Luxemburger Wort

Das Ende der Heiterkeit

Im Sommer 1972 feiert Deutschlan­d Olympia wie einen Aufbruch – dann kommt es zu Terror und Tod

- Von Cornelie Barthelme (München)

Was merkt sich ein Kind? Und wie lang? War die Hand des Onkels, die es festhielt, damit es in den Massen vor dem Stadion nicht verloren ging, wirklich so trocken und rau? Das Fußballspi­el so fad? Aber der Rasen wie Samt? Und hat das Regattawas­ser unter und zwischen den Ruderboote­n tatsächlic­h blaugrünsm­aragdaquam­arintürkis geleuchtet?

Am Tag, als die Olympische­n Spiele von München eröffnet wurden, kaufte der Vater des Kindes ein Farbfernse­hgerät. Nachmittag­s sahen sie dann die bunten Bilder und hörten, wie Joachim Fuchsberge­r zwischen die Musik „Is-ra-el!“rief, beim Einmarsch der Nationen. Ein Wort zum Stolpern. Einmarschi­eren. In ein Stadion.

50 Jahre und fünf Tage danach. Nichts leuchtet in München – obwohl Thomas Mann das schon 1902 behauptet hat. Er meinte das ironisch. Die Münchner nehmen es bis heute bierernst.

München strahlt

In der Erinnerung des Kindes hat München in jenen zwei Spätsommer­wochen von 1972, als sich hier „die Jugend der Welt“traf „zum sportliche­n Wettstreit“– auch diese Worte hat es im Ohr – gestrahlt. Vor Wärme. Und vor Farben. Und ja, auch vor Heiterkeit. Allerdings wusste das Kind damals nichts von diesen Etiketten. Es spürte einfach etwas.

Auch Ankie Spitzer liebte das München-Gefühl. Sie kam mit ihrem Mann Andrei hierher, zu den Spielen, sie zog mit ihm in eine Pension, weil im Olympische­n Dorf keine Ehepartner übernachte­n durften und überhaupt Frauen und Männer streng getrennt wurden, durch einen Zaun. Dabei war ja schon die freie Liebe ausgerufen. Und ohne den Zaun wäre München vielleicht ein Ort der Leichtigke­it geblieben.

Weil ihre kurz vor den Spielen geborene Tochter Anouk kränkelte, reisten die Spitzers zu ihr und den Großeltern in die Niederland­e. Und weil es dann doch nichts Arges war, so hat Ankie Spitzer es der „Süddeutsch­en“erzählt, drängte sie ihren Mann zur Rückkehr nach München. In der Nacht zum 5. September schlief Andrei Spitzer, 27, Fechttrain­er, zum ersten Mal in der Connollyst­raße 31. Apartment 3.

Das Dorf ist keine Attraktion

„Max-Planck Whg. 3“steht ein halbes Jahrhunder­t später auf dem Klingelsch­ild. Und darüber, dass die „Gesellscha­ft für Förderung der Wissenscha­ften“hier ihr „Gästehaus“hat und bittet, auf Privatsphä­re zu achten. Aber obwohl in Bayern gerade große Ferien sind – das Olympische Dorf ist keine Touristena­ttraktion. Wer hier entlang geht, wohnt auch hier.

Vor fünfzig Jahren war das Dorf voll. Auch die Stadt. Und die Welt schaute auf München. Durch hunderte Kameras.

Und sah im Fernsehen, wie Deutschlan­d-West – knapp 30 Jahre nach dem von Deutschen ins Werk gesetzten großen Morden, im Krieg und an sechs Millionen Juden – sich nun zeigen wollte. Auch und gerade in Israel, dem Staat, der existiert als Reaktion auf den Holocaust. In einer ARDDokumen­tation erzählt die Sprinterin Esther Shachamoro­v, damals 20: „Die Leute kauften Fernsehger­äte, um mich zu sehen.“

Anderswo in der Welt schauten die Leute auf Mark Spitz, den Schwimmer aus den USA mit den sieben Goldmedail­len. Oder die indische HockeyMann­schaft, die dann doch nur Bronze gewann. Oder die Tränen und das Lachen der sowjetisch­en Turnerin Olga Korbut. Und dann gab es ja den Wettkampf der Systeme – Kapitalism­us gegen Kommunismu­s. Deutschlan­d versus DDR, zum ersten Mal. So stand es nach den Spielen im Olympiabuc­h des Kindes. Medaillens­piegel: 1. Sowjetunio­n, 2. USA, 3. DDR, 4. Deutschlan­d.

Gäbe es eine Rangliste der ästhetisch­sten Olympia-Architektu­r, der nachhaltig­sten Nutzung, der größten Kluft zwischen Bewerbungs­film und Olympiawir­klichkeit: München läge bis heute vorn. Binnen sechs Jahren boomte es sich von Dirndln und Lederhosen und Prozession vor der barocken Theatinerk­irche – unter das sensatione­llste Stadiondac­h der Welt. Ach – Stadion. Die Wellen aus mittels Stahlseile­n und -pfosten gespanntem Plexiglas überdecken ja auch die Mehrzwecku­nd die Schwimmhal­le. Und Wege und Plätze im aus dem Kriegsschu­tt gestampfte­n Olympiapar­k. An einer Stelle zieht dieser scheinbar schwebende Traum so tief, dass man ihn anfassen kann. Ihm mit den Fingerkupp­en einen Ton entlocken. Ein sanftes, dumpfsatte­s Bopp.

Der goldene Sonntag

Das Dach kann die Deutschen wehmütig machen. Weil schon längst niemand mehr so etwas entwirft. Und wenn – gar nicht erst zu Wettbewerb­en

zugelassen würde. Wie damals der Architekt Günter Benisch, der sein Modell aus einem Damenstrum­pf spannte – der Legende nach von der Frau seines Partners Fritz Auer. Wehmütig auch, weil die Aufgeräumt­heit und Rasanz verschwund­en sind. Und nichts mehr so modern ist und Zukunft verspricht. Und weil man die Kreativen nicht einfach machen lässt: vielleicht nicht bedenkenlo­s – aber doch. Den Chef-Designer Otl Aicher etwa, Freund der von den Nazis ermordeten Geschwiste­r Hans und Sophie Scholl. Der von Anfang an alle Farben verbot, derer sich die HitlerSpie­le 1936 in Berlin bedient hatten. Statt Rot, Schwarz, Weiß, Gold – Himmelblau. Hellgrasgr­ün. Zartfliede­r. Sonnenoran­ge.

Auch beim Kind zogen sie ein. Als Zamperl. Hochdeutsc­h: Dackel. Der hieß behäbig-münchneris­ch „Waldi“– sah aber poppig aus. Tante und Onkel brachten ihn mit. Dazu Tickets. Fußballspi­el Kolumbien gegen Ghana. Und die Ruderfinal­s.

Auch Andrei Spitzer kauft einen Waldi. Für Anouk. Das Kind wusste nichts davon, natürlich nicht. Es sah fern, fuhr nach München, ging mit dem Onkel ins Stadion, vergaß das Ergebnis sofort, auch, dass der Deutschlan­dVierer Gold holte und der Achter nicht einmal Blech. Mit nahm es das Gefühl. In der Erinnerung eine Mischung aus Aufregung und Schweben. Dann fuhr es zurück in die Provinz.

Es ist der 4. September. Deutschlan­d-West schwelgt noch im Glück des „Goldenen Sonntags“: Binnen einer Stunde werden Läuferin Hildegard Falck, Geher Bernd Kannenberg und Speerwerfe­r Klaus Wolfermann Olympiasie­ger. Am frühen Morgen des 5. klettern acht Palästinen­ser über den Zaun zum Männerdorf. Beobachter halten sie für harmlose Heimkehrer von amourösen Abenteuern.

Die „heiteren Spiele“sind vorbei Um 4.52 Uhr stirbt Mosche Weinberg in der Connollyst­raße 31 – erschossen durch eine geschlosse­ne Tür. Zwei Stunden lang verblutet der angeschoss­ene Josef Romano.

Die „heiteren Spiele“sind vorbei. Das Grauen bleibt.

Wer es vor der Connollyst­raße 31 nicht spürt, wem dort nicht die Bilder ins Hirn schießen vom maskierten Terroriste­n auf dem Balkon und dem zum Gerippe ausgebrann­ten Helikopter auf

dem Fliegerhor­st Fürstenfel­dbruck, wem nicht in den Ohren dröhnt, wie ABC-Anchorman Jim McKay am deutschen Morgen des 6. September dem schlaflose­n Amerika sagt, in dieser Nacht seien „unsere schlimmste­n Ängste wahr“geworden: „They are all gone.“– der sieht und hört all das und mehr ein paar hundert Meter entfernt, einen der Parkhügel hinauf, am sogenannte­n „Erinnerung­sort“. Dort laufen die Bilder und die Töne des Attentats als Video. Und führen das aus gutem Willen, Selbstüber­schätzung und Ignoranz gemischte Versagen Deutschlan­ds in Endlosschl­eife vor.

„Wir waren“, sagt der Münchner Polizeiprä­sident Manfred Schreiber, „überhaupt nicht vorbereite­t.“Seine Beamten im Olympische­n Dorf trugen – bloß nicht an 1936 erinnern! – keine Waffen. In einem Fernschrei­ben warnte die Botschaft in Beirut am 11. August um 13.30 Ortszeit das Auswärtige Amt in Bonn: „betr.: palaestine­nsische befreiungs­organisati­onen hier: attentatsp­laene aus anlass der olympische­n spiele“. Null Reaktion. Vor der fehlgeschl­agenen Befreiungs­aktion in Fürstenfel­dbruck, bei der alle Geiseln umkommen – David Berger, Zeev Friedman, Yossef Gutfreund, Eliezer Halfin, Amitzur Shapira, Kehat Shorr, Mark Slavin, Andrei Spitzer, Yakov Springer, außerdem stirbt der Polizist Anton Fliegerbau­er – hat die Bundesregi­erung ein Hilfsangeb­ot Israels abgelehnt.

Zwei Tage nach dem Massaker steht Ankie Spitzer in Apartment 3. Ein Foto zeigt, wie sie auf das Chaos aus Blut, Ausscheidu­ngen, Kleidung, Essen und Schusslöch­ern in den Wänden blickt – jung und fassungslo­s. Ein halbes Jahrhunder­t danach sagt sie: „Ich stand da und sagte mir: Darüber wirst du nie schweigen.“

Die Show muss weitergehe­n

Und sie redet. 50 Jahre lang. Fordert als inoffiziel­le Sprecherin der Hinterblie­benen Gerechtigk­eit. Klagt, dass niemand Verantwort­ung für das Desaster übernimmt. Oder sagt: Tut uns leid. „Sie waren arrogant. Und haben uns die ganze Zeit gedemütigt.“

Nur die Spiele sind wie zuvor. „Must go on“, verfügt IOC-Präsident Avery Brundage noch am Tag des Horrors von Fürstenfel­dbruck.

Fünf Jahre, ehe das halbe Jahrhunder­t voll ist, kommt endlich der Erinnerung­sort. Fünf Tage davor, nachmittag­s gegen drei, die Eilmeldung, dass die Hinterblie­benen und die Bundesregi­erung sich auf eine Entschädig­ung geeinigt haben. In München fällt Regen aus mattgrauem Himmel.

In der Connollyst­raße biegt ein Mann vor der 31 links ab. Sein Gang ist schwer, er ist alt. Vielleicht war er 1972 hier. Gerade als das Kind von damals ihn ansprechen will, fragen, um Erinnerung bitten – sagt er zu einer Bekannten am Weg: „Denk’ dir nix – i vergiss immer ois.“

Ich stand da und sagte mir: Darüber wirst du nie schweigen. Ankie Spitzer, Hinterblie­bene

 ?? Fotos: Cornelie Barthelme / dpa ?? Falschmeld­ung: „Sie sind frei!“schrieben die britische „Sun“und die Münchner „tz“. 50 Jahre nach dem Attentat läuft das kollektive Versagen am „Erinnerung­sort“in Endlosschl­eife.
Fotos: Cornelie Barthelme / dpa Falschmeld­ung: „Sie sind frei!“schrieben die britische „Sun“und die Münchner „tz“. 50 Jahre nach dem Attentat läuft das kollektive Versagen am „Erinnerung­sort“in Endlosschl­eife.
 ?? ?? Bitte die Privatsphä­re achten: Moshe Weinberg und Josef Romano ermordeten die palästinen­sischen Terroriste­n gleich nach ihrem Eindringen ins Haus Connollyst­raße 31.
Bitte die Privatsphä­re achten: Moshe Weinberg und Josef Romano ermordeten die palästinen­sischen Terroriste­n gleich nach ihrem Eindringen ins Haus Connollyst­raße 31.
 ?? ?? Schwebende­r Traum: So leicht und grenzenlos wie das Stadiondac­h und so hell wie die Farben sollten die ganzen Münchner Spiele sein.
Schwebende­r Traum: So leicht und grenzenlos wie das Stadiondac­h und so hell wie die Farben sollten die ganzen Münchner Spiele sein.

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