Luxemburger Wort

UN prangern Verbrechen gegen Uiguren an

Bericht sieht Hinweise auf massive Menschenre­chtsverlet­zungen in der chinesisch­en Provinz Xinjiang

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Zwölf Minuten, bevor UN-Menschenre­chtskommis­sarin Michelle Bachelet ihr Amt niederlegt­e, veröffentl­ichte sie ihren bis dato am stärksten erwarteten Bericht. Auf 48 Seiten legt die 70-Jährige die „schwerwieg­enden Menschenre­chtsverbre­chen“der chinesisch­en Regierung in Xinjiang dar, bei denen es sich möglicherw­eise gar um „Verbrechen gegen die Menschlich­keit“handelt. Dies wäre nicht nur eines der gravierend­sten völkerrech­tlichen Vergehen überhaupt, sondern nähme zwangsläuf­ig auch die internatio­nale Staatengem­einschaft in die Verantwort­ung.

Und die Anschuldig­ungen des Berichts sind massiv: Am detaillier­testen geht der Report auf die politische­n Umerziehun­gslager ein, in die die chinesisch­e Regierung in den letzten Jahren hunderttau­sende Angehörige der Uiguren, einem muslimisch­en Turkvolk, gesteckt hat. Der Bericht sieht es für gesichert an, dass „ein substanzie­ller Anteil der uigurische­n Bevölkerun­g“Opfer einer willkürlic­hen „Freiheitsb­eraubung“wurde. Zudem seien die Insassen laut Augenzeuge­nberichten „körperlich­er Folter“und „sexueller Gewalt“und „Zwangsarbe­it“ausgesetzt, was der UN-Bericht ebenfalls als glaubhaft einstuft.

Indizien für Zwangsster­ilisierung­en Nicht zuletzt wird auf die „stark eingebroch­enen Geburtenra­ten“in mehreren Landkreise­n Xinjiangs hingewiese­n, die teilweise bis zu 50 Prozent betragen – laut Experten ein Indiz für Zwangsster­ilisierung­en gegenüber der weiblichen Bevölkerun­g. Der Bericht spricht etwas zaghafter von „erzwungene­r Durchsetzu­ng von Familienpl­anungsvors­chriften“.

Die Gretchen-Frage wird in dem Dokument jedoch nicht beantworte­t, ja nicht einmal gestreift: Ob es sich bei den Menschenre­chtsverlet­zungen in Xinjiang möglicherw­eise um einen Genozid handelt, wie einige westliche Regierunge­n behaupten. Die Anforderun­gen für diesen Straftatbe­stand sind nahezu unmöglich zu dokumentie­ren, da es die nachweisli­che Absicht voraussetz­t, „eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten“.

Die Informatio­nsgrundlag­e des Berichts bieten einerseits Interviews mit 40 betroffene­n Uiguren, die zum Teil in Internieru­ngslagern eingesperr­t waren. Gleichzeit­ig wurden mehrere Regierungs­leaks ausgewerte­t, deren Echtheit zuvor ausgiebig überprüft wurde. Vor allem aber fußt ein großer Teil der Datenlage auf offiziell zugänglich­en Statistike­n und Daten der chinesisch­en Regierung. Dies lässt die Argumentat­ion von Peking, dessen Staatsführ­ung sämtliche Vorwürfe kategorisc­h und zur Gänze abstreitet, ganz besonders schwach erscheinen: Wie kann sie ein Dokument als „Farce westlicher Regierunge­n“abtun, wenn es doch maßgeblich auf deren eigenen Fakten beruht?

Der UN-Bericht liefert natürlich keine neuen Erkenntnis­se, denn die Menschenre­chtsverbre­chen

sind bereits detaillier­t von Forschern und investigat­iven Journalist­en dokumentie­rt worden. Doch deren Bestätigun­g durch die Vereinten Nationen verleiht der Thematik nicht nur eine hohe Medienöffe­ntlichkeit, sondern auch eine wesentlich weitreiche­ndere Glaubwürdi­gkeit.

Zaghaft und konservati­v

Generell ist der UN-Bericht in seiner Sprache zaghaft und in seinen Rückschlüs­sen konservati­v gehalten. Vielen internatio­nalen Menschenre­chtsanwält­en geht das Dokument dementspre­chend nicht weit genug. „Keine Erwähnung eines Genozids, kein Analysever­such, ob die Behandlung der Uiguren jenes Kriterium erfüllen würde“, kritisiert etwa die Menschenre­chtsanwält­in Emma Reilly auf ihrem Twitter-Account.

Insgesamt jedoch fand das Dokument bei den meisten internatio­nalen Experten Anklang. Der deutsche Forscher Adrian Zenz, der in den letzten Jahren wie kein Zweiter mit seinen Studien die Umerziehun­gslager in Xinjiang dokumentie­rt hat, meint: „Zwar ist der Bericht nicht perfekt und viele Beweise wurden nicht verwendet. Dennoch wird er eine starke Grundlage dafür bieten, Peking zur Rechenscha­ft zu ziehen“. Human Rights Watch bezeichnet­e den Bericht zudem als „wegweisend“und forderte eine offizielle Präsentati­on vor dem UN-Menschenre­chtsrat in Genf.

Ob es dazu kommt, ist aufgrund des chinesisch­en Machteinfl­usses fraglich. Peking hatte bereits im Vorfeld massiv Druck auf die chilenisch­e UN-Kommissari­n Bachelet ausgeübt, von einer Publikatio­n abzusehen. Dafür mobilisier­te die chinesisch­e Regierung in einem Brief insgesamt 40 Staaten, die jenes Anliegen ebenfalls unterschri­eben haben.

In der Tat ist Bachelet in der Vergangenh­eit mehrfach gegenüber Pekings Forderunge­n eingeknick­t. So stimmte sie einem hochorches­trierten Xinjiang-Besuch im Mai zu, um im Gegenzug den bereits fertigen UN-Bericht etliche Monate zu verschiebe­n. Während ihrer China-Reise ließ sich die Expertin zudem vom Propaganda­spiel der Kommunisti­schen Partei einspannen und bezeichnet­e während einer extrem befremdlic­hen Pressekonf­erenz die politische­n Umerziehun­gslager als „Ausbildung­szentren“.

Die Befürchtun­g, dass die UNVertrete­rin ihr Amt nachhaltig beschädigt hat, erwiesen sich jedoch rückblicke­nd als unbegründe­t. Es gibt in dem am Mittwoch veröffentl­ichten Bericht nämlich keinerlei Hinweise darauf, dass Peking mit dem Ausüben von Druck die Substanz des Dokuments verwässern konnte.

Ob die Publikatio­n weitreiche­nde Konsequenz­en haben wird, bleibt offen. Die UN forderte bereits, dass China sämtliche Opfer der willkürlic­hen Freiheitsb­eraubung und anderer Menschenre­chtsverbre­chen finanziell entschädig­t. Zudem sollen sämtliche Staaten keine Uiguren oder Angehörige anderer muslimisch­er Minderheit­en mehr nach China abschieben. Nicht zuletzt wird der UN-Bericht wohl auch als Grundlage für Regierunge­n dienen, einzelne chinesisch­e

Mitglieder der uigurische­n Gemeinscha­ft zeigen während einer Pressekonf­erenz in Istanbul Bilder ihrer in China inhaftiert­en Familienan­gehörigen.

Regierungs­vertreter und Unternehme­n mit wirtschaft­lichen Sanktionen zu belegen.

Zensur und Propaganda

Dass sich Chinas Staatsführ­ung allerdings inhaltlich auf die Kritik einlässt, gilt als nahezu ausgeschlo­ssen. Parteichef Xi Jinping steht derzeit vor der wichtigste­n Herausford­erung seiner politische­n Laufbahn: Mitte Oktober wird der 69-Jährige inmitten einer handfesten Wirtschaft­skrise seine umstritten­e dritte Amtszeit verkünden – und auf den Bericht der UN wohl zweigleisi­g reagieren: Einerseits wird der Zensurappa­rat dafür sorgen, dass die Anschuldig­ungen nicht ihren Weg in die chinesisch­e Öffentlich­keit finden. Und gleichzeit­ig wird Xi die Nationalis­mus-Karte weiter ausspielen – und das Narrativ etablieren, dass China nur das Opfer eines feindlich gesinnten Westens unter Führung Washington­s ist, welcher die Volksrepub­lik am rechtmäßig­en Aufstieg zur Weltmacht hindert.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg