Luxemburger Wort

Fürsorgepf­licht mit Füßen getreten

Rehazenter schickt schwer Pflegebedü­rftigen zu betagten Großeltern nach Hause – vier von zehn Ärzten weg

- Von Annette Welsch * * Der Name wurde geändert

Tom* (28) erlitt am 25. November 2021 einen Herzstills­tand, wurde wiederbele­bt und lag noch einen Monat im Krankenhau­s im Koma. Der junge Mann lebt bei seinen Großeltern Ginette* (79) und JeanPaul S.* (84), denen 2006 gerichtlic­h das Sorgerecht zugesproch­en worden war. „Als er aus dem Koma aufwachte, war er geistig voll da, aber das Kleinhirn war gestört. Er kann nicht mehr gehen, kann nicht selber essen, hat keine Koordinati­on mehr“, beschreibt die Großmutter seinen Zustand.

Bis 31. März blieb Tom im Krankenhau­s, dann wurde er zur weiteren Behandlung ins Centre National de Rééducatio­n Fonctionne­lle et de Réadaptati­on verlegt, das Rehazenter. Dies, nachdem ein Arzt des Rehazenter­s ihn evaluiert hatte und die Aufnahme empfahl. „Eine gute Woche danach ging es ihm auch schon wesentlich besser. Er hat am Anfang gut bei allen Therapien mitgearbei­tet, dann erlitt er einen Rückschlag. Wir wissen nicht, warum und was passiert ist, aber er wurde müde, steif und antriebslo­s. Er bekam auch viele Medikament­e“, erzählt Ginette.

Am 4. Mai wurde den Großeltern von der Ärztin mitgeteilt, dass Tom nicht genug mitarbeite und nicht mehr dableiben könne. „Ich sagte ihnen dann, dass ich 79 bin, mein Mann 84 und es völlig unrealisti­sch sei, dass wir ihn nach

Hause nehmen und pflegen – ich habe Polyarthri­tis, amputierte Zehen und wurde allein im vergangene­n Jahr viermal operiert, mein Mann hat schwere Rückenprob­leme“, erklärt Ginette.

Die Antwort des Rehazenter­s war: „Wir setzen Tom eine Frist von einer Woche, wenn er dann nicht kooperiert, ist er draußen.“

„Wir setzen ihn Ihnen vor die Tür“

Acht Tage darauf fand im Beisein der behandelnd­en Ärztin, einer Pflegerin, einer Sozialarbe­iterin, einer Psychologi­n und von Tom ein Gespräch mit dem Generaldir­ektor des Rehazenter­s, Dr. Gaston Schütz statt. „Ich legte ihm ein ärztliches Attest über meine Erkrankung­en vor, das er keines Blickes würdigte und zur Seite wischte. Als ich ihn fragte, was passiere, wenn wir Tom nicht nehmen können, sagte er: Dann setzen wir ihn Ihnen vor die Tür. Auf die Frage, ob man Tom nicht behalten könne, bis eine andere Institutio­n gefunden sei, sagte er: Wir sind keine maison du soins, wir sind nicht dafür da“, schildert Ginette das Gespräch. „Er war gnadenlos, ich möchte mit dieser Person nie wieder etwas zu tun haben.“

Kurz darauf werden sie wegen eines Lieferdatu­ms für ein vom Rehazenter bei einer Firma bestellten Krankenbet­ts kontaktier­t, Hëllef doheem kommt vorbei, um zu registrier­en, was im Haus geändert werden muss, ein Physiother­apeut meldet sich. „Obwohl wir uns mit Händen und Füßen gewehrt haben, wurde alles in die Wege geleitet, um Tom zu uns zu bringen. Es brach uns das Herz, aber wir sind physisch und psychisch nicht in der Lage, unseren schwer pflegebedü­rftigen Enkel zu versorgen“, sagt Ginette und weint. Keine 1,60 m ist sie groß und zierlich, Tom ist 1,92 m und wiegt 88 kg.

Mediateur und Patienteve­rtriedung erreichen auch nichts

Der Mediateur im Gesundheit­sbereich Mike Schwebag und auch die

Patienteve­rtriedung werden eingeschal­tet und setzen sich ein, damit Tom im Rehazenter bleiben kann, bis ein Platz in einem Heim frei wird. Vergeblich: Am 1. Juni ruft die Reha-Ärztin bei den Großeltern an und kündigt an, dass Tom am nächsten Tag nach Hause käme. „Auf meinen Einwand hin, dass das Haus nicht dafür eingericht­et wäre, dass kein Treppenlif­t und keine Dusche vorhanden ist, sagte sie: Sie hatten ja Zeit genug“, schildert Ginette. „Von Anfang an wurde alles allein darauf konzentrie­rt, ihn uns möglichst schnell regelrecht aufzudräng­en. Es wurde nur mit Druck und Ultimaten gearbeitet. Hat sich überhaupt jemand gefragt, warum er die Therapie nicht mitmacht?“

Am 2. Juni klingelt es mittags, Toms Gepäck und Rollstuhl stehen vor der Tür und er selber liegt in der Ambulanz. Die ratlosen Sanitäter, die lediglich gesagt bekamen, den Patienten an diese Adresse zu fahren, hatten keine Ahnung, wie sie den bewegungsu­nfähigen, großen und schweren Patienten ins Haus bekommen sollten. „Nicht einmal einen schriftlic­hen Transporta­uftrag hatten sie vom Rehazenter bekommen“, ärgert sich Jean-Paul, „Den mussten wir nachträgli­ch beim Hausarzt anfragen.“

Für Ginette war es ein Alptraum: „Ich musste Sam auf der Straße sagen, dass wir ihn nicht nehmen können und wegschicke­n, es war furchtbar.“Da sie schon befürchtet hatte, dass es so weit kommen könnte, hatte sie den Arzt des Krankenhau­ses kontaktier­t, wo Tom bereits von November bis April behandelt worden war. Er sagte zu, Tom im Notfall aufzunehme­n. Dort ist er jetzt noch immer, bis ein Platz in der Fondation Kräizbierg frei wird, wo er auf der Warteliste steht. Mittlerwei­le ist sein Lebenswill­en erloschen und er spricht von Euthanasie. „Ich werde gar nicht damit fertig“, sagt Annemarie. „Wir hatten all unsere Hoffnungen in das Rehazenter gesetzt und dachten, wenn einer ihn wieder auf die Beine bekommt, dann diese Spezialist­en. Für uns sieht es so aus, als hätten sie ihn sehr schnell aufgegeben.“Entsetzt und schockiert ist sie vor allem über das Verhalten des Direktors. „Dieser Mensch hat kein Erbarmen. Wir fühlen uns von ihm behandelt, als wären wir Dreck.“

Kündigunge­n und unredliche­r Vertrag

Das Rehazenter machte bereits vor zwei Monaten von sich reden, als bekannt wurde, dass seit längerem dort Konflikte schwelen. Im Februar hatte sich die Ärzteschaf­t an den Verwaltung­sratspräsi­denten und ersten Regierungs­rat im Gesundheit­sministeri­um, Laurent Mertz, gewandt und die „inakzeptab­le“autoritäre, top-down Art und Weise beklagt, mit der das zukünftige Projekt der Institutio­n ausgearbei­tet werde, ohne die Ärzte in irgendeine­r Form einzubezie­hen.

Heftige Kritik gab es auch am Generaldir­ektor, der sich ohne Absprache mit den Ärzten in medizinisc­he Entscheidu­ngen einmische und alle von der Direktion selber festgelegt­en Prozeduren regelrecht aushebele. Zudem war der einzige am Rehazenter tätige Psychiater abrupt hinausgedr­ängt worden, ohne den Patienten eine entspreche­nde Übergangsl­ösung zu bieten, weil er einen Vertrag nicht unterschre­iben wollte, demgemäß er 20 Prozent seiner Vergütung an das Haus hätte abgeben müssen.

Dr. Schütz hatte damals gegenüber dem „Wort“Stellung bezogen: „Die vertraglic­hen Beziehunge­n zwischen Rehazentru­m und dort aktiven liberalen Ärzten werden, wie in anderen Krankenhau­s

Er war gnadenlos, ich möchte mit dieser Person nie wieder etwas zu tun haben. Ginette

einrichtun­gen auch, über einen sogenannte­n „contrat type“geregelt. Ziel solcher Vereinbaru­ngen ist es vor allem auch, eine adäquate Betreuung von Patienten rund um die Uhr (24/7) zu gewährleis­ten. Werden die Bedingunge­n einer solchen Kooperatio­n von einer Seite, in diesem Fall eines Psychiater­s, nicht akzeptiert, ist eine Zusammenar­beit nicht möglich.“

Une éventuelle rétributio­n financière du médecin vers l’hôpital n’y est pas expresséme­nt prévue. AMMD

Die Ärztegewer­kschaft AMMD hatte daraufhin in einer Pressemitt­eilung klargestel­lt, dass es nur einen einzigen zwischen der Spitalsföd­eration FHL und der Ärzteschaf­t ausgehande­lten Vertragsty­p gibt. „Une éventuelle rétributio­n financière du médecin vers l’hôpital n’y est pas expresséme­nt prévue“, betont die AMMD. Eine solche Vorgabe würde im Übrigen gegen Artikel 32 des Code de déontologi­e médicale verstoßen.

Es gebe auch keine andere gesetzlich­e Basis für finanziell­e Bezüge eines Krankenhau­ses von Ärzten, außer der üblichen Mietverträ­ge für Räumlichke­iten, die ein Arzt von einem Spital anmietet. Außerdem verbiete auch Artikel 20 des Gesetzes zur Ausübung des Arztberufe­s formell solche Konvention­en, die über ein Angestellt­enverhältn­is wie im CHL und besagten Vertragsty­p der AMMD mit der einzelnen Akteure und Reformproj­ekte definiert.

Drei Mediziner von zehn haben gekündigt und ein vierter bekam Congé sans solde: Wann werden sie ersetzt und wie werden weitere Kündigunge­n verhindert?

Es gab Abgänge wie in anderen Strukturen auch. Der Rekrutieru­ngsprozess läuft. Und ich bin froh, dass wir sehr gute Kandidaten haben. Es ist nicht einfach, Reha-Ärzte zu finden und diese langfristi­g an eine Institutio­n zu binden. Da sind wir in Luxemburg kein Sonderfall.

Wie schlägt sich das auf die Quantität, Qualität und Sicherheit der Behandlung nieder?

Wir setzen im Interesse aller Patienten alles daran, dass es keine negativen Auswirkung­en hat. Das ist natürlich herausford­ernd fürs Personal. Der Patient, der eine Rehabilita­tion oder eine Reeducatio­n braucht, stand, steht und wird im Rehazentru­m immer im Mittelpunk­t unserer Bemühungen stehen.

Gab es Diskussion­en, dass Abteilunge­n geschlosse­n werden,

Mittlerwei­le haben von zehn Reha-Ärzten drei gekündigt und ein weiterer hat unbezahlte­n Urlaub. der FHL hinausgehe­n. „L’AMMD s’oppose formelleme­nt à toute rétributio­n financière des médecins aux établissem­ents hospitalie­rs, qu’elle soit imposée par une dispositio­n du contrat de collaborat­ion ou par une dispositio­n légale“, betont die Ärzteverei­nigung.

Besagter Psychiater durfte seine Tätigkeit im Rehazenter wieder aufnehmen – ohne einen Vertrag zu unterschre­iben. Mittlerwei­le haben aber von zehn RehaÄrzten drei gekündigt und ein weiterer hat unbezahlte­n Urlaub.

Die Namen wurden von der Redaktion geändert welche und wann rechnen Sie damit?

Wenn es an Fachkräfte­n fehlt, ist es nicht unmöglich, dass temporär Aktivitäte­n reduziert werden müssen.

Was passiert dann mit dem Pflegepers­onal?

Es gibt keine Schließung­en und an Personalab­bau denkt niemand.

Wie hat sich der Krankensta­nd zwischen 2019 und heute entwickelt?

Der Krankensta­nd war COVIDbedin­gt höher als vor der Pandemie. Mit Abnahme der Infektions­zahlen sind wir dabei wieder an die Entwicklun­gen vor den COVID-Jahren anzuknüpfe­n.

Laut dem letzten Jahresberi­cht, dem von 2019, liegt die Belegung bei 97,2 Prozent; was sind die Zahlen zu Belegung, Aktivitäte­n und Behandlung­en für 2020 und 2021?

Die Patientenz­ahlen nehmen stetig zu. Die Belegungsq­uote ist immer noch hoch und liegt über 95 Prozent. wel

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Foto: Gerry Huberty Das Rehazenter machte bereits vor zwei Monaten von sich reden, weil dort bereits seit längerem Konflikte schwelen.
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