Luxemburger Wort

Ein nachhaltig­es und gerechtes Wirtschaft­ssystem entwickeln

- Von Marcel Oberweis *

Das Mittelmeer, eine der meistbefah­renen Routen der Welt, wird angesichts der steigenden Zahl an Menschen, die ihre Heimat verlassen haben und auf seeuntaugl­ichen Booten Europa erreichen wollen, streng überwacht. Es vergeht kein Tag, an dem nicht vermeldet wird, dass Hunderte Bootsflüch­tlinge aufgegriff­en wurden.

Diese Flüchtling­e haben nur ein Ziel vor Augen – die Europäisch­e Union über das Mittelmeer zu erreichen; unzählige Menschen haben diese Flucht mit ihrem Leben bezahlt. Neben dem Fluchtweg über das Mittelmeer versuchen immer mehr Flüchtling­e, die Kanarische­n Inseln und in einem verstärkte­n Maß Großbritan­nien über den Seeweg zu erreichen. Die Flucht stellt das Ende der Migration von Menschen aus dem Nahen und dem Mittleren Osten, aus Nordafrika und der Subsahara-Zone dar.

Die Gründe für ihre Flucht sind die kriegerisc­hen Konflikte, das Elend und die Armut sowie die Perspektiv­losigkeit in ihren Heimatländ­ern. Hervorgeru­fen durch die Ukraine-Krise, verschärft sich das Elend noch weiter und in vielen afrikanisc­hen Ländern droht durch das Ausbleiben der Getreide- und Nahrungsmi­ttelimport­e die Hungersnot.

Die Klimaanaly­tikerin Marina Andrijevic (Berliner HumboldtUn­iversität) hat im Auftrag der NGO „Christian Aid“im Jahr 2021 eine Studie durchgefüh­rt: In den 65 untersucht­en armen Ländern und kleinen Inselstaat­en rechnet man bis zum Jahr 2050 im Schnitt mit einem Rückgang des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP) um 19,6 Prozent, bedingt durch den Klimawande­l – am stärksten sind die Länder in Afrika betroffen.

Der Klimaforsc­herin Friederike Otto vom „London Imperial College“zufolge könnte die extreme Wärme die Feldarbeit­en in tropischen Ländern am Äquator bald „unmöglich“machen. Angesicht dieses Zahlenmate­rials sollte die Europäisch­e Union ein besonderes Augenmerk auf ihren Nachbarkon­tinent Afrika legen, denn dieser ist die Weltregion mit dem stärksten Bevölkerun­gswachstum. Leben heute dort 1,4 Milliarden Menschen – dann werden es 2,5 Milliarden im Jahr 2050 und möglicherw­eise 4,3 Milliarden im Jahr 2100 sein.

Bedingt durch die neoliberal­en Kreditaufl­agen des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) und die fatalen Entschuldu­ngsprogram­me, das heißt, die aggressive Freihandel­spolitik, kann schon längst nicht mehr von einer eigenständ­igen Wirtschaft­sund Sozialpoli­tik in den Ländern Afrikas gesprochen werden. In den Ländern der Subsahara ist der Schuldenan­teil während der zurücklieg­enden zehn Jahre von 40 auf 60 Prozent des BIP gestiegen

Unfaire EU-Agrarsubve­ntionen

Hier haben ebenfalls die bilaterale­n Wirtschaft­sabkommen mit den EU-Staaten die afrikanisc­hen Länder gezwungen, ihre Bedingunge­n für die Investitio­nen zu liberalisi­eren, um so den europäisch­en Unternehme­n den Zugang zu den lokalen Märkten zu eröffnen. Im Gefolge dieser Machenscha­ften verringern sich die Handlungss­pielräume; sie treffen insbesonde­re die lokale prekäre Agrarwirts­chaft, beruhend auf den Familienbe­trieben.

Durch die unfairen EU-Agrarsubve­ntionen werden die Märkte in den Ländern der Sahel-Zone mit den Produkten aus der subvention­ierten EU-Agrarindus­trie „überschwem­mt“– hier seien nur das Milchpulve­r und die tief gekühlten Hühnerflüg­el erwähnt. Mit verheerend­en Folgen: Die ärmsten Menschen in diesen Ländern werden noch tiefer ins Elend gestürzt und man stellt sich die bange Frage: Wie sollen diese Menschen mit den anstehende­n Preissteig­erungen für Lebensmitt­el ihr bereits karges Leben fristen?

Es sei den Reichen der Welt ins Stammbuch geschriebe­n: Die Armen der Welt geben mehr als 50 Prozent ihres kargen Einkommens für die Nahrungsmi­ttel aus und angesichts dieses Elends verbleiben die Jugendlich­en nicht mehr in ihrer Heimat. Zusätzlich sei diese Informatio­n seitens der Welthunger­hilfe genannt: 782 Millionen Menschen litten unter chronische­m Hunger im Jahr 2020, bereits 828 Millionen Menschen im Jahr 2021 und es wird geschätzt, dass eine Milliarde Menschen im Jahr 2022 dringend auf Nahrungsmi­ttelhilfe angewiesen sind.

Sind diese Zahlen an sich schon schockiere­nd, so stößt die Aussage der Ernährungs- und Landwirtsc­haftsorgan­isation der Vereinten Nationen (FAO) noch schlimmer auf: Etwa ein Drittel der jährlichen globalen Nahrungsmi­ttelproduk­tion wird verschwend­et, das heißt, 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmi­ttel landen auf dem Müllhaufen.

Eine weitere Kennzahl für die derzeitige Schieflage besteht darin, dass Afrika nur mit drei Prozent an der Weltwirtsc­haft beteiligt ist – die Europäisch­e Union hingegen mit fast 16 Prozent

(bei einer wesentlich geringeren Fläche). Kann es dann verwundern, wenn die Migration hin zu den reichen Ländern, die das Elend hervorrufe­n, ungebroche­n anhält?

Einen Grund für die Flucht der Jugendlich­en aus der afrikanisc­hen Heimat sehe ich in deren Wunsch, das „Leben zu genießen“, welches ihnen über die modernen Kommunikat­ionsnetze „täglich geliefert“wird. Luxemburg führt, laut den rezenten Informatio­nen des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF), die Liste der reichsten Länder an – gefolgt von Singapur, Irland und dem Emirat Katar. Deutschlan­d steht auf dem 19., Belgien auf dem 22. und Frankreich auf dem 26. Listenplat­z.

Sieht man sich die Platzierun­gen an, so erkennt man, dass sich die Länder Burkina Faso, Eritrea, Niger, Somalia und die beiden Kongo-Staaten am unteren Ende der Liste befinden, derweil der Südsudan und Burundi die letzten Plätze einnehmen. Es sind auch diese Länder, welche derzeit am meisten unter dem Klimawande­l und der Ernährungs­krise leiden und welche die Jugendlich­en zur Flucht in die reichen Länder verleiten. Möglicherw­eise

steht nunmehr das reichste Land der Erde, das Großherzog­tum Luxemburg, im Fokus ihres Fluchtplan­s.

In diesem Zusammenha­ng ist es jedoch wichtig, ebenfalls auf den Erderschöp­fungstag hinzuweise­n, den das Emirat Katar am 10. Februar und Luxemburg am 14. Februar in diesem Jahr begangen haben. Dies heißt konkret, dass die reichsten Länder den Planeten am stärksten belasten – würden alle Länder wie diese beiden leben, dann bräuchten wir acht Planeten.

Franz Fayot (LSAP), der luxemburgi­sche Wirtschaft­sminister, hat recht mit seiner Aussage, anlässlich seiner Pressekonf­erenz zur „sharing economy“am 12. August 2022: „Eise Produktiou­nsa Konsummode­ll ass einfach net méi nohalteg, ëmweltfrën­dlech oder wirtschaft­lech effizient.“Diese Aussage habe ich während meiner Tätigkeit als Abgeordnet­er mehrfach geäußert und nur Kopfschütt­eln geerntet.

Die Frage sei gestellt: Sind denn die Menschen in den beiden reichsten Ländern auch glücklich über diesen Wohlstand? Man möge nur die rezenten Fakten von Caritas oder ASTI betrachten und schon erkennt man – mitnichten.

Diesbezügl­ich sollte man sich die subjektive Lebenszufr­iedenheit in verschiede­nen Ländern anschauen. Laut dem „World Happiness Report“belegen Finnland, Dänemark und die Schweiz die drei ersten Plätze, es folgen Deutschlan­d auf Rang 13 und Frankreich auf Rang 21 – Luxemburg abgeschlag­en.

Die Gründe für ihre Flucht sind die kriegerisc­hen Konflikte, das Elend und die Armut sowie die Perspektiv­losigkeit in ihren Heimatländ­ern.

Die Hoffnung muss siegen

Die Bekämpfung der Armut kann nur gelingen, wenn es uns gelingt, den Graben zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden drastisch zu verringern. Die Verwirklic­hung der sozialund umweltgere­chten Lebensund Wirtschaft­sweise in den Entwicklun­gsländern, solange und schwierig auch dieser Prozess sein mag, eröffnet ungeahnte Gestaltung­sspielräum­e.

Mauern bauen, um die Menschenma­ssen aufzuhalte­n, funktionie­rt nicht – vielmehr müssen wir alle Kraft in das Wagnis einbringen, eine gerechtere Welt aufzubauen.

Der Autor ist Prof. Dr.-Ing. i.R.

Charles M. Huber, Berater von Macky Sall, Präsident des Senegal

 ?? Foto: AFP ?? Hervorgeru­fen durch die Ukraine-Krise, verschärft sich das Elend in vielen afrikanisc­hen Ländern. Durch das Ausbleiben der Getreide- und Nahrungsmi­ttelimport­e drohen Hungersnöt­e, gibt der Autor zu bedenken.
Foto: AFP Hervorgeru­fen durch die Ukraine-Krise, verschärft sich das Elend in vielen afrikanisc­hen Ländern. Durch das Ausbleiben der Getreide- und Nahrungsmi­ttelimport­e drohen Hungersnöt­e, gibt der Autor zu bedenken.

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