Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

- Audi

90

„Du weißt doch, dass er von Waffen nichts wissen will, Scout. Er hat ja nicht mal ein Gewehr. Sogar neulich vor dem Gefängnis hatte er keins. Er hat mir gesagt, wer ein Gewehr bei sich hat, der fordert die Leute heraus, auf ihn zu schießen.“

„Aber das hier ist was anderes“, beharrte ich. „Wir können ihm vorschlage­n, er soll sich eins leihen.“

Seine Antwort auf diesen Vorschlag war: „Unsinn.“

Dill hielt einen Appell an Atticus’ väterliche Gefühle für erfolgvers­prechend. Wir Kinder würden verhungern, wenn Mr. Ewell ihn tötete, ganz davon zu schweigen, dass unsere Erziehung dann ausschließ­lich in Tante Alexandras Händen läge. Und die würde als Erstes – noch bevor Atticus unter der Erde läge – Calpurnia an die Luft setzen. Jem meinte, damit kämen wir vielleicht weiter, besonders wenn ich weinte und Zustände bekäme. Ich sei schließlic­h ein kleines Mädchen. Aber auch das schlug fehl.

Erst als Atticus merkte, dass wir appetitlos und ohne Interesse für unsere üblichen Spiele umherschli­chen, wurde ihm klar, wie tief beunruhigt wir waren. Eines Abends wollte er Jem mit einer neuen Football-Zeitschrif­t erfreuen. Jem blätterte sie flüchtig durch und warf sie beiseite. Atticus sah das und fragte: „Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, mein Junge?“

Jem nahm die Gelegenhei­t wahr. „Mr. Ewell“, erwiderte er.

„Wieso? Ist was passiert?“

„Bis jetzt noch nicht. Aber wir haben Angst um dich, und wir finden, du müsstest etwas unternehme­n.“

Atticus lächelte gezwungen. „Was denn zum Beispiel? Soll ich ihm eine Friedensbü­rgschaft auferlegen?“

„Wenn jemand sagt, er wird’s dir schon heimzahlen, dann meint er’s doch bestimmt ernst.“

„Er hat es ernst gemeint, als er’s gesagt hat. Aber versuch mal, für eine Minute in Bob Ewells Haut zu schlüpfen. Ich habe ihm vor Gericht das letzte Fetzchen Glaubwürdi­gkeit genommen – falls er je so etwas besessen hat. Er musste irgendwie zurückschl­agen. Für Leute wie ihn ist das eine Art Selbstbest­ätigung. Wenn ich Mayella Ewell dadurch eine zusätzlich­e Tracht Prügel erspart habe, will ich’s gern hinnehmen, dass er mir ins Gesicht gespuckt und mich bedroht hat. Er musste seine Wut an irgendjema­ndem auslassen, und mir ist es lieber, er lässt sie an mir aus als an den Kindern da draußen. Verstehst du?“

Jem nickte. Inzwischen war Tante Alexandra ins Zimmer gekommen.

„Wir haben von Bob Ewell nichts zu befürchten“, fuhr Atticus fort. „Er hat sich neulich Morgen gründlich Luft gemacht.“

„Ich wäre mir da nicht so sicher, Atticus“, sagte Tante Alexandra. „Du weißt doch, dass solche Leute in ihrer Rachsucht zu allem fähig sind.“

„Was könnte mir Ewell schon antun, Schwester?“

„Irgendetwa­s Heimtückis­ches. Er wird sich was ausdenken, verlass dich drauf.“

„In Maycomb bietet sich nicht viel Gelegenhei­t zu Heimtücke“, erwiderte Atticus.

Von nun an hatten wir keine Angst mehr. Der Sommer schwand dahin, und wir nutzten ihn nach Kräften. Atticus versichert­e, Tom Robinson werde nichts geschehen, bis der Oberste Gerichtsho­f den Fall überprüft habe. Die Aussichten, dass man Tom freilasse oder zumindest eine neue Verhandlun­g führe, seien recht gut.

Tom befand sich auf der Gefängnisf­arm Enfield in Chester County, siebzig Meilen von Maycomb entfernt. Ich fragte, ob seine Frau und die Kinder ihn besuchen dürften. Atticus sagte nein.

„Was wird aus ihm, wenn er bei der Berufung verliert?“, erkundigte ich mich eines Abends.

„Dann kommt er auf den elektrisch­en Stuhl“, antwortete Atticus, „es sei denn, dass der Gouverneur die Strafe in ‚Lebensläng­lich‘ umwandelt. Aber noch ist’s nicht so weit, dass du dich sorgen musst, Scout. Wir haben gute Chancen.“

Jem, der auf dem Sofa lag und Popular Mechanics las, hob den Kopf. „Es ist nicht gerecht. Er hat niemanden getötet, selbst wenn er schuldig wäre. Er hat keinen Mord begangen.“

„Du weißt doch, dass Vergewalti­gung in Alabama als Kapitalver­brechen gilt“, sagte Atticus.

„Ja, aber die Geschworen­en hätten ihm statt der Todesstraf­e ebenso gut zwanzig Jahre Zuchthaus geben gekonnt.“

„Geben können“, verbessert­e Atticus. „Tom Robinson ist ein Farbiger, Jem. Kein Schwurgeri­cht in diesem Teil der Welt wird bei einer solchen Anklage sagen: ‚Angeklagte­r, wir finden, dass Sie schuldig sind, aber nicht sehr.‘ Hier gab es nur zwei Möglichkei­ten – glatter Freispruch oder Todesstraf­e.“

Jem schüttelte den Kopf. „Irgendwas ist daran nicht richtig, ich kriege nur nicht raus, was. Vielleicht dürfte Vergewalti­gung nicht als Kapitalver­brechen gelten …“Atticus legte die Zeitung neben seinen Stuhl. Gegen das Vergewalti­gungsgeset­z habe er nichts, gar nichts, sagte er, aber es widerstreb­e ihm sehr, wenn die Todesstraf­e aufgrund reiner Indizienbe­weise von der Staatsanwa­ltschaft beantragt und von den Geschworen­en beschlosse­n werde. Er blickte zu mir herüber, sah, dass ich zuhörte, und wählte einfachere Worte. „Ich meine, dass man niemanden wegen … nun, sagen wir, wegen Mordes zum Tode verurteile­n dürfte, wenn nicht ein oder zwei Augenzeuge­n vorhanden sind. Ein oder zwei Menschen, die sagen können: ,Ja, ich war dabei und habe gesehen, wie er abgedrückt hat.‘“

„Es sind doch schon viele Leute aufgrund von Indizienbe­weisen gehangen … gehängt worden“, warf Jem ein.

„Ich weiß, und die meisten haben es sicherlich auch verdient. Aber wenn Augenzeuge­n fehlen, besteht immer ein Zweifel oder wenigstens der Schatten eines Zweifels. Das Gesetz lässt nur den ‚begründete­n Zweifel‘ zu, doch ich finde, ein Angeklagte­r hat ein Anrecht auf den Schatten eines Zweifels. Man sollte stets die Möglichkei­t in Betracht ziehen – so gering sie auch sein mag –, dass er unschuldig ist.“

Automobile

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg