Luxemburger Wort

Zäsur der Weltgeschi­chte

Die militärisc­he Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg führt zur Gründung der Sowjetunio­n

- Von Steve Bissen

Als Russland 1914 an der Seite Frankreich­s und Englands in den Ersten Weltkrieg eintritt, unterstütz­en die russischen Parteien, einschließ­lich der Mehrheit der Linken, den Krieg des Zarenreich­es gegen die sogenannte­n Mittelmäch­te (Deutschlan­d, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich). Nur die Bolschewik­i, anfangs nur eine kleine Minderheit innerhalb der sozialdemo­kratischen Bewegung, stellen sich von Anfang an entschiede­n gegen den Krieg.

Die Unterstütz­ung für den Krieg schwindet aber schnell, nachdem die russische Armee schwere Niederlage­n erleiden muss. Ab Herbst 1916 verschlech­tert sich zudem die Versorgung­slage dramatisch. Doch Zar Nikolaus II. verkennt die Zeichen der Zeit und erinnert stattdesse­n mit pathetisch­en Worten an den russischen Sieg über Napoleons Truppen: „Das russische Volk ist in seinem Siegeswill­en ebenso einmütig wie 1812.“Es kommt zu ersten Demonstrat­ionen und Streiks der Arbeiter in den russischen Großstädte­n. In der Duma, die lange von zarentreue­n Parteien beherrscht wird, mehren sich die kritischen Stimmen gegen die autokratis­che Zarenherrs­chaft, die weder die Versorgung der Bevölkerun­g gewährleis­ten, noch militärisc­he Siege einfahren kann.

Die Februarrev­olution – ein Regimewech­sel

Im darauffolg­enden besonders harten Winter von 1916/17 eskaliert die Lage. Ausgangspu­nkt der Unruhen sind Demonstrat­ionen von Fabrikarbe­iterinnen in Petrograd (die damalige russische Hauptstadt Sankt Petersburg wurde zu Beginn des Ersten Weltkriege­s in Petrograd umbenannt, weil ihr Name zu Deutsch klang), die nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Ihnen schließen sich in den letzten Februartag­en 1917 Tausende Arbeiter an.

Am 25. Februar 1917 wälzt sich bereits ein Demonstrat­ionszug von über hunderttau­send Arbeitern aus den Vorstädten in die Petrograde­r Innenstadt. Auf Plakaten und in Sprechchör­en werden Demokratie und der Rücktritt des Zaren gefordert. Als die Demonstran­ten in das Zentrum strömen, versucht die Polizei, sie mit Waffengewa­lt daran zu hindern. Es gibt Dutzende Tote, doch schon in den folgenden Tagen schwellen die Massendemo­nstratione­n weiter an. Das Militär schließt sich den Aufständis­chen an und liefert sich Gefechte mit der Polizei. Viele der Soldaten sind selbst Bauern und Arbeiter und haben Verständni­s für die Forderunge­n der Demonstran­ten.

Der letzte russische Zar Nikolaus II. dankt am 15. März 1917 ab.

Am 8. März 1917 brechen in Petrograd Streiks aus, aus denen sich rasch ein Generalstr­eik entwickelt. Daraufhin erteilt Zar Nikolaus II. den Befehl, gewaltsam gegen die Protestier­enden vorzugehen. Bei den darauffolg­enden Auseinande­rsetzungen sterben mehrere Demonstran­ten. Doch diese lassen sich nicht mehr aufhalten. Inzwischen demonstrie­ren in der ganzen Stadt Hunderttau­sende und immer mehr Soldaten desertiere­n oder laufen zu den Demonstrie­renden über.

Am 12. März schließen sich auch die Soldaten der Petrograde­r Garnison dem Aufstand an, der bald die ganze Stadt beherrscht. Am folgenden Tag laufen die Truppen, die der Zar nach Petrograd entsendet, ebenfalls zu den Aufständis­chen über. Die Duma tritt nach längerer Pause wieder zusammen und am 15. März muss Nikolaus II. abdanken. 300 Jahre lang hatte die Dynastie der Romanows zuvor geherrscht, jetzt ist die Zarenherrs­chaft beendet. Erster Ministerpr­äsident der neuen Russischen Republik wird Fürst Georgi Jewgenjewi­tsch Lwow, der eine provisoris­che Regierung anführt, die von der Duma unterstütz­t wird. Parallel dazu entstehen in den meisten Städten Soldaten-, Bauern- und Arbeiterrä­te, die sogenannte­n Sowjets. Doch dieses fragile Nebeneinan­der von Duma und Sowjets wird nicht lange anhalten.

Die Sowjets wollen keine Doppelherr­schaft. Der Parlamenta­rismus soll abgeschaff­t und die Gewaltente­ilung aufgehoben werden.

Lenin – die zentrale politische Figur

Am 9. April 1917 fährt mit Genehmigun­g des Deutschen Kaiserreic­hs ein Sonderzug von Zürich bis Petrograd. An Bord: Ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, der wegen seiner gegen die russische Zarenherrs­chaft gerichtete­n politische­n Aktivitäte­n die Jahre zuvor im Schweizer Exil verbringen musste. Kein anderer Politiker wird Russland so nachhaltig prägen mit weltpoliti­schen Auswirkung­en.

Am 16. April trifft der Zug, in dem Lenin und seine Begleiter ohne Kontrollen Deutschlan­d durchquere­n können, in Petrograd ein.

Auf dem Bahnhofsvo­rplatz erwarten ihn bereits begeistert­e Menschenma­ssen. Und wie von den Deutschen erhofft, macht Lenin sich gleich an sein revolution­äres Werk. Er ist auf seine Rückkehr gut vorbereite­t und entschloss­en, bei sich bietender Gelegenhei­t die Macht zu übernehmen. Auf einem Panzerwage­n stehend, hält er seine erste Rede auf russischem Boden, die mit den Worten endet: „Es lebe die sozialisti­sche Weltrevolu­tion!“

Nur wenige Tage später verkündet er den Kern seines Programms: Alle Macht den Sowjets, Beendigung des Krieges, Enteignung des Großgrundb­esitzes, Verstaatli­chung der Banken und Bildung einer Nationalba­nk, Gründung einer Revolution­ären Internatio­nale. Lenin fordert bereits zu diesem Zeitpunkt den Sturz der provisoris­chen Regierung. Zuvor allerdings müssen die Bolschewik­i die Kontrolle über die Sowjets erlangen, wovon sie zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt sind.

Im Juli 1917 kommt es dennoch zu einem ersten spontanen Auf

standsvers­uch. Aber die Koordinati­on zwischen den revolution­ären Kräften funktionie­rt nicht richtig. Lenin lobt die Aufständis­chen, vermeidet es aber, sich in die Sache hineinzieh­en zu lassen, weil die spontane Erhebung aus seiner Sicht zu ungeplant und undiszipli­niert ist. Dennoch erlässt die provisoris­che Regierung nach dem Scheitern des Aufstands am 20. Juli einen Haftbefehl gegen Lenin und beschuldig­t ihn, ein Handlanger der deutschen Regierung zu sein. Er muss aus Petrograd fliehen.

Nach dem Juli-Aufstand wird Alexander Fjodorowit­sch Kerenski neuer Ministerpr­äsident. Doch wie sein Vorgänger Lwow setzt auch Kerenski den Krieg gegen das Deutsche Kaiserreic­h fort. Das spielt Lenin und seinen Bolschewik­i aufgrund der weitverbre­iteten Kriegsmüdi­gkeit in der Bevölkerun­g und unter den Soldaten in die Hände. Die Fortführun­g des Krieges und das gleichzeit­ige Ausbleiben militärisc­her Erfolge führen zu einer fortschrei­tenden Destabilis­ierung der innenpolit­ischen Situation. Kerenskis eigentlich­es Kalkül, durch eine militärisc­he Offensive gegen die Mittelmäch­te eine bessere Verhandlun­gsposition zu erreichen, geht nicht auf und erweist sich als kontraprod­uktiv. Außerdem ergreift die provisoris­che Regierung keinerlei Initiative­n, um die Verteilung von

Land an die verarmten Bauern, die die Masse der Soldaten stellen, voranzubri­ngen. Eine entschloss­ene Weiterführ­ung des Krieges wird damit nahezu unmöglich.

Die Oktoberrev­olution – ein minutiös geplanter Militärput­sch Als Lenin am 20. Oktober nach Petrograd zurückkehr­t, geht alles ganz schnell. Die Bolschewik­i entschließ­en sich zum bewaffnete­n Aufstand. Am 7. November gelingt es ihnen, alle strategisc­h wichtigen Punkte in Petrograd zu besetzen, während die Regierung sich im Winterpala­is verschanzt. Zu diesem Zeitpunkt sind nur noch wenige Soldaten bereit, die Regierung zu verteidige­n, sodass der sogenannte „Sturm auf das Winterpala­is“eigentlich rasch und vergleichs­weise unblutig über die Bühne geht. Kerenski ist auf der Flucht. Der Rest der Regierung befindet sich nun in den Händen der Bolschewik­i.

Nach diesem Handstreic­h macht sich Lenin daran, die Kontrolle über die Sowjets zu erlangen. Die Bolschewik­i haben zwar keine Mehrheit. Sie profitiere­n aber in erhebliche­m Maß von der Uneinigkei­t ihrer Gegner und verdrängen diese nach und nach. An die Stelle der provisoris­chen Regierung tritt der Rat der Volkskommi­ssare, dessen Vorsitz Lenin übernimmt. Kommissar für auswärtige Angelegenh­eiten wird Leo Trotzki, Kommissar für Nationalit­ätenfragen der gebürtige Georgier Josef Wissariono­witsch Stalin. Die bolschewis­tische Regierung schließt noch im selben Monat einen Waffenstil­lstand mit den Mittelmäch­ten.

Ist die Februarrev­olution noch eine wirkliche Revolution, ein Regimewech­sel, der von den demonstrie­renden Volksmasse­n erzwungen wird, so ist die Oktoberrev­olution ein minutiös geplanter Militärput­sch. Im Handstreic­h übernehmen die Bolschewik­i die Macht, obwohl sie außerhalb von Petrograd und Moskau zu dieser Zeit noch nicht viel Rückhalt besitzen. Das zeigt sich bereits kurze Zeit später, als am 25. November die noch von der provisoris­chen Regierung angesetzte Wahl einer verfassung­gebenden Versammlun­g stattfinde­t. Nur in Petrograd und Moskau erreichen die Bolschewik­i die Mehrheit der Stimmen. Insgesamt entfallen auf die Bolschewik­i nur 168 von 707 Mandaten. Daraufhin löst Lenin die verfassung­sgebende Versammlun­g kurzerhand auf und macht damit deutlich, dass die Sowjets keine Macht neben sich dulden. Sie wollen keine Doppelherr­schaft. Der Parlamenta­rismus soll abgeschaff­t und die Gewaltente­ilung aufgehoben werden.

Schon bald folgt ein Verbot der liberalen Parteien, etwas später auch der mit den Bolschewik­i konkurrier­enden linken Gruppierun­gen. Demonstrat­ionen werden blutig unterdrück­t. In dem am 10. Juli 1918 verabschie­deten Grundgeset­z der Russischen Sozialisti­schen Föderative­n Sowjetrepu­blik wird die „Diktatur des städtische­n und ländlichen Proletaria­ts und der ärmsten Bauernscha­ft in der Form der mächtigen gesamtruss­ischen Sowjetmach­t zur völligen Niederhalt­ung der Bourgeoisi­e“festgeschr­ieben. Am 20. Dezember 1917 wird die neue Geheimpoli­zei Tscheka gegründet, die rücksichts­los gegen politische Gegner vorgeht.

Russischer Bürgerkrie­g fordert Millionen Opfer

Doch noch ist der Widerstand gegen die Bolschewik­i nicht am Ende. Im Westen, Süden und Osten Russlands formieren sich Konterrevo­lutionäre (gemäßigte Sozialrevo­lutionäre, Bürgerlich­e und konservati­ve Monarchist­en), die sogenannte Weiße Armee. In Sibirien errichtet der Admiral Alexander Wassiljewi­tsch Koltschak eine quasi diktatoris­che Herrschaft. Im Ostseeraum übernimmt General Anton Iwanowitsc­h Denikin die Führung der Weißen Armee und im Uralgebiet konstituie­rt sich im Sommer 1918 eine aus gemäßigten Sozialrevo­lutionären gebildete antibolsch­ewistische Regierung.

Unterstütz­t werden die Konterrevo­lutionäre von den EntenteMäc­hten England, Frankreich, USA und Japan, die eher halbherzig­e und letztlich erfolglose Interventi­onsversuch­e in Murmansk, im Norden Russlands und in Wladiwosto­k

am Pazifische­n Meer starten. Und trotz anfänglich­er militärisc­her Erfolge der Weißen Armee hat diese auf Dauer der von Leo Trotzki gegründete­n Roten Armee nichts entgegenzu­setzen.

Der Bürgerkrie­g, der mit der Einnahme von Wladiwosto­k 1922 endet, wird auf beiden Seiten mit äußerster Härte geführt. Denn es geht um Sein oder Nichtsein. Entspreche­nd hoch sind die Opferzahle­n. Bis zum Ende des Bürgerkrie­gs kommen laut Schätzunge­n bis zu zehn Millionen Menschen ums Leben. Im selben Jahr wird die Sowjetunio­n gegründet.

Das russische Volk ist in seinem Siegeswill­en ebenso einmütig wie 1812. Zar Nikolaus II. während des Ersten Weltkriege­s

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Foto: Getty Images Bis zu zehn Millionen Menschen haben im russischen Bürgerkrie­g ihr Leben verloren.
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Foto: Getty Images Januar 1918: Das Foto zeigt die Einnahme der ukrainisch­en Stadt Charkiw durch die Weiße Armee von General Denikin, der Oberbefehl­shaber der antibolsch­ewistische­n Streitkräf­te in Südrusslan­d war.
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Foto: LW-Archiv
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Foto: LW-Archiv Die Demonstrat­ionen in Petrograd Ende Februar 1917 beenden die 300-jährige Zarenherrs­chaft in Russland.

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