Wer die Nachtigall stört
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„Sie tat, was jedes Kind tut: Sie versuchte den Beweis ihrer Schuld zu beseitigen. Aber im Gegensatz zu dem Kind, das gestohlenes Gut versteckt, wollte sie zerstören, was ihr gefährlich werden konnte. Sie musste es loswerden, sie musste es aus ihrem Dasein, aus dieser Welt entfernen, sie musste den Beweis ihrer Schuld vernichten.
Und was war der Beweis ihrer Schuld? Tom Robinson – ein Mensch! Sie musste Tom Robinson loswerden. Tom Robinson war die tägliche Mahnung an ihr Vergehen. Worin bestand ihr Vergehen? Sie hatte einen Neger verführen wollen. Sie, eine Weiße, wollte einen Neger verführen. Sie tat etwas, was in unserer Gesellschaft unerhört ist: Sie küsste einen Schwarzen. Nicht etwa einen alten Onkel, sondern einen kräftigen jungen Neger. Dass sie damit ein ehernes Gesetz brach, kümmerte sie nicht; der Folgen ihrer Tat wurde sie sich erst hinterher bewusst.
Ihr Vater sah sie, und seine Äußerungen sind von dem Angeklagten bezeugt worden. Wie reagierte ihr Vater? Wir wissen es nicht, doch einige Indizienbeweise lassen den Schluss zu, dass Mayella Ewell brutal von jemandem geschlagen wurde, der sich dazu fast ausschließlich der linken Hand bediente. Was Mr. Ewell danach tat, ist uns allerdings bekannt. Er handelte, wie jeder gottesfürchtige, aufrechte, achtbare Weiße unter ähnlichen Umständen gehandelt hätte: Er ließ einen Haftbefehl ausfertigen. Die eidesstattliche Versicherung, die dazu notwendig war, unterzeichnete er zweifellos mit der linken Hand, während Tom Robinson, der nun vor Ihnen sitzt, seinen Eid mit jener seiner beiden Hände leistete, die nicht verkrüppelt ist: mit der rechten.
Und so steht hier das Wort eines ruhigen, ehrbaren, bescheidenen Negers, der die unglaubliche Kühnheit hatte, für eine weiße Frau Mitleid zu empfinden, gegen das Wort zweier Weißer. Über Auftreten und Verhalten dieser beiden Zeugen brauche ich Ihnen nichts zu sagen – Sie haben sie mit eigenen Augen gesehen. Mit Ausnahme des Sheriffs von Maycomb County haben sich die Zeugen der Anklage Ihnen und dem Gerichtshof in der zynischen Zuversicht vorgestellt, dass niemand ihre Aussagen bezweifeln wird und dass Sie, meine Herren, mit ihnen einig sind in der Annahme – der bösartigen Annahme: Alle Neger lügen, alle Neger sind von Grund auf verderbt, alle Neger sind lüstern nach unseren Frauen. Ich brauche Sie, meine Herren, nicht darauf hinzuweisen, dass diese Behauptung, die bezeichnende Rückschlüsse auf den Charakter der Zeugen zulässt, eine Lüge ist, eine Lüge, so schwarz wie Tom Robinsons Haut. Sie kennen die Wahrheit, und die Wahrheit lautet: Manche Neger lügen, machen Neger sind verderbt, manche Neger sind lüstern nach Frauen, sei es nach weißen oder nach schwarzen. Doch dies ist eine Wahrheit, die sich auf die gesamte Menschheit und nicht allein auf eine einzelne Menschenrasse bezieht. Keiner der in diesem Saal Anwesenden kann von sich behaupten, er habe noch nie gelogen oder gegen die Moralgesetze verstoßen, und es gibt keinen lebenden Mann, der noch nie begehrlich auf eine Frau geblickt hat.“
Atticus hielt inne und zog sein Taschentuch heraus. Dann nahm er die Brille ab und putzte sie. Und wieder erlebten wir etwas „Einmaliges»: Er schwitzte. Nie zuvor hatten wir gesehen, dass sein Gesicht mit Schweiß bedeckt war; jetzt aber hatte die bräunliche Haut einen feuchten Schimmer.
„Noch eins, meine Herren, bevor ich schließe. Thomas Jefferson hat einmal gesagt, alle Menschen seien gleich erschaffen – ein Satz, den uns die Yankees und die weiblichen Mitglieder des Repräsentantenhauses in Washington so gern unter die Nase reiben. Heute, im Jahre des Heils neunzehnhundertfünfunddreißig, besteht bei gewissen Leuten die Neigung, diesen Satz aus dem Zusammenhang zu reißen und ihn in der unsinnigsten Weise anzuwenden. Nur ein Beispiel, das an Lächerlichkeit unübertroffen ist: Die Pädagogen, die das öffentliche Erziehungswesen leiten, erheben die Forderung, dumme und faule Schüler zusammen mit den fleißigen in die nächsthöhere Klasse zu versetzen. Sie erklären mit ernster Miene, dass alle Menschen gleich erschaffen sind und dass sitzengebliebene Kinder folglich schwere Minderwertigkeitskomplexe entwickeln. Wir wissen, dass die Menschen nicht in dem Sinne gleich erschaffen sind, wie es uns einige Leute einreden möchten. Manche sind gescheiter als andere, manche haben aufgrund ihrer Herkunft größere Chancen, manche Männer verdienen mehr Geld, manche Ladys backen bessere Kuchen, manche sind mit Begabungen geboren, die weit über den Durchschnitt hinausragen.
Dennoch gibt es ein Gebiet in diesem Land, auf dem die Gleichheit aller Menschen unbestreitbar ist. Es gibt eine Institution, die aus dem Armen den Gleichberechtigten
eines Rockefeller, aus dem Dummen den Gleichberechtigten eines Einstein und aus dem Unwissenden den Gleichberechtigten eines Universitätsprofessors macht. Diese Institution, meine Herren, ist das Gericht. Es kann der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten sein oder das bescheidenste Friedensgericht des Landes oder dieser ehrenwerte Gerichtshof, dem Sie dienen. Unsere Gerichte haben ihre Unzulänglichkeiten wie jede andere menschliche Institution, aber in diesem Lande sind sie die großen Gleichmacher, und vor ihnen sind alle Menschen gleich. Ich bin kein Idealist, der fest von der Unfehlbarkeit unserer Gerichte und des Geschworenensystems überzeugt ist. Ich sehe darin kein Ideal, sondern lebendige, tätige Wirklichkeit. Meine Herren, dieser Gerichtshof ist nicht besser als jeder von Ihnen, der als Geschworener vor mir sitzt. Ein Gericht ist nur so fehlerfrei wie seine Geschworenen, und der Spruch der Geschworenen ist nur so fehlerfrei wie die Männer, die ihn gemeinsam beschließen.“„Ich vertraue auf Sie, meine Herren, Sie werden die Zeugenaussagen, die Sie gehört haben, unvoreingenommen erwägen, zu einer Entscheidung gelangen und den Angeklagten – so hoffe ich – seiner Familie wiedergeben. Im Namen Gottes, tun Sie Ihre Pflicht.“
(Fortsetzung folgt)