Ein nachhaltiges und gerechtes Wirtschaftssystem entwickeln
Das Mittelmeer, eine der meistbefahrenen Routen der Welt, wird angesichts der steigenden Zahl an Menschen, die ihre Heimat verlassen haben und auf seeuntauglichen Booten Europa erreichen wollen, streng überwacht. Es vergeht kein Tag, an dem nicht vermeldet wird, dass Hunderte Bootsflüchtlinge aufgegriffen wurden.
Diese Flüchtlinge haben nur ein Ziel vor Augen – die Europäische Union über das Mittelmeer zu erreichen; unzählige Menschen haben diese Flucht mit ihrem Leben bezahlt. Neben dem Fluchtweg über das Mittelmeer versuchen immer mehr Flüchtlinge, die Kanarischen Inseln und in einem verstärkten Maß Großbritannien über den Seeweg zu erreichen. Die Flucht stellt das Ende der Migration von Menschen aus dem Nahen und dem Mittleren Osten, aus Nordafrika und der Subsahara-Zone dar.
Die Gründe für ihre Flucht sind die kriegerischen Konflikte, das Elend und die Armut sowie die Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern. Hervorgerufen durch die Ukraine-Krise, verschärft sich das Elend noch weiter und in vielen afrikanischen Ländern droht durch das Ausbleiben der Getreide- und Nahrungsmittelimporte die Hungersnot.
Die Klimaanalytikerin Marina Andrijevic (Berliner HumboldtUniversität) hat im Auftrag der NGO „Christian Aid“im Jahr 2021 eine Studie durchgeführt: In den 65 untersuchten armen Ländern und kleinen Inselstaaten rechnet man bis zum Jahr 2050 im Schnitt mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 19,6 Prozent, bedingt durch den Klimawandel – am stärksten sind die Länder in Afrika betroffen.
Der Klimaforscherin Friederike Otto vom „London Imperial College“zufolge könnte die extreme Wärme die Feldarbeiten in tropischen Ländern am Äquator bald „unmöglich“machen. Angesicht dieses Zahlenmaterials sollte die Europäische Union ein besonderes Augenmerk auf ihren Nachbarkontinent Afrika legen, denn dieser ist die Weltregion mit dem stärksten Bevölkerungswachstum. Leben heute dort 1,4 Milliarden Menschen – dann werden es 2,5 Milliarden im Jahr 2050 und möglicherweise 4,3 Milliarden im Jahr 2100 sein.
Bedingt durch die neoliberalen Kreditauflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und die fatalen Entschuldungsprogramme, das heißt, die aggressive Freihandelspolitik, kann schon längst nicht mehr von einer eigenständigen Wirtschaftsund Sozialpolitik in den Ländern Afrikas gesprochen werden. In den Ländern der Subsahara ist der Schuldenanteil während der zurückliegenden zehn Jahre von 40 auf 60 Prozent des BIP gestiegen
Unfaire EU-Agrarsubventionen
Hier haben ebenfalls die bilateralen Wirtschaftsabkommen mit den EU-Staaten die afrikanischen Länder gezwungen, ihre Bedingungen für die Investitionen zu liberalisieren, um so den europäischen Unternehmen den Zugang zu den lokalen Märkten zu eröffnen. Im Gefolge dieser Machenschaften verringern sich die Handlungsspielräume; sie treffen insbesondere die lokale prekäre Agrarwirtschaft, beruhend auf den Familienbetrieben.
Durch die unfairen EU-Agrarsubventionen werden die Märkte in den Ländern der Sahel-Zone mit den Produkten aus der subventionierten EU-Agrarindustrie „überschwemmt“– hier seien nur das Milchpulver und die tief gekühlten Hühnerflügel erwähnt. Mit verheerenden Folgen: Die ärmsten Menschen in diesen Ländern werden noch tiefer ins Elend gestürzt und man stellt sich die bange Frage: Wie sollen diese Menschen mit den anstehenden Preissteigerungen für Lebensmittel ihr bereits karges Leben fristen?
Es sei den Reichen der Welt ins Stammbuch geschrieben: Die Armen der Welt geben mehr als 50 Prozent ihres kargen Einkommens für die Nahrungsmittel aus und angesichts dieses Elends verbleiben die Jugendlichen nicht mehr in ihrer Heimat. Zusätzlich sei diese Information seitens der Welthungerhilfe genannt: 782 Millionen Menschen litten unter chronischem Hunger im Jahr 2020, bereits 828 Millionen Menschen im Jahr 2021 und es wird geschätzt, dass eine Milliarde Menschen im Jahr 2022 dringend auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind.
Sind diese Zahlen an sich schon schockierend, so stößt die Aussage der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) noch schlimmer auf: Etwa ein Drittel der jährlichen globalen Nahrungsmittelproduktion wird verschwendet, das heißt, 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel landen auf dem Müllhaufen.
Eine weitere Kennzahl für die derzeitige Schieflage besteht darin, dass Afrika nur mit drei Prozent an der Weltwirtschaft beteiligt ist – die Europäische Union hingegen mit fast 16 Prozent
(bei einer wesentlich geringeren Fläche). Kann es dann verwundern, wenn die Migration hin zu den reichen Ländern, die das Elend hervorrufen, ungebrochen anhält?
Einen Grund für die Flucht der Jugendlichen aus der afrikanischen Heimat sehe ich in deren Wunsch, das „Leben zu genießen“, welches ihnen über die modernen Kommunikationsnetze „täglich geliefert“wird. Luxemburg führt, laut den rezenten Informationen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Liste der reichsten Länder an – gefolgt von Singapur, Irland und dem Emirat Katar. Deutschland steht auf dem 19., Belgien auf dem 22. und Frankreich auf dem 26. Listenplatz.
Sieht man sich die Platzierungen an, so erkennt man, dass sich die Länder Burkina Faso, Eritrea, Niger, Somalia und die beiden Kongo-Staaten am unteren Ende der Liste befinden, derweil der Südsudan und Burundi die letzten Plätze einnehmen. Es sind auch diese Länder, welche derzeit am meisten unter dem Klimawandel und der Ernährungskrise leiden und welche die Jugendlichen zur Flucht in die reichen Länder verleiten. Möglicherweise
steht nunmehr das reichste Land der Erde, das Großherzogtum Luxemburg, im Fokus ihres Fluchtplans.
In diesem Zusammenhang ist es jedoch wichtig, ebenfalls auf den Erderschöpfungstag hinzuweisen, den das Emirat Katar am 10. Februar und Luxemburg am 14. Februar in diesem Jahr begangen haben. Dies heißt konkret, dass die reichsten Länder den Planeten am stärksten belasten – würden alle Länder wie diese beiden leben, dann bräuchten wir acht Planeten.
Franz Fayot (LSAP), der luxemburgische Wirtschaftsminister, hat recht mit seiner Aussage, anlässlich seiner Pressekonferenz zur „sharing economy“am 12. August 2022: „Eise Produktiounsa Konsummodell ass einfach net méi nohalteg, ëmweltfrëndlech oder wirtschaftlech effizient.“Diese Aussage habe ich während meiner Tätigkeit als Abgeordneter mehrfach geäußert und nur Kopfschütteln geerntet.
Die Frage sei gestellt: Sind denn die Menschen in den beiden reichsten Ländern auch glücklich über diesen Wohlstand? Man möge nur die rezenten Fakten von Caritas oder ASTI betrachten und schon erkennt man – mitnichten.
Diesbezüglich sollte man sich die subjektive Lebenszufriedenheit in verschiedenen Ländern anschauen. Laut dem „World Happiness Report“belegen Finnland, Dänemark und die Schweiz die drei ersten Plätze, es folgen Deutschland auf Rang 13 und Frankreich auf Rang 21 – Luxemburg abgeschlagen.
Die Gründe für ihre Flucht sind die kriegerischen Konflikte, das Elend und die Armut sowie die Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern.
Die Hoffnung muss siegen
Die Bekämpfung der Armut kann nur gelingen, wenn es uns gelingt, den Graben zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden drastisch zu verringern. Die Verwirklichung der sozialund umweltgerechten Lebensund Wirtschaftsweise in den Entwicklungsländern, solange und schwierig auch dieser Prozess sein mag, eröffnet ungeahnte Gestaltungsspielräume.
Mauern bauen, um die Menschenmassen aufzuhalten, funktioniert nicht – vielmehr müssen wir alle Kraft in das Wagnis einbringen, eine gerechtere Welt aufzubauen.
Der Autor ist Prof. Dr.-Ing. i.R.
Charles M. Huber, Berater von Macky Sall, Präsident des Senegal