Rinnsal statt republikanische Welle?
Zum Auftakt der heißen Phase des Wahlkampfs für die US-Kongresswahlen hat sich die Stimmung gedreht
Doktor Mehmet Oz (62) versucht sich vor der Gemüsetheke des Supermarktes volkstümlich zu geben. Nachdem er Brokkoli, grünen Spargel, Karotten, Guacamole und Salsa aus dem Regal genommen hat, beschwert sich der gertenschlanke Fernsehdoktor über den Preis. „Leute, das sind 20 Dollar für 'Crudités' und da ist der Tequila noch nicht eingerechnet“.
Der TV-Spot des Kandidaten für den offenen Senatssitz des Industriestaats im Rostgürtel Amerikas erwies sich als Steilvorlage für John Fetterman (53). „Er ist eindeutig noch nie in einem Supermarkt gewesen“, macht sich der Zweimeter-Kerl über das Video lustig. Und spottet über den Gebrauch des französischen Worts 'Crudités'. „Wir nennen das hier Gemüse-Platte.“
Binnen 24 Stunden spülte die Episode eine halbe Millionen USDollar in die Wahlkampfkasse Fettermans, der nach einem Schlaganfall im Mai seine politischen Aktivitäten ins Netz verlagert hatte. In Umfragen liegt der bodenständige Vize-Gouverneur von Pennsylvania acht Punkte vor dem kürzlich aus New Jersey hergezogenen Herzchirurgen, den die „Dr. Oz Show“zu einem allseits bekannten Namen in Amerika gemacht hatte. Und das in einem Staat, den die Republikaner gewinnen müssen, wenn sie im November die Mehrheit in dem zurzeit 50 zu 50 geteilten Senat übernehmen wollen.
Mehrere Fehlgriffe
Bei den Vorwahlen der Republikaner erhielt Oz Trumps Segen, nachdem er diesen genügend hofiert hatte. Prominent unterstützte der Kandidat die „große Lüge“von den gestohlenen Wahlen und bezeichnete Abtreibungen ab der Empfängnis als „Mord“. Das kam an der „Make-America-Great-Again“-Basis an, nicht aber beim Wahlvolk.
Der Fehlgriff Trumps in Pennsylvania ist nicht die einzige Personalie, die den Republikanern bei den Zwischenwahlen im November zu schaffen macht. Kandidaten von Trumps Gnaden bereiten dem Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, auch in anderen Staaten Kopfschmerzen, die seine Partei bei den „Midterms“gewinnen müsste: Angefangen in Arizona mit Investmentbanker Blake Masters über Georgia mit Football-Star Herschel Walker bis hin zu Ohio, wo der Besteller-Autor J.D.Vance Mühe hat, den Demokraten Tim Ryan abzuschütteln.
Der Wahlstatistiker Nate Silver sieht die Chancen für eine Mehrheit der Demokraten im Senat zu Beginn der heißen Phase des Wahlkampfs bei 68 Prozent. McConnell räumte kürzlich ein, es sei „wahrscheinlicher, dass das Repräsentantenhaus kippt, als der Senat“. Die „Qualität der Kandidaten“habe viel mit dem Ergebnis zu tun.
Und mit Donald Trump, der seit Wochen die Schlagzeilen bestimmt. Der ganze Juli stand im Zeichen der Kongressanhörungen über die Rolle des Ex-Präsidenten bei dem versuchten Staatsstreich vom 6. Januar 2021. Im zurückliegenden Monat sorgte die Geheimdokumente-Razzia auf Mar-a-Lago für eine Dauerpräsenz in den Medien.
Statt die Zwischenwahlen zu einem Referendum über den Amtsinhaber zu machen, geraten die „Midterms“zu einem Richtungsentscheid. Aus Sicht der Demokraten ist das allemal besser. Denn Trump ist mit einer Zustimmungsrate von nur 38 Prozent noch unbeliebter als Joe Biden, der am Labor Day bei 42 Prozent lag. Tendenz steigend.
Für das Stehaufmännchen der US-Politik lief es zuletzt blendend; er kann nun eine Erfolgsbilanz vorweisen. Biden setzte in seiner Amtszeit ein Billionen US-Dollar schweres Infrastruktur-Paket, dreistellige Milliardenhilfen für die Herstellung einheimischer Chips und den Forschungsstandort sowie historische Klimaschutz-Investitionen durch. Hinzu kommt das erste Waffengesetz seit drei Jahrzehnten und ein spürbarer Erlass von Ausbildungsschulden.
All das trug dazu bei, Anhänger der Demokraten zurückzugewinnen, denen versprochene Reformen nicht schnell genug vorankamen. Laut Umfragen ist die Basis des Präsidenten nun mindestens so motiviert wie die der Republikaner.
Biden nennt Ross und Reiter
Biden reiste kürzlich nach Pennsylvania, das nicht nur ein Schlüssel zum Erfolg im November ist, sondern auch Bidens Heimat. Am Donnerstag hielt er an der Wiege der amerikanischen Demokratie in Philadelphia eine Rede an die Nation.
Der Präsident wiederholte darin nicht den Vorwurf, dass die Republikaner eine „halb-faschistische“Partei geworden seien. Aber er nannte Ross und Reiter. „Zuviel von dem, was heute in unserem Land passiert, ist nicht normal.“Trump und seine MAGA-Bewegung („Make America Great Again“) stünden für „einen Extremismus, der die Fundamente unserer Republik bedroht.“MAGA-Republikaner lehnten es ab, „die Ergebnisse freier Wahlen zu akzeptieren“. Diese Kräfte fachten politische Gewalt an, für die es in Amerika „keinen Platz“gebe. Demokratie sei nicht garantiert. „Wir müssen sie verteidigen, schützen, für sie aufstehen.“
Geschickt schlug Biden dann eine Brücke zu den Angriffen auf das Recht zu wählen, private Entscheidungen über den eigenen Körper und Beziehungen zu treffen. „Wählt, wählt, wählt“.
Unverkennbar hat sich zum Wahlkampfauftakt die Stimmung gedreht. Im Senat zugunsten einer Mehrheit der Demokraten, im Repräsentantenhaus zu einer Zitterpartie für die Republikaner. Mit der Erwartung eines Zugewinns von drei Dutzend Sitzen hatte Minderheitsführer
Kevin McCarthy im Frühjahr bereits die Gardinen des Speaker-Büros vermessen. Dann kam das Abtreibungsurteil, mit dem der Supreme Court im Juni ein halbes Jahrhundert an Rechtsprechung über den Haufen geworfen hat.
Die anfängliche Freude der Republikaner kam wie ein Bumerang zurück. Was einmal wie eine republikanische Welle im Repräsentantenhaus aussah, verkehrte sich nach Ansicht von Experten wie dem Politologen Lary Sabato von der University of Virginia in ein Rinnsal. Mit strikten Abtreibungsverboten in vielen konservativ regierten Bundesstaaten ohne Ausnahmen für Inzest, Vergewaltigung oder Lebensgefahr der Mutter hätten die Republikaner die Lage für sich selber verschärft. „Das ist ein Desaster“, meint Sabato.
Frauen sind wahlentscheidend
Ablesen lässt sich das an handfesten Zahlen. 57 Prozent lehnen das Abtreibungsurteil ab, zwei von drei Amerikanern beklagen gar den Verlust von Frauenrechten. Entsprechend groß ist die Wählermobilisierung, die unter Frauen USAweit deutlich höher ist als bei den Männern. „Wenn eine Gruppe bei der Registrierung zulegt“, weiß der Chef von „TargetSmart“, Tom Bonier,
aus Erfahrung, „sehen Sie auch eine höhere Wahlbeteiligung dieser Gruppe“.
Das lässt die Demokraten hoffen, die ihre Erfolge bei den „Midterms“2018 und den Präsidentschaftswahlen 2020 laut Nachwahl-Analysen den Frauen aus dem suburbanen Amerika zu verdanken haben. „Die AbtreibungsEntscheidung hat die Demokraten elektrifiziert“, räumt der republikanische Stratege Whit Ayres ein, der seiner Partei empfiehlt, nicht über Abtreibung zu sprechen.
„Große Säuberung“
Ein Rat, den selbst MAGA-Kandidaten annehmen, die reihenweise auf ihren Webseiten radikale Positionen zur Abtreibung löschen. Die US-Medien sprechen von der „großen Säuberung“. Der Kolumnist Dana Milbank lästert in der „Washington Post“, eine Feinjustierung nach den Vorwahlen der Parteien sei normal, „ein Übersprühen im Sowjetstil, das Positionen gänzlich verschwinden lässt, nicht“.
In Pennsylvania hat der republikanische Kongress-Kandidat Jim Bognet Referenzen zu Trump, den gestohlenen Wahlen oder seinen „Pro Life“-Positionen von seiner Webseite verschwinden lassen. Stattdessen versucht er das Augenmerk der Wähler auf die Inflation, Kriminalität und die Unpopularität Bidens zu lenken. Matt Cartwright, der zu den gefährdeten Demokraten gehört, erinnert an die Weißwaschversuche der MAGA-Kandidaten. Doch es bleiben Restzweifel an dem Stimmungswandel. „Wir haben uns oft genug von der Meinungsforschung täuschen lassen.“
Zuviel von dem, was heute in unserem Land passiert, ist nicht normal. Joe Biden, US-Präsident
Die AbtreibungsEntscheidung hat die Demokraten elektrifiziert. Whit Ayres, republikanischer Stratege