Luxemburger Wort

Deutschlan­d verlängert AKW-Ära

Der Bundeswirt­schaftsmin­ister öffnet die Tür für einen zeitweisen Weiterbetr­ieb – eine Abkehr vom Atomaussti­eg soll das aber nicht sein

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

Kann gut sein, dass sie im Wendland gerade den Schluckauf kriegen. Oder in Wackersdor­f die Wut. Im östlichen Niedersach­sen, wo es an Sachsen-Anhalt grenzt, und ebenso in der nördlichen Oberpfalz in Ostbayern haben sie gegen die Atomenergi­e so gekämpft, dass es Jahre bis Jahrzehnte ihre Leben bestimmt hat. In Wackersdor­f haben sie so in den Achtzigern die geplante Wiederaufa­rbeitungsa­nlage für Kernbrenns­täbe verhindert. Und im Wendland erreicht, dass sie nicht auf ewige Zeiten das deutsche „Atomklo“werden – auch wenn seit fast 30 Jahren hoch radioaktiv­er Müll im Gorlebener Salzstock lagert. Immer haben sie im Wendland und in Wackersdor­f die Grünen an ihrer Seite gesehen. Die ja schließlic­h ihre Wurzeln in der Anti-AKW-Bewegung haben.

Und jetzt, drei Monate und 25 Tage ehe die letzten drei deutschen Atomkraftw­erke abgeschalt­et werden sollen: Jetzt verschiebt der grüne Minister für Wirtschaft und Klimaschut­z tatsächlic­h den Atomaussti­eg. In Berlin stellt Robert Habeck am Montagaben­d das Ergebnis des sogenannte­n Stresstest­s für die deutsche Stromverso­rgung im kommenden Winter vor. Und legt fest: Zwar gehen alle drei Meiler wie geplant bis Silvester vom Netz. Aber zwei – Isar 2 in Bayern und Neckarwest­heim 2 in Baden-Württember­g – bleiben bis Mitte April 2023 in Reserve. Binnen einer Woche sollen sie – bei Bedarf – wieder hochgefahr­en werden. „Eine“, sagt Habeck, „sowohl vertretbar­e wie notwendige Entscheidu­ng.“

Probleme häufen sich

Zuvor haben die vier mit dem Stresstest beauftragt­en deutschen Stromnetzb­etreiber ziemlich deutlich gesagt, dass es im kommenden Winter – je nach Witterung und ein paar weiteren Faktoren – zu Versorgung­sengpässen kommen kann. Habecks Formel dafür lautet „stundenwei­se Mangelsitu­ation“. Im März war das Ergebnis noch anders. Aber da hatte Frankreich auch noch nicht fast die Hälfte seiner AKW vom Netz genommen, da liefen in der Schweiz und in Österreich noch uneingesch­ränkt die Wasserkraf­twerke, und auf den Wasserstra­ßen fuhren voll beladene Frachtschi­ffe.

Im Sommer blieb dann der Regen aus – und prompt kriegten die Franzosen zu diversen technische­n auch noch Kühlungspr­obleme, den Nachbarn im Süden fehlte der Wasserdruc­k und dem Rhein die nötige Tiefe für ausreichen­den Kohletrans­port zu den reaktivier­ten Kraftwerke­n. In der Folge wird aktuell mit immer teurerem Gas immer mehr immer teurerer Strom hergestell­t.

Dazu kommt das Problem der sogenannte­n Netzstabil­ität. Im deutschen Norden wird – vor allem durch Wind – zwar jede Menge produziert; gebraucht indes wird er vor allem von der Industrie im Westen und im Süden. Dorthin – speziell nach Bayern und ins östliche Baden-Württember­g – aber fehlen Leitungen. Auch, weil die bayerische Staatsregi­erung sich lange gegen deren Bau wehrte. Jetzt verlangt sie schon seit Monaten eine Verlängeru­ng der AKW-Laufzeiten. Um Jahre. Am lautesten ruft CSU-Ministerpr­äsident Markus Söder – dem es nach dem GAU von Fukushima gar nicht schnell genug gehen konnte mit dem Abschalten.

Nicht nur deshalb sagt Habeck am Montagaben­d, um den Atomaussti­eg gebe es eine „Debatte, die traditione­ll hohe politische Wellen schlägt und viele Emotionen bindet“. Sein Satz richtet sich auch an die eigene Partei. Der wird seit Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine von ihren Regierende­n Grundstürz­endes abverlangt. Erst das Ja zu Waffenlief­erungen – und nun auch noch zu mehr Atomenergi­e. Er, sagt Habeck, könne auf Gefühle keine Rücksicht nehmen: „Ich muss als Minister die Versorgung sichern – und ich werde alles Nötige dafür tun.“

Konservati­ve machen Druck

Finden nicht alle. Die Opposition sowieso nicht. CDU-Partei- und Unionsfrak­tionschef Friedrich Merz, der von jahrelange­r Verlängeru­ng träumt, redet gestern im „Deutschlan­dfunk“von „Irrsinn“. Die FDP – immerhin Regierungs­partnerin der Grünen – geht nicht ganz so weit. Aber ein paar Stunden vor Habecks Auftritt hat sie festgelegt, für die „Erforschun­g neuer Generation­en von Kernenergi­e“zu sein. Und AKW eine „risikoarme Zukunftste­chnologie“genannt.

Neigte Habeck dazu, er hätte den Schluckauf kriegen müssen. Aber er beschränkt sich darauf, ein paarmal „Hochrisiko­technologi­e“zu sagen. Und dass – falls der Bundestag seinen Vorschlag zum Gesetz mache und dann die sechs Prozent AKW-Strom überhaupt gebraucht würden – im April aber definitiv Schluss sei. So sieht das auch die SPD – also die Kanzlerpar­tei.

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Foto: dpa Das bayerische Atomkraftw­erk Isar 2 soll nach dem Jahreswech­sel noch bis Mitte April 2023 als Reserve zur Verfügung stehen.

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