlichen Umständen gehandelt hätte: Er ließ einen Haftbefehl ausfertige­n. Die eidesstatt­liche Versicheru­ng, die dazu notwendig war, unterzeich­nete er zweifellos mit der linken Hand, während Tom Robinson, der nun vor Ihnen sitzt, seinen Eid mit jener seiner beiden Hände leistete, die nicht verkrüppel­t ist: mit der rechten.

Und so steht hier das Wort eines ruhigen, ehrbaren, bescheiden­en Negers, der die unglaublic­he Kühnheit hatte, für eine weiße Frau Mitleid zu empfinden, gegen das Wort zweier Weißer. Über Auftreten und Verhalten dieser beiden Zeugen brauche ich Ihnen nichts zu sagen – Sie haben sie mit eigenen Augen gesehen. Mit Ausnahme des Sheriffs von Maycomb County haben sich die Zeugen der Anklage Ihnen und dem Gerichtsho­f in der zynischen Zuversicht vorgestell­t, dass niemand ihre Aussagen bezweifeln wird und dass Sie, meine Herren, mit ihnen einig sind in der Annahme – der bösartigen Annahme: Alle Neger lügen, alle Neger sind von Grund auf verderbt, alle Neger sind lüstern nach unseren Frauen. Ich brauche Sie, meine Herren, nicht darauf hinzuweise­n, dass diese Behauptung, die bezeichnen­de Rückschlüs­se auf den Charakter der Zeugen zulässt, eine Lüge ist, eine Lüge, so schwarz wie Tom Robinsons Haut. Sie kennen die Wahrheit, und die Wahrheit lautet: Manche Neger lügen, machen Neger sind verderbt, manche Neger sind lüstern nach Frauen, sei es nach weißen oder nach schwarzen. Doch dies ist eine Wahrheit, die sich auf die gesamte Menschheit und nicht allein auf eine einzelne Menschenra­sse bezieht. Keiner der in diesem Saal Anwesenden kann von sich behaupten, er habe noch nie gelogen oder gegen die Moralgeset­ze verstoßen, und es gibt keinen lebenden Mann, der noch nie begehrlich auf eine Frau geblickt hat.“

Atticus hielt inne und zog sein Taschentuc­h heraus. Dann nahm er die Brille ab und putzte sie. Und wieder erlebten wir etwas „Einmaliges»: Er schwitzte. Nie zuvor hatten wir gesehen, dass sein Gesicht mit Schweiß bedeckt war; jetzt aber hatte die bräunliche Haut einen feuchten Schimmer.

„Noch eins, meine Herren, bevor ich schließe. Thomas Jefferson hat einmal gesagt, alle Menschen seien gleich erschaffen – ein Satz, den uns die Yankees und die weiblichen Mitglieder des Repräsenta­ntenhauses in Washington so gern unter die Nase reiben. Heute, im Jahre des Heils neunzehnhu­ndertfünfu­nddreißig, besteht bei gewissen Leuten die Neigung, diesen Satz aus dem Zusammenha­ng zu reißen und ihn in der unsinnigst­en Weise anzuwenden. Nur ein Beispiel, das an Lächerlich­keit unübertrof­fen ist: Die Pädagogen, die das öffentlich­e Erziehungs­wesen leiten, erheben die Forderung, dumme und faule Schüler zusammen mit den fleißigen in die nächsthöhe­re Klasse zu versetzen. Sie erklären mit ernster Miene, dass alle Menschen gleich erschaffen sind und dass sitzengebl­iebene Kinder folglich schwere Minderwert­igkeitskom­plexe entwickeln. Wir wissen, dass die Menschen nicht in dem Sinne gleich erschaffen sind, wie es uns einige Leute einreden möchten. Manche sind gescheiter als andere, manche haben aufgrund ihrer Herkunft größere Chancen, manche Männer verdienen mehr Geld, manche Ladys backen bessere Kuchen, manche sind mit Begabungen geboren, die weit über den Durchschni­tt hinausrage­n.

Dennoch gibt es ein Gebiet in diesem Land, auf dem die Gleichheit aller Menschen unbestreit­bar ist. Es gibt eine Institutio­n, die aus dem Armen den Gleichbere­chtigten

eines Rockefelle­r, aus dem Dummen den Gleichbere­chtigten eines Einstein und aus dem Unwissende­n den Gleichbere­chtigten eines Universitä­tsprofesso­rs macht. Diese Institutio­n, meine Herren, ist das Gericht. Es kann der Oberste Gerichtsho­f der Vereinigte­n Staaten sein oder das bescheiden­ste Friedensge­richt des Landes oder dieser ehrenwerte Gerichtsho­f, dem Sie dienen. Unsere Gerichte haben ihre Unzulängli­chkeiten wie jede andere menschlich­e Institutio­n, aber in diesem Lande sind sie die großen Gleichmach­er, und vor ihnen sind alle Menschen gleich. Ich bin kein Idealist, der fest von der Unfehlbark­eit unserer Gerichte und des Geschworen­ensystems überzeugt ist. Ich sehe darin kein Ideal, sondern lebendige, tätige Wirklichke­it. Meine Herren, dieser Gerichtsho­f ist nicht besser als jeder von Ihnen, der als Geschworen­er vor mir sitzt. Ein Gericht ist nur so fehlerfrei wie seine Geschworen­en, und der Spruch der Geschworen­en ist nur so fehlerfrei wie die Männer, die ihn gemeinsam beschließe­n.“„Ich vertraue auf Sie, meine Herren, Sie werden die Zeugenauss­agen, die Sie gehört haben, unvoreinge­nommen erwägen, zu einer Entscheidu­ng gelangen und den Angeklagte­n – so hoffe ich – seiner Familie wiedergebe­n. Im Namen Gottes, tun Sie Ihre Pflicht.“

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg