Wer die Nachtigall stört
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„Du weißt doch, dass er von Waffen nichts wissen will, Scout. Er hat ja nicht mal ein Gewehr. Sogar neulich vor dem Gefängnis hatte er keins. Er hat mir gesagt, wer ein Gewehr bei sich hat, der fordert die Leute heraus, auf ihn zu schießen.“
„Aber das hier ist was anderes“, beharrte ich. „Wir können ihm vorschlagen, er soll sich eins leihen.“
Seine Antwort auf diesen Vorschlag war: „Unsinn.“
Dill hielt einen Appell an Atticus’ väterliche Gefühle für erfolgversprechend. Wir Kinder würden verhungern, wenn Mr. Ewell ihn tötete, ganz davon zu schweigen, dass unsere Erziehung dann ausschließlich in Tante Alexandras Händen läge. Und die würde als Erstes – noch bevor Atticus unter der Erde läge – Calpurnia an die Luft setzen. Jem meinte, damit kämen wir vielleicht weiter, besonders wenn ich weinte und Zustände bekäme. Ich sei schließlich ein kleines Mädchen. Aber auch das schlug fehl.
Erst als Atticus merkte, dass wir appetitlos und ohne Interesse für unsere üblichen Spiele umherschlichen, wurde ihm klar, wie tief beunruhigt wir waren. Eines Abends wollte er Jem mit einer neuen Football-Zeitschrift erfreuen. Jem blätterte sie flüchtig durch und warf sie beiseite. Atticus sah das und fragte: „Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, mein Junge?“
Jem nahm die Gelegenheit wahr. „Mr. Ewell“, erwiderte er.
„Wieso? Ist was passiert?“
„Bis jetzt noch nicht. Aber wir haben Angst um dich, und wir finden, du müsstest etwas unternehmen.“
Atticus lächelte gezwungen. „Was denn zum Beispiel? Soll ich ihm eine Friedensbürgschaft auferlegen?“
„Wenn jemand sagt, er wird’s dir schon heimzahlen, dann meint er’s doch bestimmt ernst.“
„Er hat es ernst gemeint, als er’s gesagt hat. Aber versuch mal, für eine Minute in Bob Ewells Haut zu schlüpfen. Ich habe ihm vor Gericht das letzte Fetzchen Glaubwürdigkeit genommen – falls er je so etwas besessen hat. Er musste irgendwie zurückschlagen. Für Leute wie ihn ist das eine Art Selbstbestätigung. Wenn ich Mayella Ewell dadurch eine zusätzliche Tracht Prügel erspart habe, will ich’s gern hinnehmen, dass er mir ins Gesicht gespuckt und mich bedroht hat. Er musste seine Wut an irgendjemandem auslassen, und mir ist es lieber, er lässt sie an mir aus als an den Kindern da draußen. Verstehst du?“
Jem nickte. Inzwischen war Tante Alexandra ins Zimmer gekommen.
„Wir haben von Bob Ewell nichts zu befürchten“, fuhr Atticus fort. „Er hat sich neulich Morgen gründlich Luft gemacht.“
„Ich wäre mir da nicht so sicher, Atticus“, sagte Tante Alexandra. „Du weißt doch, dass solche Leute in ihrer Rachsucht zu allem fähig sind.“
„Was könnte mir Ewell schon antun, Schwester?“
„Irgendetwas Heimtückisches. Er wird sich was ausdenken, verlass dich drauf.“
„In Maycomb bietet sich nicht viel Gelegenheit zu Heimtücke“, erwiderte Atticus.
Von nun an hatten wir keine Angst mehr. Der Sommer schwand dahin, und wir nutzten ihn nach Kräften. Atticus versicherte, Tom Robinson werde nichts geschehen, bis der Oberste Gerichtshof den Fall überprüft habe. Die Aussichten, dass man Tom freilasse oder zumindest eine neue Verhandlung führe, seien recht gut.
Tom befand sich auf der Gefängnisfarm Enfield in Chester County, siebzig Meilen von Maycomb entfernt. Ich fragte, ob seine Frau und die Kinder ihn besuchen dürften. Atticus sagte nein.
„Was wird aus ihm, wenn er bei der Berufung verliert?“, erkundigte ich mich eines Abends.
„Dann kommt er auf den elektrischen Stuhl“, antwortete Atticus, „es sei denn, dass der Gouverneur die Strafe in ‚Lebenslänglich‘ umwandelt. Aber noch ist’s nicht so weit, dass du dich sorgen musst, Scout. Wir haben gute Chancen.“
Jem, der auf dem Sofa lag und Popular Mechanics las, hob den Kopf. „Es ist nicht gerecht. Er hat niemanden getötet, selbst wenn er schuldig wäre. Er hat keinen Mord begangen.“
„Du weißt doch, dass Vergewaltigung in Alabama als Kapitalverbrechen gilt“, sagte Atticus.
„Ja, aber die Geschworenen hätten ihm statt der Todesstrafe ebenso gut zwanzig Jahre Zuchthaus geben gekonnt.“
„Geben können“, verbesserte Atticus. „Tom Robinson ist ein Farbiger, Jem. Kein Schwurgericht in diesem Teil der Welt wird bei einer solchen Anklage sagen: ‚Angeklagter, wir finden, dass Sie schuldig sind, aber nicht sehr.‘ Hier gab es nur zwei Möglichkeiten – glatter Freispruch oder Todesstrafe.“
Jem schüttelte den Kopf. „Irgendwas ist daran nicht richtig, ich kriege nur nicht raus, was. Vielleicht dürfte Vergewaltigung nicht als Kapitalverbrechen gelten …“Atticus legte die Zeitung neben seinen Stuhl. Gegen das Vergewaltigungsgesetz habe er nichts, gar nichts, sagte er, aber es widerstrebe ihm sehr, wenn die Todesstrafe aufgrund reiner Indizienbeweise von der Staatsanwaltschaft beantragt und von den Geschworenen beschlossen werde. Er blickte zu mir herüber, sah, dass ich zuhörte, und wählte einfachere Worte. „Ich meine, dass man niemanden wegen … nun, sagen wir, wegen Mordes zum Tode verurteilen dürfte, wenn nicht ein oder zwei Augenzeugen vorhanden sind. Ein oder zwei Menschen, die sagen können: ,Ja, ich war dabei und habe gesehen, wie er abgedrückt hat.‘“
„Es sind doch schon viele Leute aufgrund von Indizienbeweisen gehangen … gehängt worden“, warf Jem ein.
„Ich weiß, und die meisten haben es sicherlich auch verdient. Aber wenn Augenzeugen fehlen, besteht immer ein Zweifel oder wenigstens der Schatten eines Zweifels. Das Gesetz lässt nur den ‚begründeten Zweifel‘ zu, doch ich finde, ein Angeklagter hat ein Anrecht auf den Schatten eines Zweifels. Man sollte stets die Möglichkeit in Betracht ziehen – so gering sie auch sein mag –, dass er unschuldig ist.“
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