Liz Truss macht sich bereit
Die Favoritin der Tories wird am Montag wohl zur britischen Premierministerin erklärt werden
Die Amtszeit des einstigen Superstar-Politikers hat sich am Ende einfach totgelaufen. In den vergangenen Wochen war Boris Johnson – immerhin noch amtierender Premierminister – kaum zu sehen. Zweimal war er in den Ferien, und wenn ihn die Presse ansprach auf die etlichen Krisen, die auf das Land zukommen, winkte er ab: Dafür sei er nicht mehr zuständig, sein Nachfolger werde schon die richtigen Ideen haben. Irgendwie hatte er keine Lust mehr aufs Regieren. Das ist in gewisser Hinsicht auch stimmig. Johnson war getrieben vor Ehrgeiz – er schien das eigentliche Geschäft des Regierens weit weniger zu genießen als die Tatsache, dass er sich Premierminister nennen konnte.
Aber auch damit wird es am Montag vorbei sein. Dann werden die Tory-Granden bekannt geben, wer denn nun Johnsons Nachfolge antritt. Es dürfte keine Überraschung werden: Wie zu Beginn des Wahlkampfs Mitte Juli ist die bisherige Außenministerin Liz Truss die klare Favoritin, sie liegt in Umfragen deutlich vor ihrem Rivalen Rishi Sunak.
Das Duell der vergangenen Wochen war ein wenig erbauliches Spektakel. Es gab Fernsehdebatten und Wahlkampfanlässe zuhauf, von Cornwall im Südwesten bis hinauf nach Schottland haben sich die beiden von den Fragen von Journalisten und Parteigängern durchlöchern lassen. Aber viel
Neues hat der Sommer nicht gebracht.
Aus allen Rohren gefeuert
Sunak hat aus allen Rohren gefeuert, er hat Truss „Fantasie-Ökonomie“und unangebrachten Optimismus vorgeworfen. Auch hat er Vorschläge tief aus der rechtskonservativen Ideenkiste ausgegraben, um sich den Vorhaltungen zu erwehren, er sei linker als seine Rivalin; so hat er beispielsweise versprochen, dass Leute, die „Großbritannien verunglimpfen“, bestraft werden sollen. Aber es hat alles nichts genützt: Laut Umfragen liegt Liz Truss mehr als 20 Prozentpunkte vor Sunak, in Westminster bezweifelt niemand mehr ihren Sieg.
So hat das Land bereits angefangen, nach vorne zu blicken: Wie wird Truss regieren? Wen wird sie ins Kabinett berufen? Wie wird sie die verschiedenen Krisen, auf die Großbritannien zusteuert, meistern? Nach allem, was sie in den vergangenen Wochen hat durchblicken lassen, wird die Truss-Regierungszeit weitgehend eine Fortsetzung der Johnson-Jahre – ein anonymer ehemaliger Kabinettskollege meinte wenig schmeichelhaft, die angehende Regierungschefin sei „wie Boris, aber ohne den Charme“.
Auf jeden Fall ist Truss eine überzeugte Brexit-Anhängerin. Sie stimmte im Referendum vor sechs Jahren zwar für den Verbleib in der EU, aber mittlerweile ist sie sich sicher, dass der Austritt der richtige Entscheid war. „Wir werden die Brexit-Freiheiten nutzen, um Investitionen zu entfesseln“, sagte sie Anfang dieser Woche an einem Wahlkampfanlass. Das heißt etwa, dass als unnötig betrachtete Regulierungen über Bord geworfen werden sollen.
Auch will sie Johnsons kampflustigen Kurs gegenüber der EU weiterführen. Immerhin war es Truss selbst, die als Außenministerin das kontroverse Gesetz, das Teile des Nordirland-Protokolls aushebelt, vorlegte; laut Experten verstößt die Vorlage gegen internationales Recht, und in Brüssel hat es für tiefe Konsternation gesorgt. Aber Truss sagt: „Stärke ist das einzige, was die EU versteht.“Kürzlich meinte sie sogar, sie würde die Suspendierung des gesamten Protokolls in Erwägung ziehen, sollte sie zur Premierministerin gewählt werden.
Härte in der Migrationspolitik
Auch in der Migrationspolitik versuchte Truss Härte zu zeigen. Die Bootsflüchtlinge, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien gelangen, sind der Tory-Basis seit langer Zeit ein Dorn im Auge. Entsprechend versuchte Truss zu beschwichtigen: Sie werde alles unternehmen, um Menschen vor der Überfahrt abzuhalten. Sie will etwa die Grenzwache aufstocken: „Dies ist der einzige Weg, Schmuggler abzuschrecken und die kleinen Boote zu stoppen“, sagte sie. Auch will sie das – erneut überaus kontroverse – Programm zur Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda ausbauen.
Steuersenkungen als Dogma
Aber in der öffentlichen Debatte in Großbritannien sind diese Fragen derzeit eher nebensächlich. Die Briten sind voll und ganz auf die schwarzen Wolken fixiert, die am wirtschaftlichen Horizont aufgezogen sind: Hohe Inflation – sie beträgt bereits über 10 Prozent – und der dramatische Anstieg der Energiepreise ab Oktober drohen die tiefste Krise seit Jahrzehnten auszulösen. Selbst nüchterne Beobachter warnen vor sozialen Unruhen, wenn der Staat nicht mit einem dicken Rettungspaket für Haushalte und Unternehmen einspringt. Der ehemalige Tory-MP und Journalist Paul Goodman sagte kürzlich, die neue Premierministerin werde bald „in einem ökonomischen Blizzard verschwinden“.
Was sie genau tun will, um diesen Sturm zu überstehen und den landesweiten Notstand abzuwenden, das hat Truss noch nicht verraten. Ihre Wirtschaftspolitik ist vor allem von einem Ziel geleitet: Steuersenkungen. Sie sollen die Wirtschaft ankurbeln, und das darauf folgende Wachstum würde den Leuten helfen, die steigende Inflation zu meistern. Ökonomen warnen jedoch, dass dies kaum ausreichen werde. Auch die Energieanbieter haben die Regierung aufgefordert, mehr Unterstützung für ihre Kunden bereitzustellen. Die britische Presse berichtet, dass sich das Beraterteam rund um Truss dessen durchaus bewusst ist – derzeit würden verschiedene Optionen durchgespielt, wie man den Verbrauchern am besten unter die Arme greift.
Allerdings kann Truss nicht zu lange warten. Im Land wächst die Ungeduld, man könnte sogar sagen: Es brodelt. Die Streikwelle hält ungebrochen an, die Kampagne zur Nicht-Zahlung der Energierechnungen nimmt weiter Fahrt auf, und die „Enough is Enough“Bewegung („Genug ist genug“), die sich für Lohnerhöhungen und ein Einfrieren der Strom- und Gaspreise einsetzt, findet hunderttausendfach Zuspruch. „Die Briten sind bekannt als phlegmatisches Volk“, schreibt das liberale Magazin The New Statesman. „Aber wir könnten bald feststellen, dass der Bogen selbst für die Briten irgendwann überspannt ist.“
Wie Boris, aber ohne den Charme. Ein anonymer früherer Kabinettskollege
Die Briten sind voll und ganz auf die schwarzen Wolken fixiert, die am wirtschaftlichen Horizont aufgezogen sind.