Luxemburger Wort

Perestroik­a mit dem Klappspate­n

In den früheren Sowjetrepu­bliken wird Michail Gorbatscho­w auch nach seinem Tod stark kritisiert

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Lewan Berdsenisc­hwili sah mit eigenen Augen, wie die Soldaten des russischen Innenminis­teriums die Menschen vor dem georgische­n Parlament im Zentrum von Tiflis mit Spaten und Gewehrkolb­en niedermach­ten. „Ich bin sicher, dass Gorbatscho­w dafür verantwort­lich war“, sagt der georgische Philosoph und frühere Sowjetdiss­ident dem „Luxemburge­r Wort“. „Er hat uns nachher gesagt, wir seien selbst schuld gewesen.“

Am Samstag wird Michail Gorbatscho­w in Moskau beerdigt. Aber die Trauer vieler russischer Demokraten mischt sich mit kritischen, oft sogar bösen Stimmen aus den ehemaligen Sowjetrepu­bliken. Denn für viele von ihnen endeten Gorbatscho­ws Reformen in blutigen Straßensch­lachten und Bürgerkrie­gen.

Am 9. April 1989 töteten Gorbatscho­ws Militärs in Tiflis 21 Menschen, als sie eine friedliche Kundgebung auseinande­rjagten. Wohl vor allem deshalb verzichtet­e Georgiens Präsidenti­n Salome Surabischw­ili bisher auf Beileidsbe­kundungen. So wie ihr kasachisch­er Kollege Qassym-Schomart Tokajew. Auch in Kasachstan herrschen gemischte Erinnerung­en. Dort hatte Gorbatscho­w 1986 den kasachisch­en Parteisekr­etär durch einen Russen ausgetausc­ht. Proteste brachen aus, die ebenfalls von Soldaten mit Spaten niedergesc­hlagen wurden, dabei gab es zwei Tote und über 1 700 Verletzte.

Noch schlechter sind viele litauische Politiker auf den letzten Generalsek­retär der sowjetisch­en KPdSU zu sprechen.

Vor allem wegen der 14 Menschen, die im Januar 1991 am Fernsehtur­m von Vilnius umkamen, als sowjetisch­e Panzer eine Unabhängig­keitsdemo niederwalz­ten. Verteidigu­ngsministe­r Arvydas

Anušauskas bezeichnet Gorbatscho­w als Verbrecher. „Er hat den Befehl gegeben, friedliche Proteste in Vilnius, Tiflis, Alma-Ata, Baku und anderen Städten zu unterdrück­en.“Angehörige der Opfer aus Vilnius versuchten bis zu Gorbatscho­ws Tod, ihn vor Gericht zu bringen.

Auch Wolodymyr Selenskyj und andere ukrainisch­e Spitzenpol­itiker schweigen sich aus. In Kiew nimmt man es Gorbatscho­w übel, dass dieser sich hinter den Anschluss der Krim 2014 stellte. Es kondoliert­en Wladimir Putin, der Belarusse Alexander Lukaschenk­o und der Tadschike Emomali Rachmon, drei autoritäre Langzeithe­rrscher. Vereinzelt gibt es auch warme Worte von Reformvete­ranen. Der kirgisisch­e Expräsiden­t Askar Akajew sagt, Gorbatscho­w habe der Unabhängig­keit seines Landes keine Steine in den Weg gelegt.

Ein künstliche­s Gebilde

Aber den meisten postsowjet­ischen Nationen konnte es Gorbatscho­w so wenig recht machen wie vielen Russen. Die Aserbaidsc­haner werfen ihm vor, er habe die armenische­n Separatist­en in BergKaraba­ch unterstütz­t, die Armenier

beschweren sich, ihm seien die Karabach-Separatist­en ein Dorn im Auge gewesen.

Dabei gestehen gerade Vertreter der postsowjet­ischen Intelligen­zija Gorbatscho­w zu, er habe viel für die Freiheit Osteuropas getan, auch für die Freiheit des Wortes in der Sowjetunio­n. Und er habe, wenn auch ungewollt, die Souveränit­ät der Republiken gefördert. „Er hat etwas Gewaltiges versucht, aber er irrte sich, dass es möglich sei, dem Sowjetsyst­em ein menschlich­es Gesicht zu geben“, sagt der Georgier Berdsenisc­hwili.

Das von Stalin errichtete Imperium sei ein künstliche­s Gebilde gewesen, Stalin hätte das armenische Karabach Aserbaidsc­han zugeschlag­en, Nordosseti­en Russland und Südossetie­n Georgien. So habe er Konflikthe­rde zwischen den Republiken geschaffen. Und unter Gorbatscho­w brachen in Berg-Karabach und Südossetie­n, auch in Transnistr­ien, grausame ethnische Kriege aus. „Jeder Versuch, dieses Imperium, in dem 500 Völker unter einer Parteidikt­atur lebten, zu demokratis­ieren“, sagt Berdsenisc­hwili, „musste mit Gewalt und blutigen ethnischen Konflikten enden.“

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Foto: AFP Am Sitz der Gorbatscho­w-Stiftung in Moskau erinnert man an den verstorben­en letzten Führer der Sowjetunio­n und Friedensno­belpreistr­äger von 1990.

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