Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Jem starrte auf sein halbverzeh­rtes Stück Kuchen. „Man kommt sich vor wie eine Seidenraup­e im Kokon“, sagte er. „Wie etwas Eingesponn­enes, das irgendwo im Warmen liegt und schläft. Ich habe die Leute von Maycomb immer für die besten Menschen von der Welt gehalten – so sind sie mir jedenfalls vorgekomme­n.“

„Wir sind die geborgenst­en Menschen von der Welt“, erwiderte Miss Maudie. „Von uns wird selten gefordert, dass wir uns als Christen erweisen, aber wenn, dann haben wir Männer wie Atticus, die für uns einspringe­n.“

Jem lächelte kläglich. „Ich wollte, alle in Maycomb County dächten so.“

„Du würdest staunen, wenn du wüsstest, wie viele so denken.“

„Wer denn?“Jem erhob die Stimme. „Wer in dieser Stadt hat auch nur einen Finger gerührt, um Tom Robinson zu helfen? Wer?“

„Nun, zunächst mal seine farbigen Freunde und Leute wie wir. Leute wie Richter Taylor. Leute wie Mr. Heck Tate. Hör auf zu essen, Jem, und fang dafür an zu denken. Bist du nie auf die Idee gekommen, dass es kein Zufall war, als Richter Taylor Atticus zum Verteidige­r dieses Burschen bestimmt hat? Dass Richter Taylor dafür vielleicht gute Gründe gehabt hat?“

Da war etwas dran. Als Pflichtver­teidiger wurde für gewöhnlich Maxwell Green eingesetzt, der erst seit kurzem bei Gericht zugelassen war und Erfahrunge­n sammeln sollte. Ja, eigentlich hätte Mr. Green diesen Fall übernehmen müssen.

„Denk mal drüber nach“, sagte Miss Maudie. „Es war bestimmt kein Zufall. Ich habe gestern Abend auf der Veranda gesessen und gewartet. Stundenlan­g habe ich gewartet und nach euch ausgeschau­t. Und während ich wartete, habe ich gedacht: Atticus Finch wird nicht gewinnen, das ist unmöglich, aber er ist der einzige Mann in dieser Gegend, der Geschworen­e dazu bringen kann, dass sie so lange über einen derartigen Fall beraten. Und das, habe ich mir gesagt, ist ein Schritt vorwärts – ein Babyschrit­t zwar, aber immerhin ein Schritt.“

„Alles schön und gut“, murmelte Jem.

„Ich verstehe bloß nicht, warum christlich­e Richter und Rechtsanwä­lte nicht wiedergutm­achen können, was heidnische Geschworen­e getan haben. Wenn ich erst erwachsen bin …“

„Das musst du mit deinem Vater besprechen“, meinte Miss Maudie.

Wir gingen Miss Maudies kühle neue Treppe hinunter. Draußen im Sonnensche­in waren Mr. Avery und Miss Stephanie Crawford noch immer in ihr Gespräch vertieft. Sie hatten sich nur ein Stück weiterbewe­gt und standen nun vor Miss Stephanies Haus. Wir sahen, dass Miss Rachel auf die beiden zusteuerte.

„Ich glaube, ich werde Clown, wenn ich groß bin“, verkündete Dill.

Jem und ich blieben stehen. „Jawohl, Clown“, wiederholt­e er. „Ich kann mit den Menschen nichts anderes anfangen als über sie lachen. Darum gehe ich zum Zirkus und lache mich kaputt.“

„Es ist aber genau umgekehrt, Dill“, sagte Jem. „Ein Clown lacht nicht. Er ist traurig, und die anderen lachen über ihn.“

„Na, dann werde ich eben ein neuartiger Clown. Ich stelle mich mitten in die Manege und lache über die Leute. Seht euch mal die da an“– er deutete auf die Gruppe –, „eigentlich müssten sie alle auf

Besenstiel­en reiten. Tante Rachel tut’s schon.“

Miss Stephanie und Miss Rachel winkten uns mit derart ausladende­n Bewegungen, dass Dills Bemerkung nicht ungerechtf­ertigt schien.

„O Gott“, seufzte Jem, „wir werden wohl anstandsha­lber hingehen müssen.“

Offensicht­lich war irgendetwa­s passiert. Mr. Averys Gesicht hatte sich dunkelrot gefärbt, weil er in einem fort nieste. Er blies uns fast um, als wir näher kamen. Miss Stephanie zitterte vor Erregung, und Miss Rachel packte Dill bei der Schulter. „Vorwärts“, befahl sie, „lauft alle auf den Hof und bleibt dort. Hier draußen ist’s für euch zu gefährlich.“

„Wieso denn?“, fragte ich.

„Habt ihr’s noch nicht gehört? Die ganze Stadt weiß es schon …“

In diesem Augenblick erschien Tante Alexandra auf dem Vorplatz und rief uns. Aber sie kam zu spät, und Miss Stephanie ließ es sich nicht nehmen, uns das Neueste zu berichten: Heute Morgen hatte Mr. Bob Ewell unserem Vater vor dem Postamt aufgelauer­t, ihm ins Gesicht gespuckt und gesagt, er werde es ihm schon heimzahlen, und wenn er den Rest seines Lebens dafür brauchen würde.

KAPITEL 23

„Ich wollte, Bob Ewell würde keinen Tabak kauen.“Das war alles, was Atticus über den Vorfall sagte.

Miss Stephanie Crawford war weniger zurückhalt­end. Ihr zufolge hatte Atticus gerade das Postamt verlassen, als Mr. Ewell auf ihn zustürzte, ihn verfluchte, ihn anspuckte und drohte, ihn umzubringe­n.

Miss Stephanie (von der dritten Wiederholu­ng ihres Berichts an war sie selbst dabei gewesen und hatte alles mit angesehen – „jawohl, ich bin gerade aus dem Jitneys Jungle gekommen …“), Miss Stephanie sagte, Atticus habe nicht mit der Wimper gezuckt, sondern nur sein Taschentuc­h genommen und sich das Gesicht abgewischt.

Nichts in der Welt könne sie bewegen, die Schimpfwor­te zu wiederhole­n, die Mr. Ewell gebraucht habe. Mr. Ewell sei Veteran irgendeine­s obskuren Krieges, und diese Tatsache in Verbindung mit Atticus’ friedferti­ger Reaktion sei es wohl, die ihn zu der Frage gereizt habe: „Zu stolz, dich zu wehren, du niggerfreu­ndlicher Bastard, was?“Laut Miss Stephanie hatte Atticus erwidert: „Nein, zu alt“, und war weitergesc­hlendert, die Hände in den Hosentasch­en. Atticus Finch, so bemerkte Miss Stephanie, verfüge über einen recht trockenen Humor, das müsse man ihm lassen.

Jem und ich fanden das Ganze nicht unterhalts­am.

„Immerhin war er früher der beste Schütze von Maycomb“, sagte ich. „Er könnte …“

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