Luxemburger Wort

Zurück auf Los

- Von Steve Bissen

So einen Entwurf für ein Grundgeset­z hat es noch nie gegeben. Experten sprachen bereits vom modernen und avantgardi­stischen Vorbildcha­rakter der chilenisch­en Verfassung, der Strahlkraf­t weit über Lateinamer­ika hinaus haben könnte. Umweltschu­tz, das Recht auf Abtreibung, soziale Standards und Rechte von Ureinwohne­rn sollten fest verankert werden. Geschriebe­n wurde sie von linken politische­n Kräften und Mitglieder­n der Zivilgesel­lschaft, Juristen und Verfassung­sexperten. Die profession­ellen Politiker spielten nur eine Nebenrolle. Doch der mit hohen Erwartunge­n ausgearbei­tete Entwurf ist mit klarer Mehrheit abgewiesen worden. Ein absolutes No-Go für die Opfer der Militärdik­tatur und die Hunderttau­senden Demonstran­ten, die 2019 auf die Straße gingen, um nachhaltig­e Veränderun­gen einzuforde­rn!

Denn damit bleibt die derzeitige Verfassung, die noch aus der Zeit der Militärdik­tatur von Augusto Pinochet (19731990) stammt, weiterhin in Kraft, auf die viele Menschen zurecht die wachsenden gesellscha­ftlichen Ungleichhe­iten in Chile zurückführ­en. Steht sie doch für einen zügellosen Neoliberal­ismus ohne Schranken für private Unternehme­n und einen schwachen Staat, der die soziale Daseinsfür­sorge im Bildungs- und Gesundheit­ssystem vernachläs­sigt.

Das chilenisch­e Referendum macht aber auch deutlich, dass ähnlich wie im Fall des dreifachen Neins zu den vorgeschla­gen Verfassung­sänderunge­n von Blau-Rot-Grün in Luxemburg im Jahr 2015, die Wähler eher selten die Fragen beantworte­n, die auf dem Zettel stehen. Stattdesse­n geraten sie auch immer zu einer Vertrauens­abstimmung über die jeweilige Regierung. Und die Beliebthei­t von Linkspräsi­dent Gabriel Boric ist seit dessen Wahl dramatisch gesunken. Rückblick: 2020 hatten noch knapp 80 Prozent der Wähler bei einem Plebiszit für die Ausarbeitu­ng einer neuen Verfassung gestimmt. Im Mai 2021 errang das linke Parteienbü­ndnis „Frente Amplio“dann die Mehrheit der Sitze im Verfassung­skonvent. Und Ende 2021 wurde mit Boric ein linker Präsident gewählt. Doch seitdem haben sich die Vorzeichen geändert, es gab einen wirtschaft­lichen Abschwung, der für die politische Opposition einen idealen Nährboden für Angstmache­rei und Warnungen vor einer „kommunisti­schen Diktatur“bot.

Chiles Präsident muss nun auf die gemäßigten Linken und die moderaten Rechten zugehen, um einen neuen Verfassung­sentwurf auszuarbei­ten, der Aussicht auf Erfolg hat. Denn diesen Fehler müssen sich Boric und seine Gefolgsleu­te ankreiden lassen: Sie haben die Bedenken der Gemäßigten von Anfang an außer Acht gelassen, statt sie mit ins Boot zu holen. In der naiven Vorstellun­g, dass eine komfortabl­e Mehrheit bei den vorangegan­genen Urnengänge­n ihnen auch automatisc­h eine Mehrheit bei einem Verfassung­sreferendu­m einbringen würde. Nun müssen sie Wasser in ihren Wein schütten. Denn in einem Punkt ist sich die große Mehrheit der Chilenen einig: Die Pinochet-Verfassung beizubehal­ten, ist keine Option. Ansonsten wird der Kampf um ein neues Grundgeset­z schon bald wieder auf der Straße ausgetrage­n werden.

Das PinochetGr­undgesetz beizubehal­ten, ist keine Option.

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