Zäsur der Weltgeschichte
Die militärische Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg führt zur Gründung der Sowjetunion
Als Russland 1914 an der Seite Frankreichs und Englands in den Ersten Weltkrieg eintritt, unterstützen die russischen Parteien, einschließlich der Mehrheit der Linken, den Krieg des Zarenreiches gegen die sogenannten Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich). Nur die Bolschewiki, anfangs nur eine kleine Minderheit innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung, stellen sich von Anfang an entschieden gegen den Krieg.
Die Unterstützung für den Krieg schwindet aber schnell, nachdem die russische Armee schwere Niederlagen erleiden muss. Ab Herbst 1916 verschlechtert sich zudem die Versorgungslage dramatisch. Doch Zar Nikolaus II. verkennt die Zeichen der Zeit und erinnert stattdessen mit pathetischen Worten an den russischen Sieg über Napoleons Truppen: „Das russische Volk ist in seinem Siegeswillen ebenso einmütig wie 1812.“Es kommt zu ersten Demonstrationen und Streiks der Arbeiter in den russischen Großstädten. In der Duma, die lange von zarentreuen Parteien beherrscht wird, mehren sich die kritischen Stimmen gegen die autokratische Zarenherrschaft, die weder die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten, noch militärische Siege einfahren kann.
Die Februarrevolution – ein Regimewechsel
Im darauffolgenden besonders harten Winter von 1916/17 eskaliert die Lage. Ausgangspunkt der Unruhen sind Demonstrationen von Fabrikarbeiterinnen in Petrograd (die damalige russische Hauptstadt Sankt Petersburg wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges in Petrograd umbenannt, weil ihr Name zu Deutsch klang), die nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Ihnen schließen sich in den letzten Februartagen 1917 Tausende Arbeiter an.
Am 25. Februar 1917 wälzt sich bereits ein Demonstrationszug von über hunderttausend Arbeitern aus den Vorstädten in die Petrograder Innenstadt. Auf Plakaten und in Sprechchören werden Demokratie und der Rücktritt des Zaren gefordert. Als die Demonstranten in das Zentrum strömen, versucht die Polizei, sie mit Waffengewalt daran zu hindern. Es gibt Dutzende Tote, doch schon in den folgenden Tagen schwellen die Massendemonstrationen weiter an. Das Militär schließt sich den Aufständischen an und liefert sich Gefechte mit der Polizei. Viele der Soldaten sind selbst Bauern und Arbeiter und haben Verständnis für die Forderungen der Demonstranten.
Der letzte russische Zar Nikolaus II. dankt am 15. März 1917 ab.
Am 8. März 1917 brechen in Petrograd Streiks aus, aus denen sich rasch ein Generalstreik entwickelt. Daraufhin erteilt Zar Nikolaus II. den Befehl, gewaltsam gegen die Protestierenden vorzugehen. Bei den darauffolgenden Auseinandersetzungen sterben mehrere Demonstranten. Doch diese lassen sich nicht mehr aufhalten. Inzwischen demonstrieren in der ganzen Stadt Hunderttausende und immer mehr Soldaten desertieren oder laufen zu den Demonstrierenden über.
Am 12. März schließen sich auch die Soldaten der Petrograder Garnison dem Aufstand an, der bald die ganze Stadt beherrscht. Am folgenden Tag laufen die Truppen, die der Zar nach Petrograd entsendet, ebenfalls zu den Aufständischen über. Die Duma tritt nach längerer Pause wieder zusammen und am 15. März muss Nikolaus II. abdanken. 300 Jahre lang hatte die Dynastie der Romanows zuvor geherrscht, jetzt ist die Zarenherrschaft beendet. Erster Ministerpräsident der neuen Russischen Republik wird Fürst Georgi Jewgenjewitsch Lwow, der eine provisorische Regierung anführt, die von der Duma unterstützt wird. Parallel dazu entstehen in den meisten Städten Soldaten-, Bauern- und Arbeiterräte, die sogenannten Sowjets. Doch dieses fragile Nebeneinander von Duma und Sowjets wird nicht lange anhalten.
Die Sowjets wollen keine Doppelherrschaft. Der Parlamentarismus soll abgeschafft und die Gewaltenteilung aufgehoben werden.
Lenin – die zentrale politische Figur
Am 9. April 1917 fährt mit Genehmigung des Deutschen Kaiserreichs ein Sonderzug von Zürich bis Petrograd. An Bord: Ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, der wegen seiner gegen die russische Zarenherrschaft gerichteten politischen Aktivitäten die Jahre zuvor im Schweizer Exil verbringen musste. Kein anderer Politiker wird Russland so nachhaltig prägen mit weltpolitischen Auswirkungen.
Am 16. April trifft der Zug, in dem Lenin und seine Begleiter ohne Kontrollen Deutschland durchqueren können, in Petrograd ein.
Auf dem Bahnhofsvorplatz erwarten ihn bereits begeisterte Menschenmassen. Und wie von den Deutschen erhofft, macht Lenin sich gleich an sein revolutionäres Werk. Er ist auf seine Rückkehr gut vorbereitet und entschlossen, bei sich bietender Gelegenheit die Macht zu übernehmen. Auf einem Panzerwagen stehend, hält er seine erste Rede auf russischem Boden, die mit den Worten endet: „Es lebe die sozialistische Weltrevolution!“
Nur wenige Tage später verkündet er den Kern seines Programms: Alle Macht den Sowjets, Beendigung des Krieges, Enteignung des Großgrundbesitzes, Verstaatlichung der Banken und Bildung einer Nationalbank, Gründung einer Revolutionären Internationale. Lenin fordert bereits zu diesem Zeitpunkt den Sturz der provisorischen Regierung. Zuvor allerdings müssen die Bolschewiki die Kontrolle über die Sowjets erlangen, wovon sie zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt sind.
Im Juli 1917 kommt es dennoch zu einem ersten spontanen Auf
standsversuch. Aber die Koordination zwischen den revolutionären Kräften funktioniert nicht richtig. Lenin lobt die Aufständischen, vermeidet es aber, sich in die Sache hineinziehen zu lassen, weil die spontane Erhebung aus seiner Sicht zu ungeplant und undiszipliniert ist. Dennoch erlässt die provisorische Regierung nach dem Scheitern des Aufstands am 20. Juli einen Haftbefehl gegen Lenin und beschuldigt ihn, ein Handlanger der deutschen Regierung zu sein. Er muss aus Petrograd fliehen.
Nach dem Juli-Aufstand wird Alexander Fjodorowitsch Kerenski neuer Ministerpräsident. Doch wie sein Vorgänger Lwow setzt auch Kerenski den Krieg gegen das Deutsche Kaiserreich fort. Das spielt Lenin und seinen Bolschewiki aufgrund der weitverbreiteten Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung und unter den Soldaten in die Hände. Die Fortführung des Krieges und das gleichzeitige Ausbleiben militärischer Erfolge führen zu einer fortschreitenden Destabilisierung der innenpolitischen Situation. Kerenskis eigentliches Kalkül, durch eine militärische Offensive gegen die Mittelmächte eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen, geht nicht auf und erweist sich als kontraproduktiv. Außerdem ergreift die provisorische Regierung keinerlei Initiativen, um die Verteilung von
Land an die verarmten Bauern, die die Masse der Soldaten stellen, voranzubringen. Eine entschlossene Weiterführung des Krieges wird damit nahezu unmöglich.
Die Oktoberrevolution – ein minutiös geplanter Militärputsch Als Lenin am 20. Oktober nach Petrograd zurückkehrt, geht alles ganz schnell. Die Bolschewiki entschließen sich zum bewaffneten Aufstand. Am 7. November gelingt es ihnen, alle strategisch wichtigen Punkte in Petrograd zu besetzen, während die Regierung sich im Winterpalais verschanzt. Zu diesem Zeitpunkt sind nur noch wenige Soldaten bereit, die Regierung zu verteidigen, sodass der sogenannte „Sturm auf das Winterpalais“eigentlich rasch und vergleichsweise unblutig über die Bühne geht. Kerenski ist auf der Flucht. Der Rest der Regierung befindet sich nun in den Händen der Bolschewiki.
Nach diesem Handstreich macht sich Lenin daran, die Kontrolle über die Sowjets zu erlangen. Die Bolschewiki haben zwar keine Mehrheit. Sie profitieren aber in erheblichem Maß von der Uneinigkeit ihrer Gegner und verdrängen diese nach und nach. An die Stelle der provisorischen Regierung tritt der Rat der Volkskommissare, dessen Vorsitz Lenin übernimmt. Kommissar für auswärtige Angelegenheiten wird Leo Trotzki, Kommissar für Nationalitätenfragen der gebürtige Georgier Josef Wissarionowitsch Stalin. Die bolschewistische Regierung schließt noch im selben Monat einen Waffenstillstand mit den Mittelmächten.
Ist die Februarrevolution noch eine wirkliche Revolution, ein Regimewechsel, der von den demonstrierenden Volksmassen erzwungen wird, so ist die Oktoberrevolution ein minutiös geplanter Militärputsch. Im Handstreich übernehmen die Bolschewiki die Macht, obwohl sie außerhalb von Petrograd und Moskau zu dieser Zeit noch nicht viel Rückhalt besitzen. Das zeigt sich bereits kurze Zeit später, als am 25. November die noch von der provisorischen Regierung angesetzte Wahl einer verfassunggebenden Versammlung stattfindet. Nur in Petrograd und Moskau erreichen die Bolschewiki die Mehrheit der Stimmen. Insgesamt entfallen auf die Bolschewiki nur 168 von 707 Mandaten. Daraufhin löst Lenin die verfassungsgebende Versammlung kurzerhand auf und macht damit deutlich, dass die Sowjets keine Macht neben sich dulden. Sie wollen keine Doppelherrschaft. Der Parlamentarismus soll abgeschafft und die Gewaltenteilung aufgehoben werden.
Schon bald folgt ein Verbot der liberalen Parteien, etwas später auch der mit den Bolschewiki konkurrierenden linken Gruppierungen. Demonstrationen werden blutig unterdrückt. In dem am 10. Juli 1918 verabschiedeten Grundgesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik wird die „Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats und der ärmsten Bauernschaft in der Form der mächtigen gesamtrussischen Sowjetmacht zur völligen Niederhaltung der Bourgeoisie“festgeschrieben. Am 20. Dezember 1917 wird die neue Geheimpolizei Tscheka gegründet, die rücksichtslos gegen politische Gegner vorgeht.
Russischer Bürgerkrieg fordert Millionen Opfer
Doch noch ist der Widerstand gegen die Bolschewiki nicht am Ende. Im Westen, Süden und Osten Russlands formieren sich Konterrevolutionäre (gemäßigte Sozialrevolutionäre, Bürgerliche und konservative Monarchisten), die sogenannte Weiße Armee. In Sibirien errichtet der Admiral Alexander Wassiljewitsch Koltschak eine quasi diktatorische Herrschaft. Im Ostseeraum übernimmt General Anton Iwanowitsch Denikin die Führung der Weißen Armee und im Uralgebiet konstituiert sich im Sommer 1918 eine aus gemäßigten Sozialrevolutionären gebildete antibolschewistische Regierung.
Unterstützt werden die Konterrevolutionäre von den EntenteMächten England, Frankreich, USA und Japan, die eher halbherzige und letztlich erfolglose Interventionsversuche in Murmansk, im Norden Russlands und in Wladiwostok
am Pazifischen Meer starten. Und trotz anfänglicher militärischer Erfolge der Weißen Armee hat diese auf Dauer der von Leo Trotzki gegründeten Roten Armee nichts entgegenzusetzen.
Der Bürgerkrieg, der mit der Einnahme von Wladiwostok 1922 endet, wird auf beiden Seiten mit äußerster Härte geführt. Denn es geht um Sein oder Nichtsein. Entsprechend hoch sind die Opferzahlen. Bis zum Ende des Bürgerkriegs kommen laut Schätzungen bis zu zehn Millionen Menschen ums Leben. Im selben Jahr wird die Sowjetunion gegründet.
Das russische Volk ist in seinem Siegeswillen ebenso einmütig wie 1812. Zar Nikolaus II. während des Ersten Weltkrieges