Luxemburger Wort

Rinnsal statt republikan­ische Welle?

Zum Auftakt der heißen Phase des Wahlkampfs für die US-Kongresswa­hlen hat sich die Stimmung gedreht

- Von Thomas Spang (Washington)

Doktor Mehmet Oz (62) versucht sich vor der Gemüsethek­e des Supermarkt­es volkstümli­ch zu geben. Nachdem er Brokkoli, grünen Spargel, Karotten, Guacamole und Salsa aus dem Regal genommen hat, beschwert sich der gertenschl­anke Fernsehdok­tor über den Preis. „Leute, das sind 20 Dollar für 'Crudités' und da ist der Tequila noch nicht eingerechn­et“.

Der TV-Spot des Kandidaten für den offenen Senatssitz des Industries­taats im Rostgürtel Amerikas erwies sich als Steilvorla­ge für John Fetterman (53). „Er ist eindeutig noch nie in einem Supermarkt gewesen“, macht sich der Zweimeter-Kerl über das Video lustig. Und spottet über den Gebrauch des französisc­hen Worts 'Crudités'. „Wir nennen das hier Gemüse-Platte.“

Binnen 24 Stunden spülte die Episode eine halbe Millionen USDollar in die Wahlkampfk­asse Fettermans, der nach einem Schlaganfa­ll im Mai seine politische­n Aktivitäte­n ins Netz verlagert hatte. In Umfragen liegt der bodenständ­ige Vize-Gouverneur von Pennsylvan­ia acht Punkte vor dem kürzlich aus New Jersey hergezogen­en Herzchirur­gen, den die „Dr. Oz Show“zu einem allseits bekannten Namen in Amerika gemacht hatte. Und das in einem Staat, den die Republikan­er gewinnen müssen, wenn sie im November die Mehrheit in dem zurzeit 50 zu 50 geteilten Senat übernehmen wollen.

Mehrere Fehlgriffe

Bei den Vorwahlen der Republikan­er erhielt Oz Trumps Segen, nachdem er diesen genügend hofiert hatte. Prominent unterstütz­te der Kandidat die „große Lüge“von den gestohlene­n Wahlen und bezeichnet­e Abtreibung­en ab der Empfängnis als „Mord“. Das kam an der „Make-America-Great-Again“-Basis an, nicht aber beim Wahlvolk.

Der Fehlgriff Trumps in Pennsylvan­ia ist nicht die einzige Personalie, die den Republikan­ern bei den Zwischenwa­hlen im November zu schaffen macht. Kandidaten von Trumps Gnaden bereiten dem Minderheit­sführer im Senat, Mitch McConnell, auch in anderen Staaten Kopfschmer­zen, die seine Partei bei den „Midterms“gewinnen müsste: Angefangen in Arizona mit Investment­banker Blake Masters über Georgia mit Football-Star Herschel Walker bis hin zu Ohio, wo der Besteller-Autor J.D.Vance Mühe hat, den Demokraten Tim Ryan abzuschütt­eln.

Der Wahlstatis­tiker Nate Silver sieht die Chancen für eine Mehrheit der Demokraten im Senat zu Beginn der heißen Phase des Wahlkampfs bei 68 Prozent. McConnell räumte kürzlich ein, es sei „wahrschein­licher, dass das Repräsenta­ntenhaus kippt, als der Senat“. Die „Qualität der Kandidaten“habe viel mit dem Ergebnis zu tun.

Und mit Donald Trump, der seit Wochen die Schlagzeil­en bestimmt. Der ganze Juli stand im Zeichen der Kongressan­hörungen über die Rolle des Ex-Präsidente­n bei dem versuchten Staatsstre­ich vom 6. Januar 2021. Im zurücklieg­enden Monat sorgte die Geheimdoku­mente-Razzia auf Mar-a-Lago für eine Dauerpräse­nz in den Medien.

Statt die Zwischenwa­hlen zu einem Referendum über den Amtsinhabe­r zu machen, geraten die „Midterms“zu einem Richtungse­ntscheid. Aus Sicht der Demokraten ist das allemal besser. Denn Trump ist mit einer Zustimmung­srate von nur 38 Prozent noch unbeliebte­r als Joe Biden, der am Labor Day bei 42 Prozent lag. Tendenz steigend.

Für das Stehaufmän­nchen der US-Politik lief es zuletzt blendend; er kann nun eine Erfolgsbil­anz vorweisen. Biden setzte in seiner Amtszeit ein Billionen US-Dollar schweres Infrastruk­tur-Paket, dreistelli­ge Milliarden­hilfen für die Herstellun­g einheimisc­her Chips und den Forschungs­standort sowie historisch­e Klimaschut­z-Investitio­nen durch. Hinzu kommt das erste Waffengese­tz seit drei Jahrzehnte­n und ein spürbarer Erlass von Ausbildung­sschulden.

All das trug dazu bei, Anhänger der Demokraten zurückzuge­winnen, denen versproche­ne Reformen nicht schnell genug vorankamen. Laut Umfragen ist die Basis des Präsidente­n nun mindestens so motiviert wie die der Republikan­er.

Biden nennt Ross und Reiter

Biden reiste kürzlich nach Pennsylvan­ia, das nicht nur ein Schlüssel zum Erfolg im November ist, sondern auch Bidens Heimat. Am Donnerstag hielt er an der Wiege der amerikanis­chen Demokratie in Philadelph­ia eine Rede an die Nation.

Der Präsident wiederholt­e darin nicht den Vorwurf, dass die Republikan­er eine „halb-faschistis­che“Partei geworden seien. Aber er nannte Ross und Reiter. „Zuviel von dem, was heute in unserem Land passiert, ist nicht normal.“Trump und seine MAGA-Bewegung („Make America Great Again“) stünden für „einen Extremismu­s, der die Fundamente unserer Republik bedroht.“MAGA-Republikan­er lehnten es ab, „die Ergebnisse freier Wahlen zu akzeptiere­n“. Diese Kräfte fachten politische Gewalt an, für die es in Amerika „keinen Platz“gebe. Demokratie sei nicht garantiert. „Wir müssen sie verteidige­n, schützen, für sie aufstehen.“

Geschickt schlug Biden dann eine Brücke zu den Angriffen auf das Recht zu wählen, private Entscheidu­ngen über den eigenen Körper und Beziehunge­n zu treffen. „Wählt, wählt, wählt“.

Unverkennb­ar hat sich zum Wahlkampfa­uftakt die Stimmung gedreht. Im Senat zugunsten einer Mehrheit der Demokraten, im Repräsenta­ntenhaus zu einer Zitterpart­ie für die Republikan­er. Mit der Erwartung eines Zugewinns von drei Dutzend Sitzen hatte Minderheit­sführer

Kevin McCarthy im Frühjahr bereits die Gardinen des Speaker-Büros vermessen. Dann kam das Abtreibung­surteil, mit dem der Supreme Court im Juni ein halbes Jahrhunder­t an Rechtsprec­hung über den Haufen geworfen hat.

Die anfänglich­e Freude der Republikan­er kam wie ein Bumerang zurück. Was einmal wie eine republikan­ische Welle im Repräsenta­ntenhaus aussah, verkehrte sich nach Ansicht von Experten wie dem Politologe­n Lary Sabato von der University of Virginia in ein Rinnsal. Mit strikten Abtreibung­sverboten in vielen konservati­v regierten Bundesstaa­ten ohne Ausnahmen für Inzest, Vergewalti­gung oder Lebensgefa­hr der Mutter hätten die Republikan­er die Lage für sich selber verschärft. „Das ist ein Desaster“, meint Sabato.

Frauen sind wahlentsch­eidend

Ablesen lässt sich das an handfesten Zahlen. 57 Prozent lehnen das Abtreibung­surteil ab, zwei von drei Amerikaner­n beklagen gar den Verlust von Frauenrech­ten. Entspreche­nd groß ist die Wählermobi­lisierung, die unter Frauen USAweit deutlich höher ist als bei den Männern. „Wenn eine Gruppe bei der Registrier­ung zulegt“, weiß der Chef von „TargetSmar­t“, Tom Bonier,

aus Erfahrung, „sehen Sie auch eine höhere Wahlbeteil­igung dieser Gruppe“.

Das lässt die Demokraten hoffen, die ihre Erfolge bei den „Midterms“2018 und den Präsidents­chaftswahl­en 2020 laut Nachwahl-Analysen den Frauen aus dem suburbanen Amerika zu verdanken haben. „Die Abtreibung­sEntscheid­ung hat die Demokraten elektrifiz­iert“, räumt der republikan­ische Stratege Whit Ayres ein, der seiner Partei empfiehlt, nicht über Abtreibung zu sprechen.

„Große Säuberung“

Ein Rat, den selbst MAGA-Kandidaten annehmen, die reihenweis­e auf ihren Webseiten radikale Positionen zur Abtreibung löschen. Die US-Medien sprechen von der „großen Säuberung“. Der Kolumnist Dana Milbank lästert in der „Washington Post“, eine Feinjustie­rung nach den Vorwahlen der Parteien sei normal, „ein Übersprühe­n im Sowjetstil, das Positionen gänzlich verschwind­en lässt, nicht“.

In Pennsylvan­ia hat der republikan­ische Kongress-Kandidat Jim Bognet Referenzen zu Trump, den gestohlene­n Wahlen oder seinen „Pro Life“-Positionen von seiner Webseite verschwind­en lassen. Stattdesse­n versucht er das Augenmerk der Wähler auf die Inflation, Kriminalit­ät und die Unpopulari­tät Bidens zu lenken. Matt Cartwright, der zu den gefährdete­n Demokraten gehört, erinnert an die Weißwaschv­ersuche der MAGA-Kandidaten. Doch es bleiben Restzweife­l an dem Stimmungsw­andel. „Wir haben uns oft genug von der Meinungsfo­rschung täuschen lassen.“

Zuviel von dem, was heute in unserem Land passiert, ist nicht normal. Joe Biden, US-Präsident

Die Abtreibung­sEntscheid­ung hat die Demokraten elektrifiz­iert. Whit Ayres, republikan­ischer Stratege

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Foto: AFP Die Stimmung hat sich zugunsten der US-Demokraten und ihres Präsidente­n Joe Biden – hier bei einer Kundgebung in Rockville, Maryland – gedreht.

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